Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Alles nur Show | März 2015
Die alte Frau am Zebrastreifen
von Silke Sarkander

Knapp vor mir schlug die Ampel um, auf Rot um genau zu sein, wie die gefühlten 100 Male davor ebenfalls. Der krampfhafte Versuch, mittels tiefem Ein- und Ausatmen die Ruhe zu bewahren, misslang kläglich. Meine Fingerspitzen führten ein Eigenleben, trommelten nervös auf dem Lenkrad herum.
Ich konnte mir lebhaft meine Schwester Pia vorstellen, wie sie wartend durch die Küche tigerte, immer wieder auf die Uhr schaute. Dummerweise hatte ich in einer schwachen Minute eingewilligt, heute auf ihre Kinder aufzupassen und mich zu allem Überfluss dazu hinreißen lassen, den Gören Pizza zum Abendbrot zu versprechen. Ich verzog das Gesicht. Aber was tut man nicht alles für seine Schwester?
Eine alte Frau stand am Zebrastreifen. Mein Fuß fand automatisch das Bremspedal. Die Reifen quietschten. Ich war gezwungen ruhig dabei zuzusehen, wie sich langsam ihre Muskeln anspannten. Dann folgte der erste zaghafte Schritt. Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Wäre ins Lenkrad beißen eine Option gewesen, ich hätte es getan.
Etwa auf der Hälfte der Strecke hielt sie plötzlich inne, wendete langsam ihren Kopf und schaute mich, mit spöttisch blitzenden, blauen Augen, direkt an.
Unvermittelt kochte eine Erinnerung in mir hoch: Das runzelige Gesicht meiner Uroma, mit dem Haarnetz auf den weißen Locken, tauchte vor mir auf.

Ungeduldiges Hupen klang mir in den Ohren, riss mich aus meinen Gedanken. Hektisch Gas gebend, schloss ich eilig zu den Fahrzeugen vor mir auf. Hängte mich hinten an, stoppte, wenn die Bremslichter aufleuchteten und beschleunigte reflexartig, sobald eine Lücke entstand.
Ich erinnerte mich kaum noch an meine Uroma aus Kindheitstagen. Eigentlich traf ich sie nur an Geburtstagen und Weihnachten. Sie saß den ganzen Nachmittag vor sich hinlächelnd und zumeist alleine in einem Sessel, schien nur darauf zu warten, wieder nach Hause gehen zu dürfen.

„Du Lackaffe, kannst du nicht blinken?“, rief ich aufgebracht in die Leere meines Autos, als direkt vor mir ein Wagen aus der Parklücke schoss. Ich atmete erst einmal tief durch.
Das Bild meiner Uroma ließ sich nicht vertreiben. Ich sah sie noch klein und unscheinbar, schon fast vergessen, in diesem Krankenhausbett liegen, die Laken zerknautscht wie ihre gräulich schimmernde, pergamentartige Haut. Sie zerrte an ihren Fesseln, strebte verzweifelt danach auf die Beine zu kommen, wollte nur nach Hause. Die Ärzte nannten sie verwirrt.

Der Verkehr staute sich, an ein Fortkommen war nicht zu denken. Die Lichter des Andreaskreuzes kündigten einen herannahenden Zug an. Ich stellte frustriert den Motor ab.
Erinnerte mich beklommen an ihr eingefallenes Gesicht, als sie sich im Zimmer des Altenheimes wiederfand. Ihr neues Zuhause maß etwa sechszehn Quadratmeter. Es sollte nicht nur ihren Lebensabend beschließen, sondern auch den ihrer Mitbewohnerin. Eine Decke, gefüllt mit Daunen, verbarg sie fast komplett. Sie schien sich zu verlieren, in diesem Bett, in dieser Familie und in ihrer Existenz. Resignation glaubten wir in ihren Augen zu sehen. Diesmal gab es keine Fesseln. Sie hatte aufgegeben, versuchte gar nicht erst aufzustehen.
Meine Eltern erzählten ihr von Dingen, die ich schon lange vergessen habe und meine Uroma gar nicht erst hörte. Auch ihre Augen wurden immer schlechter. Sie zog sich in sich selbst zurück.

Die Bahnschranke öffnete sich. Für einen Moment widmete ich meine Aufmerksamkeit erneut dem Verkehr. Der Stau hatte sich aufgelöst. Die Landstraße lag frei, dabei glänzend vom Regen, vor mir. Ich stellte den Tempomat ein, ließ mich treiben, auf der Straße und zurück zu meiner Uroma.
Der ärztlichen Diagnose zum Trotz, lag sie nach ein paar Wochen noch immer in ihrem Bett anstatt unter der Erde. Sie begann zu schimpfen, klagte über das Essen, die Pfleger, das Wetter und über ihre Mitbewohnerin, kämpfte sich bis auf den Stuhl vor. Für einen Sessel gab es in diesem Zimmer keinen Platz. Es schien fast, als wenn Atmen für sie keine Lebensnotwenigkeit mehr wäre. Luftholen stellte keine Option dar, unterbrach ihren Klagefluss zu keiner Zeit. Auf diese Art verbrachte meine Uroma ihre Tage, indem sie morgens aufstand und auf Besuch wartete. Aber zumindest diesen Wunsch erfüllten wir ihr getreulich einmal in der Woche. Ihr immerwährendes Gezeter ignorierend, führten wir eine belanglose Konversation, spazierten anschließend gemeinsam eine kurze Runde durch den Garten. Körperlich ging es ihr wieder besser. Doch nach spätestens einer Stunde verließen wir die alte, bedauernswerte Frau, erleichtert endlich frische Luft zu schnappen und unsere Pflicht erfüllt zu haben.

Vor mir befand sich die Autobahnzufahrt. Der schlimmste Teil der Strecke lag nun hinter mir. Ich setzte den Blinker und fädelte mich in die Abbiegekolonne ein, da schob sich meine Uroma bereits wieder in mein Blickfeld.
Besuchstag, diesmal für mich ausnahmsweise ohne Begleitung meiner Eltern. Ich kam unangekündigt. Als ich das Zimmer betrat, registrierte ich unwillkürlich den in der Luft hängenden schweren, süßlichen Geruch des Alters, weiterhin den leeren Platz am Fenster.
Ihre Mitbewohnerin informierte mich auf Nachfrage, dass meine Uroma im Haus unterwegs wäre.
„Im Haus?“, erkundigte ich mich ungläubig. „Wo im Haus?“
Na, das wisse sie nun wirklich nicht, bekam ich patzig zur Antwort. Möglicherweise bei der Elsa am Ende des Flurs, oder bei Hans im anderen Flügel oder eventuell hatte sie sich auch zu der Gruppe draußen vor dem Eingang gesellt.
Ah ha! Sprachen wir von meiner ständig zeternden Uroma, die nur hörte, was sie wollte, schlecht sah und am liebsten auf ihrem Stuhl saß?
Sie zu finden, konnte nicht schwer sein, dachte ich mir in meinem jugendlichen Leichtsinn. Die Gruppe vor dem Eingang hakte ich getrost ab, daher kam ich gerade. Also machte ich mich auf den Weg, sprach zuerst mit Elsa, dann mit Hans. Sie hatten sie nicht gesehen, schickten mich jedoch weiter zu Erna, die wiederum zu Lissi und so ging es weiter. Schließlich stöberte ich sie in der kleinen Gemeinschaftsküche auf, wo sie alleine mit einer Tasse Tee saß. Der heiße Wasserkessel stand noch auf dem Herd.
Auf meine Frage „Was tust du hier?“ erklärte sie mir gelassen: „Ich gönne mir ein bisschen Ruhe.“
„Ein bisschen Ruhe“, betete ich ihre Worte dümmlich nach. Ich befand mich definitiv im falschen Film.
Sie lachte auf. „Hast du eine Ahnung, wie anstrengend die jungen Hühner hier sein können?“
Junge Hühner?! Darüber musste ich erst mal nachdenken. Aber aus ihrer Warte gesehen: mit stolzen 97 Jahren, war selbst 80 noch jung.
Wer war diese Frau, die jetzt heiter lachend vor mir saß, mich mit leuchtenden, wissenden Augen betrachtete?
Kopfschüttelnd ließ ich damals unsere Vergangenheit vor meinem inneren Auge vorbeiziehen. Die Scham ließ nicht lange auf sich warten, während meine Uroma mir verständnisvoll die Hand tätschelte.
„Lass gut sein Mädchen. Das ist der Lauf der Welt. Du darfst dich nur nicht unterkriegen lassen.“
Jetzt waren wir auf uns alleine gestellt. Einfach nur Uroma und Urenkelin, ohne „du musst“, „du solltest“ oder „das macht man so“.

Ich trat das Gaspedal durch. Während ich auf der Überholspur an allen vorbeirauschte, dieselbe Ungeduld verspürte, mit der ich damals meinen weiteren Besuchen entgegensah.
Meine kleine Dame überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Sie erzählte von ihrer Kindheit, einer anderen Welt. Ich hörte aus erster Hand die Geschichten über den letzten deutschen Kaiser, erlebte die Stimmung bei seinen Paraden. Sie sah die ersten Autos, erlebte zwei Weltkriege und floh vor den Russen. Ihre Welt veränderte sich kolossal, immerhin fast ein ganzes Jahrhundert.
Außerdem wurden unsere Spaziergänge immer länger, dank meiner durfte sie endlich wieder das Gelände des Altenheimes verlassen.
Wir beide verschworen uns gegen den Rest der Familie, gewundert haben sie sich, mich dabei wohlwollend betrachtet. Sie nannten es „eine Last tragen“. Ich dagegen nannte es Vergnügen.
Ich vermisste meine Uroma, nicht immer, aber immer mal wieder und dann umso mehr.

Vor mir lag nun die Einfahrt.
Lina und Lukas stürzten mir bereits entgegen, meine Schwester im Schlepptau.
In mir jubelte es: Pizza-Time …

Version 2
Stand: 23.03.15

Letzte Aktualisierung: 23.03.2015 - 19.56 Uhr
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