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Mord und Totschlag | April 2015
Glück gehabt
von Marcel Porta

Verena hatte eine schwere Zeit hinter sich. Die Trennung von Manfred war zwar schnell über die Bühne gegangen und nach außen hin ließ sie sich nichts anmerken, doch wie es in ihr drin aussah, ahnte niemand. Nicht einmal ihrer besten Freundin Anne vertraute sie an, wie sehr die letzten Aussagen ihres ehemaligen Göttergatten sie verletzt hatten.
Umso mehr genoss sie jetzt den Urlaub auf Sylt. Das Alleinsein war ungewohnt, doch es entpuppte sich als Balsam für ihre Seele. Die Sonne, der warme Wind, die Dünen verzauberten sie und lösten die innere Anspannung. Verena nahm weite Wege auf sich, um einsame Gebiete zu erreichen. Wirklich wohl fühlte sie sich erst, wenn niemand in ihrer Nähe war und sie sicher sein konnte, keiner würde sie in den nächsten Stunden ansprechen.

Mehrere Störungen an diesem Tag veranlassten sie, immer tiefer in die Dünenlandschaft einzudringen. Zuletzt tat sie etwas, was eigentlich gegen ihr Verständnis von Natur und Umwelt verstieß: Sie stieg über eine Absperrung, die Touristen davon abhalten sollte, in die unberührte Dünenlandschaft einzudringen. Das schlechte Gewissen war ihrem Bedürfnis nach Einsamkeit nicht gewachsen.
Sie breitete ihr Handtuch aus, legte ihre Kleider ab – sie trug ihren Badeanzug immer darunter, wenn sie zu den Dünen ging – und legte sich in die Sonne. Ein sanfter, warmer Wind umschmeichelte ihre Glieder und innerhalb weniger Minuten war sie eingedöst. Sie träumte ausnahmsweise etwas Schönes: Ihre Freundin Anne besuchte sie in ihrer Eremitenhöhle und brachte ihr Zuckerwerk und Lebkuchen mit.

Als sie aufwachte, drückte ihre Blase und sie suchte sich ein paar Meter entfernt eine Örtlichkeit, um dem Bedürfnis nachzugeben. Gerade als sie loslassen wollte, entdeckte sie unter sich ein ungewöhnliches Objekt. Nur eine Ecke schaute aus dem Sand und erinnerte sie an einen Brustbeutel, wie sie mal einen besessen hatte. Sie drehte sich ein wenig zur Seite und pinkelte woanders hin, während sie den Fund vom Sand befreite und in Augenschein nahm. In der Tat, es handelte sich um eine Tasche, ganz ähnlich der, die Manfred zur Aufbewahrung seiner Dokumente benutzte. Darin befand sich eine Geldbörse, die kein Geld enthielt, wie sie nach einem kurzen Blick feststellte. Ein Personalausweis und eine Kreditkarte waren allerdings vorhanden und lauteten auf den Namen Jens Schröder. Die weiteren Papiere ließ sie unbeachtet, Neugierde war noch nie eine ihrer Schwächen gewesen.

„Geklaut und dann weggeworfen“, war Verenas Vermutung. „Der arme Mann, bis er die Unterlagen alle wieder besorgt hat“, bedauerte sie den Unbekannten. „Ich kann die Tasche nicht hier liegen lassen, das wäre ein Frevel.“
Trotz ihrer derzeitigen Menschenscheu wollte sie noch am selben Abend bei Herrn Schröder anrufen. Die Telefonnummer sollte herauszufinden sein, die Adresse stand ja im Ausweis. Der Mann lebte auf Sylt, was eine Abholung begünstigen sollte.

***

„Wenn dieser Brief in die falschen Hände gerät, bist du ein toter Mann. Wie kann man so dumm sein, sich die Tasche mit den Unterlagen klauen zu lassen. Du bist dümmer als die Polizei erlaubt!“
Die Stimme aus dem Telefon wurde mit jedem Satz lauter und Jens immer blasser. Natürlich hatte er mit einem dicken Rüffel gerechnet, doch nicht mit dieser direkten Drohung. Wenn der Boss von einem toten Mann sprach, dann meinte er mausetot, nicht mehr zu identifizieren.
„Schaff ihn wieder her, wie, ist mir vollkommen egal. Und sorg dafür, dass sich niemand an irgendwas erinnern kann. Auch wer die Nachricht nicht verstanden hat, ist gefährlich. Kein Risiko, capisci?!“
„Jawohl!“, bellte Jens ins Telefon. Das sollte mutig klingen, doch so war ihm keineswegs zumute. Wie sollte es ihm jemals gelingen, diesen Brief wieder zu besorgen? Er hatte keine Ahnung, wer ihn beklaut haben könnte. Es musste in diesem Schwulenlokal passiert sein, in das er leichtsinnigerweise nach dem Empfang der Dokumente gegangen war. Zum ersten Mal beauftragte ihn der Boss damit, die geheimen Unterlagen zu überbringen, und schon versagte er. Wo sollte er beginnen? Es gab nicht den geringsten Verdacht, an besagtem Abend hatte sich niemand an ihn herangemacht und auch er hatte nur dagesessen und beobachtet. Der Besuch sollte nur der Sondierung dienen, für später, wenn er die Belohnung in der Tasche hatte und einen draufmachen wollte. Es machte Spaß, schon mal einen oder zwei Typen in die engere Wahl zu nehmen. Und nun das! Am liebsten wäre er bis ans Ende der Welt geflohen, aber er wusste, das hatte keinen Zweck. Der Boss würde ihn finden und sein Tod würde umso schlimmer sein, je länger er nach ihm suchen musste.

Die Verzweiflung wuchs und Jens überlegte bereits, wie er seinem Leben ein Ende bereiten könnte, um wenigstens in einem Stück beerdigt zu werden, als das Telefon klingelte. Ahnte der Boss, was sich gerade in Jens abspielte? War er der Anrufer?
Jens hob ab und meldete sich.
„Ja?“
„Guten Abend, sind Sie Jens Schröder?“
„Wer will das wissen?“
„Ich war heute in den Dünen und habe eine Tasche gefunden. Darin waren ein Personalausweis und diverse Papiere. Ich vermute, die hat man Ihnen gestohlen und dann weggeworfen, nachdem der Dieb das Geld an sich genommen hat.“
Jens war so perplex, dass er kein Wort hervorbrachte.
„Hören Sie, sind Sie noch dran?“, ertönte die weibliche Stimme aus dem Telefon.
„Ja, doch, das stimmt, man hat mich beklaut. Wo sind Sie? Ich möchte meine Unterlagen wiederbekommen. Was verlangen Sie dafür?“
„Natürlich verlange ich nichts. Ist doch eine Selbstverständlichkeit. Mir sind auch schon mal die Papiere gestohlen worden, ich weiß, wie unangenehm das ist.“
„Okay, und wie wickeln wir das ab?“
„Ich schlage vor, wir treffen uns vor meinem Hotel. Wie lange brauchen Sie bis zum Atlantic, oder wäre Ihnen morgen lieber?“
„Nein, unbedingt sofort. Ich kann in dreißig Minuten bei Ihnen sein.“
„Gut, wir treffen uns um sechs, ich werde unten vor dem Hotel warten. Sie erkennen mich an der orangefarbenen Bluse.“
„Prima, ich mache mich sofort auf den Weg. Wie heißen Sie, falls wir uns verfehlen?“
„Verena Schmidt, bis gleich, Herr Schröder.“

So viel Glück gibt es doch gar nicht, dachte Jens. Das wäre ihm selbst im verrücktesten Traum nicht eingefallen. Diese Verena hatte natürlich keine Ahnung, welch brisante Beute sie gleich ablieferte. Und dennoch, der Boss hatte klipp und klar formuliert, dass niemand sich an irgendwas erinnern sollte. Zudem kannte sie seinen Namen. Es gab keine Chance für diese Frau. Schade eigentlich, ihre Stimme klang sympathisch und sie schien ein interessanter Mensch zu sein. Doch das war dem Boss egal, und auch er konnte sich solche Sentimentalitäten nicht leisten. Touristinnen kamen immer mal wieder abhanden, auf eine mehr oder weniger kam es nicht an.

***

„Sie sind Verena, stimmt's?“
Jens hatte sie gleich erkannt. Sie sah so harmlos aus in ihrer orangefarbenen Bluse und der zerschlissenen Jeanshose. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie ihm gefährlich werden konnte. Und dennoch, kein Risiko hatte der Boss gesagt!

„Ja, und Sie müssten Jens Schröder sein. Ich habe Ihre Papiere dabei. Leider ist das Geld weg. Aber das hab ich Ihnen ja schon am Telefon gesagt.“
„Trotzdem bin ich Ihnen unendlich dankbar. Es sind wirklich wichtige Unterlagen dabei. Das werden Sie ja bemerkt haben.“ Jens wollte in Erfahrung bringen, ob sie etwas herausbekommen und weitererzählt haben konnte.
„Nein, hab ich nicht. Ich habe nur den Geldbeutel angeschaut, und da ich dort Ihre Adresse gefunden habe, war mir der Rest nicht mehr interessant. Dem Dieb wohl auch nicht, sonst hätte er es behalten.“
Jetzt wollte Jens wissen, was alles sie ihm wiedergebracht hatte. Ungeduldig riss er die Tasche auf und … da war der Brief. Ungeöffnet. So viel Glück strapazierte seine Vorstellung von Realität. Wenn es irgendwo einen Gott gab, der Sympathien für Kriminelle hatte, dann war der ihm ganz besonders gewogen. Er konnte seinem Boss ohne mit der Wimper zu zucken berichten, dass alles glattgegangen war. Keine Gefahr am Horizont!
Und dennoch! Ohne den bedingungslosen Beweis seines Gehorsams würde er beim Boss keine Gnade finden. Somit gab es immer noch Gründe genug für Verenas Tod.
Ein Anruf war in ihrem Beisein nicht angebracht, also schrieb er eine SMS: „Hey Boss, hab die Sache wieder im Griff. Morgen wird der Tod einer Touristin die Sensation in den Zeitungen sein.“

„Ich habe im Auto eine kleine Überraschung für Sie“, lockte Jens sein Opfer. „Ich bin so glücklich über Ihre Selbstlosigkeit, dass ich mich einfach bedanken muss. Leider habe ich es im Auto liegen lassen. Könnten Sie einen kleinen Spaziergang mit mir machen, damit ich nicht zwei Mal laufen muss?“
Natürlich hatte er das Auto an einer für seine Pläne strategisch günstigen Stelle abgestellt und genau dieses Szenario geplant. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er sich eines Mitwissers entledigen musste.

***

Verena folgte dem fremden Mann mit gemischten Gefühlen. Er sah gut aus, war höflich und zuvorkommend und wollte sich bei ihr bedanken für ihre - wie sie fand - selbstverständliche Handlungsweise. Doch was sie bedrückte, war die Ähnlichkeit mit Manfred. Ihr Exmann hatte dieselben Geheimratsecken, dieselbe Nase, und die Geste, mit der dieser Herr Schröder sich am linken Ohr kratzte, ähnelte der von Manfred auf beängstigende Weise. Sie würde sich aber nicht schon wieder verlieben! Nicht in einen Typen, der sie derart an Manfred erinnerte.

Er ging vor ihr her, und die Gegend wurde immer einsamer. Wenn er sich jetzt umdreht und mich in die Arme nimmt, dachte sie, kann ich ihm garantiert nicht widerstehen. Warum bin ich nur so eine verdammte Idiotin?!

Zu spät bemerkten Verena und Jens den Mercedes, der sich mit hoher Geschwindigkeit von links näherte. Das Geräusch, das entstand, als Jens mehrere Meter weit weggeschleudert wurde, ähnelte dem einer Dampframme auf trockenem Asphalt.

„Du Armer“, klagte Verena, als sie den blutigen Leichnam in den Armen hielt, „es hätte auch ganz anders ausgehen können mit uns beiden.“

Letzte Aktualisierung: 19.04.2015 - 09.35 Uhr
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