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Mord und Totschlag | April 2015

Drei Minuten
von Monika Heil

Zwei Schüsse peitschen in die Stille des erwachenden Morgens. Die ersten Vögel, die den Tag begrüßen wollen, verstummen abrupt.
Zwei Schüsse.
Henry lässt die Waffe fallen und bewegt sich - fast in Zeitlupe - auf das weit geöffnete Fenster zu. Der Rückzug durch das Haus ist ihm versperrt. Er schwingt sich geräuschlos über die Fensterbrüstung, drückt die Hände in die Rahmen und verharrt einen Moment regungslos mit geschlossenen Augen. Vorsichtig tastet er sich kurz darauf weiter bis seine Füße den notwendigen Halt finden. Langsam, fast behutsam, steht er auf, tritt einen kleinen Schritt zur Seite und presst seinen Rücken an die Hauswand. Jetzt braucht es nur noch wenige, sorgfältig gesetzte Schritte Richtung Fallrohr.

Und plötzlich geht nichts mehr.
Wie festgefroren steht Henry auf dem brüchigen Sims. Seine Füße scheinen jegliche Mitarbeit zu verweigern.
Zwei Schritte.
Mehr braucht es nicht.
Seine schweißnassen Finger tasten über die Hauswand. Die feuchten Sandsteinfugen bieten nicht wirklich Halt.
Schweratmend verharrt er dennoch.
Schweißperlen rinnen über seine Stirn. Er kann sie nicht entfernen. Gefühle überrollen ihn wie ein Gewittersturm und bilden sich in der Mimik seines blassen Gesichtes ab. Eva, die Frau seines besten Freundes. Verlangen, Leidenschaft und Eifersucht lodern wie Feuer in seinen dunklen Augen. Eine Woge der Wut überrollt ihn, Wut auf Andreas, der einmal sein bester Freund war. Er presst die Zähne fest aufeinander, bis seine Kiefer schmerzen und vor Anstrengung zittern. Seine Lippen bilden einen schmalen weißen Strich.

Eine, zwei Minuten vergehen. Henry trifft seine Entscheidung. Seine Miene spiegelt die Verwandlung. Traurigkeit, Resignation, Aufgabe. Seine Körperhaltung protestiert. Nein, er wird nicht in die Hände der Polizei fallen.
Er wird hinunterspringen.
Jetzt.
Evas Drohung, ihn zu verlassen, war vergeblich. Der Himmel wird sie vereinen.

Erneut schließt er die Augen, entspannt seine verkrampfte Kiefermuskulatur. Ein letztes sarkastisches Lächeln nistet sich in seinen Mundwinkeln ein. Er atmet tief - ein, aus, ein - und öffnet die Augen, die wie Kohlen glühen. Die dunkle Silhouette des Kiezkönigs beginnt zu schwanken und ...

»Okay, das war´s, Jungs. Holt ihn rein. Den Rest macht der Stuntman. Super, Joe. Deine Mimik war oskarreif. Das macht dir so schnell keiner nach.«
Der Regisseur hebt den Daumen und grinst hochzufrieden.

Version 2

Letzte Aktualisierung: 10.04.2015 - 11.02 Uhr
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