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Alles nur Show | März 2015

Alles nur Show?
von Tilli Ulenspeel

Schon wieder dieser Typ! Seine hündische Ergebenheit geht mir auf den Senkel. Und nach der Vorstellung werde ich vermutlich wieder gute Miene machen, damit Charleene, meine Chefin, nicht ihren besten Kunden verliert.
Er kommt jeden Tag. Sitzt ganz vorne an der Bühne, meist ein Glas Champagner in der Hand und glotzt mich an, als wenn ich das achte Weltwunder wäre.
Letztens sagte er zu mir:\"Ich bin nicht schwul, aber ich würde gern...\".
Wie oft habe ich das schon gehört?! Es ist ekelhaft.

Wenn ich tagsüber durch die Stadt laufe, erkennt mich keiner.
Ich bin eher der schmächtige Typ. Der, der nirgendwo auffällt. Und nach der Show sehe ich nach dem Abschminken wieder genauso nichtssagend aus.

Doch das Abschminken bekommt er nicht mit.

Das Schreiten auf Stilettos habe ich mühsam lernen müssen. Es stundenlang vor dem Spiegel geübt.
Mein Selbstwertgefühl stieg mit steigender Absatzhöhe. Man kann heute sagen, mein Ego befindet sich auf 14,5 cm - in Plateau gemessen. Aber das auch nur auf der Bühne.

Tagsüber sortiere ich im Baumarkt Regale und gieße die Blumen im Gartencenter. Ich bin der Depp für alle.

Ich muss raus.

Mein Auftritt.

Meine Bühne.

Heute bin ich \"La Dietrich\" und das heißt, es ist ein absolutes MUSS, etwas besonders Auffallendes und Hochwertiges zu tragen. Marlene selbst wählte nur das Beste vom Besten, denn sie wusste, dass sich immer \"ein Kenner in der Menge\" befindet. Ihr Hang zur Perfektion war weithin bekannt. Und wie sie, spiele auch ich gern mit der Mehrdeutigkeit von Maskulinem und Femininem.
Allerdings habe ich in ihrer Rolle einen Vorteil. Ich brauchte mir nicht die Backenzähne ziehen lassen, um hohlwangig auszusehen. Außerdem musste ich keine Diät machen, um 10 kg abzunehmen, wie einst von ihrem ersten Regisseur gefordert.

Die Musik setzt ein.

Ich erhebe meine Arme und schreite langsam in die Mitte der Bühne.
Sie wissen es! Sie fühlen es, wenn ich in der Mitte angekommen bin, da wo der Scheinwerfer den Rest der Welt verblassen lässt. Dann ist da nichts Anderes mehr.

Ich bin Marlene!

Gehe ganz in meiner Rolle auf. Ich sehe seine bewundernden Blicke.
Sie fressen mich fast auf.

Wenn er wüsste...


Ich taste unauffällig nach dem kleinen zusammengefalteten Stück Papier unter meinem BH-Träger. Es ist noch da.

Morgen werde ich mich demaskieren.

Mein weißer Pelz umhüllt mich und ich fühle mich durch ihn sehr feminin, obwohl ich gerne ein Mann bin. Das ahnt das Publikum nicht. Sie halten mich vermutlich für einen Transvestiten, der nicht weiß, was er will. Eher Mann oder doch lieber Frau?
Während mich begehrliche Blicke verfolgen, mich fast ausziehen und mein Körper wohl verbrennen würde, wenn das Feuer in ihren Augen mein silbernes, enganliegendes Kleid durchdränge, beginne ich endgültig mit der Show!

Ich singe: \"Johnny, wenn du Geburtstag hast...\" , steige dabei langsam die Stufen von der Bühne herunter, bewege mich lasziv und schenke ihm einen tiefen Blick. Mit einer unauffälligen Handbewegung greife ich unter meinen Pelz, lasse den kleinen zusammengefalteten Zettel in meiner Hand verschwinden und ihn Sekunden später auf seinen winzigen runden Tisch fallen, während ich weitersinge: \"Johnny, ich träum´ so viel von dir. Ach, komm doch mal zu mir. Nachmittags um halb vier...\"

Mich kotzt dieses Theater an.
Aber anders werde ich ihn nicht los. Die Rosen und Pralinen, die nachts in meine Garderobe gebracht werden, verschenke ich an die alte Frau Bremer, die mir morgens immer einen Kaffee und Brote bringt, bevor ich zur Arbeit muss. Ich habe keine Zeit für solch aufwendige Sachen wie Frühstück machen. Die Nacht ist zu kurz und ich muss pünktlich im Baumarkt sein.
Das Lied ist zu Ende.
Nachher werde ich noch die \"kesse Lola\" aus dem blauen Engel geben. Aber dann ist Schluss für heute.
Falls Charleene nicht andere Pläne für mich hat.
Es ist wichtig, seine Gäste zu hofieren, pflegt sie zu sagen. Das heißt, ich werde mich wie immer, charmant mit der schlecht gemachten Kopie von Sky du Mont unterhalten, ein paar Gläschen mit ihm trinken und auf interessierte Plaudertasche machen. Seine Hände immer wieder von meinen Oberschenkeln schieben und seinen ekeligen, feuchten Küssen ausweichen, die er gerne auf meinem ganzen Körper verteilen würde, wie er mir in angesäuseltem Zustand offenbart hatte.

Einige kapieren es nicht, dass es für mich nur eine Passion ist. Eine Leidenschaft, die ich auslebe, weil ich nicht anders kann. Weil ich gerne ein Paradiesvogel bin in der Nacht.
Tagsüber unbeachtet und nachts das krasse, glamouröse Gegenteil! Ich liebe den Applaus und sauge ihn ein. Er ist mir Energie für meinen grauen Alltag, in dem sich nie etwas Besonderes ereignet.

Ich habe Glück. Heute komme ich pünktlich nach Hause. Ich nehme eine Mütze Schlaf, stehe wieder auf, gehe zur Arbeit und mache um 15 Uhr Feierabend.

Die Straßenbahn kommt. Ich steige ein. Und drei Haltestellen weiter wieder aus.
Jetzt spiele ich keine Rolle mehr. Bin ganz ich selbst und bewege mich wie ein normaler Kerl, der gerade Feierabend hat. Ich schreite nicht, ich latsche. Ich trage kein Paillettenkleid oder irgendein knappes Kostümchen mit Strumpfhalter und Netzstrümpfen, sondern meine schwarze Jeans und einen Kapuzenpullover.

Auf der Bank am Brunnen sehe ich ihn schon sitzen. Er hat wieder einen Strauß Rosen in der Hand.
Ich gehe gemächlich auf ihn zu und tue so, als würde ich die Jugendlichen beobachten, die dort auf der Wiese ihren Spaß haben. Dann setze ich mich zu ihm auf die Bank.
\"Verschwinde hier, ich habe ein Date\", zischt er und sein Gesicht ist unwirsch verzogen.

Ich fange an zu singen: \"Johnny, wenn du Geburtstag hast...\"

Letzte Aktualisierung: 16.03.2015 - 20.12 Uhr
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