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Mord und Totschlag | April 2015

So Gott will
von Silke Sarkander

„Und? Was machen wir nun?“ Paul steht mit ratlos erhobenen Händen da. „Du hast die Frau im Touristenbüro gehört. Alle Herbergen sind voll“, ruft er Martin hinterher, der schon fast die nächste Straßenecke erreicht hat und sich nun gelassen umdreht.
„... die Hotels auch. Ich weiß, schlafen wir eben draußen.“
Pauls Augen weiten sich. „Das ist nicht dein Ernst. Ich besitze nicht mal eine Isomatte.“
Doch Martin winkt gleichmütig ab. „Ach, das geht schon. Ich hab‘ auch keine.“ Dabei betrachtet er seinen Gesprächspartner eingehend. Er hat ihn vor einer Stunde, am letzten Aussichtspunkt, aufgelesen, eine ziemliche Memme. Wie zur Bestätigung zögert Paul weiterhin, kommt aber wenigstens näher. „Ich habe das bisher noch nie gemacht, warm genug wäre es schon.“
„Na siehst du. Mach dir mal nicht in die Hosen. Vertrau ‘nem alten Hasen wie mir.“ Martin schüttelt missbilligend den Kopf, während er sich forsch in Bewegung setzt. „Komm, mach hinne, es wird bald dunkel und ich brauch erst was zum Trinken.“
Dann strebt er direkt in die nächste Bar. Nach dem Marsch ist vor dem Marsch und ein eiskaltes Bier für Martin jetzt genau das Richtige. Danach gönnt er sich schnell noch eins, damit der Durst nicht sofort wiederkehrt. Paul wählt demonstrativ ein Glas Wasser.

Bevor sich das ungleiche Paar endgültig auf den Weg macht, steuert es das örtliche Lädchen an, welches mit seinen 30 m² alles bietet, was das Herz begehrt. Ein Baguette, etwas Wurst, Käse und zwei Äpfel, das wird bis zum nächsten Morgen reichen, fehlt nur noch der Wein.
Martins Blick wandert suchend über das Sortiment, während Paul ihn skeptisch beäugt. „Sollten wir nicht lieber nüchtern bleiben?“
„Ach was, so’n bisschen Wein wirft uns doch nicht um. Rot oder Weiß?“
„Wenn du so fragst, lieber Weiß.“
„Okay, einen Roten und einen Weißen.“ Martin greift entschlossen ins Regal.
Pauls Einwand „Das ist eindeutig zu viel“ wiegelt er souverän ab. „Wir müssen ja nicht austrinken. Sei kein Spielverderber.“
Dabei zuckt Paul kaum merklich zusammen. Eine Falte entsteht auf seiner Stirn. „Na gut“, stimmt er unwillig zu.
Wieder vor dem Laden kommt der Moment, auf den Martin gewartet hat. „Ich hab‘ was vergessen“, wendet er sich an Paul und stürmt in das Geschäft zurück.
Jetzt unbeobachtet, wählt Martin zielstrebig den Gang mit den Spirituosen, schnappt sich einen Weinbrand, dazu Chips als Alibi. Mit der Tüte winkend, die Flasche längst sicher verstaut, stößt er gutgelaunt einige Minuten später wieder zu Paul.

Bald liegt das kleine Städtchen hinter ihnen. Da die Sonne bereits ziemlich tief steht, wird es allmählich Zeit, sich nach einem geeigneten Schlafplatz umzusehen.
Paul nörgelt ungeduldig: „Mir tun die Füße weh und die Schultern“, dabei macht er einen krummen Rücken, um das Gewicht seines Rucksacks zu verlagern, beeilt sich dann aber, hält angestrengt mit Martin Schritt, der verächtlich lächelnd vor sich hin stapft. Ein breites Grinsen stiehlt sich auf sein Gesicht, wann immer er an den Weinbrand in seinem Rucksack denkt.
Als sie hinter einer Biegung plötzlich auf eine abgeschiedene, jedoch überaus idyllisch gelegene, Kapelle stoßen, entfährt Martin spontan ein „Na sauber, das is‘ perfekt.“ Zufrieden nickend rüttelt er an dem kunstvoll geschnitzten Portal, um enttäuscht festzustellen, dass es verschlossen ist, allerdings sind das die meisten Kirchen am Weg.
Paul kommt zögernd näher. „Hier willst du bleiben?“
Martin hebt genervt die Brauen, „Was stört dich daran?“, fragt sich ernsthaft, welcher Pups dem kleinen Mann jetzt quer sitzt.
Woraufhin dieser überflüssigerweise feststellt: „Das ist eine Kirche.“
„Ja, und?“
„Nachts wird es hier bestimmt unheimlich“, gesteht Paul betreten ein. „Wer weiß, welche Dramen sich hier abgespielt haben, so weit außerhalb?“
Unschlüssig steht er da, während Martin, ihm gönnerhaft die Schulter tätschelnd, die Augen verdreht. „Der liebe Gott passt schon auf uns auf.“
Paul schaut zweifelnd zu ihm herauf, späht skeptisch in jeden Winkel, bevor er endlich seinen Rucksack abnimmt.
Die beiden suchen eine geschützte Stelle, breiten ihre Schlafsäcke aus und machen es sich anschließend darauf im Schneidersitz bequem. Während Martin noch die schwindenden Sonnenstrahlen beobachtet, kramt Paul bereits nach seinem Taschenmesser, klappt es auf und schneidet das Baguette akribisch in Scheiben, bevor er sich das erste Stückchen in den Mund schiebt.
Mit den Worten „Jetzt brauchen wir ‘was Flüssiges“, entkorkt Martin bald die erste Flasche Wein, dann die zweite. Er trinkt lieber den Roten. Der Weiße passt zu Paul, der ist genauso farblos.
Natürlich ziert sich dieser Schlappschwanz. „Bitte nur ein wenig“, ruft er, als Martin die Flüssigkeit schwungvoll in die mitgebrachten Campingbecher gießt.
„Kein Problem“, erwidert dieser mit unverhohlenem Spott in der Stimme und gießt nur halb voll. Doch immer, wenn sein Gegenüber nicht hinsieht, füllt er ein bisschen nach.
Die Dunkelheit nähert sich unabwendbar.

Es dauert gar nicht lange, da ist die halbe Flasche leer. Paul wird lockerer und macht sogar Späßchen. Die sind zwar nicht lustig, aber der Abend ist noch jung. Wird schon werden, denkt sich Martin.
Nach der ganzen Flasche kichert Paul unaufhörlich.
Martin geht zum Weinbrand über.
Als Paul das nächste Mal an seinem Becher nippt, zuckt er nur kurz. „Mhh, lecker, bisschen scharf im Abgang, trotzdem nicht schlecht“, trinkt aus und fragt: „Hast du noch mehr?“
„Selbstredend, lass ihn dir schmecken“, gibt Martin lachend zur Antwort, gießt dabei großzügig nach.
Nachdem sich nun auch der Weinbrand dem Ende zuneigt, erzählt Paul von seiner Caroline. Sie hat ihn verlassen. Er schluchzt leise. Martin sieht ihm unbehaglich zu, wie der letzte Rest an Zurückhaltung von ihm abfällt, als er hemmungslos losheult.
Kann den nicht mal jemand abstellen, fleht Martin gen Himmel.
Paul kauert sich zusammen, richtet seinen bettelnden Blick auf den neugewonnenen Freund, krabbelt näher, legt obendrein seinen Kopf trostsuchend in Martins Schoß, so dass dieser angeekelt aufspringt. Als Paul sich gar an ihm hochzieht, verpasst er ihm einen wütenden Fußtritt in die Seite.
Martin schwankt verwundert, hat sich für trinkfester gehalten. Er wedelt haltsuchend mit den Armen, fällt nach vorne, findet sich plötzlich auf Paul wieder, der rücklings auf der Erde liegt, seine Hände fest um dessen Kehle geschlungen.
Paul röchelt nach Luft, versucht derweil angestrengt sich aus Martins Umklammerung zu lösen, ehe seine Arme kraftlos noch unten sinken. Mit den Fingern tastet er panisch über den steinigen Boden, wo noch das aufgeklappte Taschenmesser liegt. Es scheint nur auf Paul zu warten, schlingert hin und her, doch seine Fingerspitzen nähern sich ihm unaufhaltsam. Endlich fasst er zu, rammt seinem Peiniger die Klinge sogleich ungebremst in den Oberschenkel.
„Scheiße“, tut das weh. Martin schreit. Instinktiv rollt er sich über die unversehrte Seite von Paul herunter, starrt verblüfft auf den Griff, der aus seinem Bein ragt, atmet tief ein und zieht die Klinge, lauthals brüllend, mit einem Ruck, heraus.
Paul keucht, sein Atem geht stoßweise. Auf allen Vieren versucht er sich in Sicherheit zu bringen, kriecht auf die jetzt verheißungsvoll geöffneten Flügel der Kirchentür zu. Von drinnen lockt warmer Kerzenschein. Die Luft riecht nach Weihrauch.
Martin erhebt sich schwerfällig, jagt Paul humpelnd hinterher, schiebt sich schließlich mit dem Rücken vor das Portal, versperrt den Weg. Paul, noch immer am Boden, hebt den Kopf und blickt angstvoll in das vor ihm aufragende, verzerrte Gesicht.
Martin knurrt: „Gott hat heute keine Zeit“, krallt sich unterdessen, mit seiner linken Hand, vorne an Pauls Hemdkragen fest. Ohne seinen Griff zu lockern weicht er Schritt für Schritt, Meter um Meter kraftvoll zurück, sieht die Sitzreihen an sich vorüberziehen. Er stoppt erst, als er letztendlich den Altar in seinem Rücken spürt. Paul kniet vor ihm, versucht sich aufzurichten, aber seine Beine versagen ihm den Dienst.
Martins rechte Hand hält noch immer das Messer. Es wiegt schwer. Er erhebt es und richtete seine Augen nach oben. „Dir zum Wohlgefallen“, dabei dröhnt sein Lachen durch den Innenraum, getragen von einem eiskalten Luftzug, der durch die Bankreihen streift. Die Kerzen flackern.
Martin sticht zu. Einmal, zweimal, dreimal … Er stößt das Messer zwischen die Rippen, in den Bauch, erwischt die Halsschlagader…
Paul stöhnt auf, wimmert, schaut ihn zum Schluss nur noch mit schreckensgeweiteten Augen an, als seine flehend erhobenen Arme herabsacken, bevor sein Körper schließlich zusammenbricht und erschlafft liegen bleibt. Einem Opfertier gleich blutet er lautlos aus zahlreichen Wunden.
Martin steht unschlüssig daneben, aller Kraft beraubt, mit hängenden Schultern und vernebelten Blick, eingehüllt in den umherziehenden Rauch der erlöschenden Kerzen.
Es ist still.

Seinen Aufschrei schlucken die Wände, während er hilflos zusieht, wie sich das Blut auf dem Steinfußboden verteilt, dort unmittelbar versickert, als würde es begehrlich aufgesogen, plötzlich erneut hervorquillt, umlodert von kleinen Flammen. Sie knistern, kriechen demütig über Pauls Haut, nehmen nach und nach den gesamten Körper in Besitz. Der Gestank von verbranntem Fleisch und verkohlten Haaren, gemischt mit dem Synthetikgeruch der Kleidung, steigt Martin in die Nase. Ihm wird schlecht. Wie gelähmt fällt jetzt er auf die Knie, wartet darauf, dass der feurige Leib vor ihm zu Asche zerfällt, kann sich nicht bewegen.
Pauls lidlose Augäpfel starren ihn an, fixieren seinen Blick. Die versengten Lippen formen fast unhörbar ein Versprechen: „Gottes Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“, während sich seine glühende Hand ganz langsam in Martins Richtung ausstreckt.
Die Flammen züngeln ungeduldig in der Dunkelheit empor.


Version 2
Stand: 24.04.2015

Letzte Aktualisierung: 24.04.2015 - 20.19 Uhr
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