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Mord und Totschlag | April 2015

Tanz der Teufel
von Hajo Nitschke

Der Friederich, der Friederich,
das war ein arger Wüterich.
Er fing die Fliegen in dem Haus
und riss ihnen die Flügel aus.


(aus “Der Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann)


Wie gut ich schon von Kindesbeinen an den Friederich verstehen konnte! Er war nie mein Held und ich habe weder ein Gretchen noch einen Hund geschlagen, aber zumindest in diesem Punkt ist er ein Vorbild. Fliegen sind meine Todfeinde, so weit ich zurückdenken kann. Ich hasse diese Teufel! Inbegriff von Ekel und Abschaum, Geißel der Menschheit, Inkarnation des Bösen. Aber das sage ich meinem Therapeuten nicht.

Er ist mit mir zufrieden. Glaubt, dass ich, ergänzend zur Basistherapie, auch dank gereimter Traumaverarbeitung entscheidende Fortschritte gemacht habe. Befreiendes Schreiben. Durch Selbstreflexion das eigene Handeln bewerten, Zugang zu sich selber erlangen: bei mir funktioniert das nicht, so gescheit meine Verse auch sein mögen. Diese kleinen Viecher sind und bleiben die letzte Prüfung, erschaffen einzig, um alles Leben zu quälen. Trotzdem mache ich dem Personal hier weis, keiner Fliege mehr etwas zuleide tun zu könen. Das ist gelogen, aber ich behalte es für mich, kann mich gut verstellen. Man bat mich, über die Vorkommnisse zu berichten. Dass ich dabei nur vortäusche, einen gewissen Abstand gewonnen zu haben, wird den Leuten entgehen. Doch der Reihe nach:

Erst hockten sie in Dreck und Mist, dort kam es zum Komplott,
dann stürzen sie sich voller List auf Kuchen und Kompott.


So war das, genau so, als ich als einziger Gast am Mittagstisch des Bauernhofes saß. Es war das erste Mal, dass ich hier herkam, dass ich mich überhaupt auf dem Land aufhielt. Ich saß also in der gemütlichen Stube mit Blick auf die einzigartige steirische Bergwelt. Die Bäuerin brachte zur Nachspeise Kaffee und Pflaumenkuchen. Die um die Reste des Kompotts herumschwirrenden und mich mit zunehmendem Widerwillen erfüllenden Fliegen kommentierte sie lediglich mit „Lassen's sich durch die Viecher net stören, gell?“ Dann entschwand sie, nachdem sie zum Lüften das Fenster ein wenig geöffnet hatte. Was ein schwerer Fehler war. So schnell konnte ich gar nicht aufspringen und es wieder schließen, dass es nicht längst zu spät war. Das Unheil nahm seinen Lauf.

Der Überfall der japanischen Luftwaffe auf Pearl Harbor war ein Kinderspiel im Vergleich zu diesem Geschwader. Ein Geschwirr, Gebrumm und Gesumm. Wirbelndes Durcheinander sechsbeiniger Krankheitsüberträger. Sie vermischten sich mit den ohnehin schon zur Plage gewordenen übrigen Stubenfliegen. Gefühlte Zigtausende. Wut überkam mich. Zorn, selbst hier in dieser Idylle und nach so langer Anfahrt Opfer solcher Invasion zu werden. Ich schlug zu. Alles versuchte ich: mit der flachen Hand, der Serviette, gezielten Einzelhieben oder großflächigem Schwenken. Ohne Erfolg. Als ich, gespielt stoisch und den Kühen gleich, Demut vortäuschte und einer fast bewegungslosen Statue glich, krabbelten die Biester dreist über mein Gesicht. Summten mir aggressiv ins Ohr. Entnervt sprang ich auf.

Wie ich nun wütend um mich schlag: es brummt wie nie zuvor.
Je länger ich die Bande jag, je mehr lärmt es ins Ohr.


Kein Kraut schien gegen die kleinen Monster gewachsen zu sein. Wände und Tische voller Fliegen. Ich meinte sogar die eine oder andere – bläuliche – Schmeißfliege zu entdecken. In der Kaffeetasse zappelte eine der Angreiferinnen, während eine größere Einheit die Kompottreste und inzwischen auch den Pflaumenkuchen besetzt hielt. Ich versuchte es mit einem Täuschungsmannöver, bewegte die erhobene Hand keinen Millimeter, um eine Fliege auf der Tischdecke in Sicherheit zu wiegen. Dann zuckte meine Hand nieder – auf den leeren Stoff. Sie hatte wie der Blitz Reißaus genommen. In mir kochte es. Was war das für Teufelszeug, dass es aus dem Stand so pfeilschnell reagieren konnte? Wie vom Katapult geschossen. Ging das noch mit rechten Dingen zu? Und nie eine Kollision: welch geradezu unheimliches Navigationsvermögen!

Selbst noch im Sturzflug spitzwinklig und ansatzlos die Richtung ändern können, vom menschlichen Gehirn nicht vorauszuberechnen: es war eigentlich unmöglich. Als hätte jedes einzelne Exemplar einen hypermodernen Bordcomputer im Ekel-Kopf, der die Bewegungen mit unfassbarer Geschwindigkeit berechnete und steuerte. Die Piloten der deutschen Ju 87 wären seinerzeit vor Neid erblasst. Verglichen mit diesem widerwärtigen Schwarm glichen ihre Stukas den sprichwörtlichen lahmen Enten. Ich musste etwas tun. Es war lächerlich, dass ein vernunftbegabtes Wesen vor dieser hirnlosen Bande das Feld räumte. Und endlich hatte ich eine Idee.

Nun gib fein acht, du Höllenschar dadrüben an der Wand!
Du bist nur Vieh, doch eins ist klar: als Mensch hab ich Verstand.


Ich ließ also die Rollos herunter und verharrte auf der Stelle. Die Lamellen schlossen hermetisch das Tageslicht aus, das Speisezimmer war stockdunkel. Ich hielt den Atem an. Wartete bewegungslos. Ließ die Zeit verstreichen. Stille. Der ganze gewaltige Summ-Chor hatte seine Darbietungen schlagartig eingestellt. Es war der Moment, der mich am ehesten an dieses Märchen vom Dornröschen erinnerte – an schlafende Fliegen an der Wand. Ach wie herrlich, wenn es wirklich hundert Jahre währen sollte! Aber es war ein Grimm'scher Irrtum, denn nie und nimmer wären diese winzigen Satansbraten bei Tag und in der Nähe von Kuchenkrümeln auf diese Weise anzutreffen gewesen. Und prompt gaukelten mir meine Sinne vor, es habe soeben jemand oder etwas gelacht. Ich war es jedenfalls nicht. Vorsichtig öffnete ich die Stubentür einen Spalt weit: Seht ihr? Hier vorne ist es hell. Schwirrt ab! Verzieht euch ins Treppenhaus! Dann schlich ich mich zurück zum Fenster, schloss konzentriert die Augen und wartete erneut.

In der Hoffnung, der Feind habe unter Einstellung seines Triumphgesummses still bzw. kleinlaut das Weite gesucht, zog ich die Rollos hoch – und erstarrte. Von Wänden und Möbeln erhob sich eine gigantische, zweigeflügelte Übermacht! Sauste durch den Raum, umkreiste mich drohend und vermehrte sich durch Verstärkung. Diese war vom Flur her durch den geöffneten Türspalt eingedrungen. Das war das Ende. Verzweifelt schlug ich um mich, traf aber nichts. Die große Fliegenklatsche auf der Anrichte bemerkte ich erst jetzt. Sie packen und drauflosdreschen war eins. Ich explodierte, wurde zum menschlichen Vulkan. Doch meine Eruptionen trugen keine Früchte. Erschöpft legte ich die Fliegenpatsche ab.

Umsonst! Ich schmeiß die Klatsche fort und schon tanzt Arm in Arm
auf eben jener Klatsche dort der ganze Monsterschwarm.


Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen. Hätte ich eine weiße Flagge gehabt, ich hätte sie im ersten Moment gehisst. Nach einer kleinen Weile sträubte sich jedoch alles in mir dagegen aufzugeben.
Friederich hätte das auch nicht getan. Gewiss: der Mensch mag Krone der Schöpfung sein, aber die Fliegen gab es leider schon weit vor ihm. Vermutlich nehmen sie sich deshalb auch das Recht, sich rotzfrech auf sein Gesicht zu setzen. Und auf seinen Kuchen, nicht zu vergessen. Nein, das war nicht akzeptabel! In diesem Moment geschah es. Irgendwie machte es klick und alle Sicherungen brannten durch. Ich sprang wie von Sinnen auf, die Fliegenklatsche erneut in der Hand, und kam wie das Jüngste Gericht über sie. Schnaubte Mord und geiferte Vernichtung. Nur eine zu Brei zerdrückte Höllenbrut würde ich zurücklassen!

Wie rasend schlug ich um mich, ein fleischgewordener Tornado. Ein lebender Dreschflegel, der im Turbogang durch das Zimmer fegte und alles niederwalzte. Ich brüllte, Schaum vor dem Mund: „Tod euch! Tod, Tod, Tod!“ Es muss wie ein Wahnsinniger geklungen haben. Tatsächlich auch hatte etwas ausgesetzt. Blindwütig zertrümmerte ich Geschirr und Vasen, eine Wanduhr und die Glasscheiben der Vitrine. Meine Hände bluteten unter den Schnittwunden und verschmierten alles ringsumher rot. Doch es entging mir vor lauter Rot, das ich längst sah. Ich schrie und schlug, schlug und schrie. Dass die Bäuerin hereinstürzte, nahm ich nicht wahr, und an das, was dann passierte, habe ich keinerlei Erinnerung mehr. Polizeifotos zeigten später die bedauernswerte Frau, wie sie mit eimgeschlagenem Schädel auf dem Fußboden lag.

Der Richter billigte mir aufgrund mehrerer Gutachten Unzurechnungsfähigkeit zu. Inzwischen gelte ich, wie erwähnt, als erfolgreich therapiert, als geheilt. Wenn die wüssten! Der Kampf ist noch lange nicht zu Ende, aber auf's Land werde ich nicht mehr fahren. Morgen werde ich entlassen. Werde sozusagen – und an dieser Selle hab ich Mühe, einen hysterichen Lachkrampf zu unterdrücken – die Fliege machen.

Uns untertan, wie sich's gebührt – das Vieh, so Gottes Rat.
Die Fliegen haben's nicht kapiert: man kennt das Resultat.




(c) Hajo Nitschke, V3



Letzte Aktualisierung: 12.04.2015 - 09.32 Uhr
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