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Liebeskummer | Mai 2015
Liebesbrief
von Ingo Pietsch

Wenn Mia aus ihrem Fenster sah, konnte sie auf die blühende Krone des alten Kirschbaums blicken, der mitten im Garten ihrer Eltern stand.
Ihr Schreibtisch war vollgestellt mit kleinen Eulenfiguren, die sie auch rund um den leeren Briefblock aufgereiht hatte, und mit denen sie spielte, bis sie die richtigen Gedanken fand, den Brief zu beginnen.
Dieser Brief war sehr wichtig für sie: Er würde ihr Leben verändern.
Die Fünfzehnjährige war verliebt – eine verbotene Liebe, eine vergebliche Liebe.
Ihr Angebeteter wusste nichts davon, doch das wollte sie ändern. Er sollte wissen, was sie für ihn empfand, obwohl sie die Konsequenzen kannte – denn der Mann, in den sie sich verliebt hatte, war ihr Klassenlehrer.
Langsam versank die Sonne am Horizont. Leuchtend rote Strahlen bahnten sich ihren Weg durch die Kirschblüten. Mia musste mehrmals blinzeln. Sie rieb sich Augen und gähnte. Es war noch gar nicht so spät, trotzdem war sie unheimlich müde.
Sie hielt in einer Hand einen altmodischen Federkiel und hatte immer noch keine Idee, was genau sie denn schreiben wollte.
Im Hintergrund rieselte leise Musik aus einem Radio.
Mia nahm das nur unterbewusst wahr, so konzentriert war sie.
Die Gefühle für Rainer, ihren Klassenlehrer, waren erst mit der Zeit gewachsen.
Es war etwas passiert, das sie sich nicht erklären konnte.
Sie fuhr sich mit der Feder übers Gesicht und stellte sich dabei vor, es sei Rainers Hand, die sie zärtlich streichelte.
Mias erste feste Beziehung war mit einem Jungen aus einer höheren Klasse gewesen. Er war zwei Jahre älter als sie. Mit ihm hatte sie ihren ersten Kuss gehabt. Die Erinnerung daran ließ sie allerdings frösteln. Sie hatte immer noch den Geschmack von Zigarette im Kopf und dass er mit seiner Zunge in ihrem Mund herumgestocherte hatte.
Erdbeeren, schrieb sie auf das Blatt. So stellte sie sich einen Kuss von Rainer vor. Wie sonnenerwärmte, süße, saftige Erdbeeren musste er schmecken.
Sie schrieb noch mehr. Der Brief nahm Form an. Die Feder kratzte über das Papier.
Mia schreckte auf, als ein Windstoß weiße Blüten durch ihr geöffnetes Fenster schickte. Es schien, als schneie es. Mia stand auf und schloss die Flügel. Ihr war schwindelig. Sie klammerte sich an den Tisch und warf dabei ein paar Eulen um.
Sie atmete tief durch und setzte sich wieder. Der Brief musste unbedingt fertig werden, bevor sie einschlief.
Erneut tauchte die die Feder ein und dachte nach.
Rainer war verheiratet. Aber Mia wusste, dass er seine Frau für sie verlassen würde. Sie war sich ganz sicher.
Die Jungen in ihrem Alter waren alle nur dumme Kinder, die keine Ahnung davon hatten, wie man mit Gefühlen umgehen musste. Ihr Ex-Freund hatte mit ihr immer vor seinen Freunden angegeben und sonst was behauptet, obwohl außer dem einen Kuss nichts zwischen ihnen gelaufen war.
Rainer war da anders. Er war so liebevoll, schimpfte kaum und hatte immer ein offenes Ohr.
Mia fühlte immer noch das Kribbeln, als Rainer sie zum ersten Mal berührt hatte. Und die Berührung hatte nur ihr gegolten. Es war ein Lob für einen außerordentlich guten Aufsatz gewesen. Beim Austeilen hatte er ihre Schulter gedrückt.
Und Mia hatte das als Zeichen wahrgenommen.
Mias Augen wurden immer schwerer. Sie kaute auf einem Kaugummi, um sich wachzuhalten. Vor ihr auf dem Tisch stand ein kleiner Becher mit Tabletten, die sie ihrer an Muskelschmerzen leidenden Mutter entwendet hatte. Fünf oder sechs fehlten bereits.
Das Gedudel im Radio nervte. Mia schaltete auf etwas Schnelleres um.
Sie schaffte es, zwei weitere Sätze zu schreiben.
Die Sonne war fast untergegangen.
Mias Schrift wurde immer unleserlicher. Sie konnte kaum noch etwas erkennen.
Nie wieder würde sich jemand über sie lustig machen, weil sie pummelig war oder eine Zahnspange trug. Jetzt hatte sie ja einen starken Beschützer an ihrer Seite: ihren Rainer.
Mia schrieb immer weiter, auch wenn sie nicht mehr wusste, was sie eigentlich zu Papier brachte.
Ihr Arm, mit dem sie ihren Kopf stützte, rutschte weg. Dabei hieb sie ihren Zimmerschlüssel, die Fernbedienung ihrer Stereoanlage und ein Modellbau-Skalpell vom Tisch.
Mias Kopf schlug auf dem Tisch auf. Die Eulen vor ihr verschwammen. Ihr wurde schwarz vor Augen und trotzdem glaubte sie in ein weißes Licht zu sehen.
Sie fröstelte und gleichzeitig wurde ihr warm.
Die Fernbedienung landete auf der Lautstärketaste und die Musik schallte durchs ganze Haus.
Mia vernahm nur einen durchgängigen Pfeifton.
Ihren Vater hörte sie weder rufen, noch wie er an ihre die Tür trommelte.
Dann kam die Erkenntnis: Rainer würde ihre Liebe nicht erwidern. Er war nur ein Lehrer, sie eine Schülerin. Mia war alt genug, dies zu erkennen. Keine gemeinsame Zukunft. Keine Küsse. Keine Nähe. Mia war in ihrer eigenen Welt gefangen. Sie hatte niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Nicht einmal ihren Eltern.
Der Brief würde Rainer nicht erreichen, würde niemanden erreichen.
Das Blut, das aus ihrer offenen Pulsader strömte, färbte bereits das halbe Blatt. Die Worte, mit dem gleichen Blut geschrieben, waren mit dem Untergrund verschmolzen. Dank der Tabletten fühlte Mia keinen Schmerz. Der Schnitt war so einfach gewesen. So einfach, wie sich vorzustellen, man habe den perfekten Partner gefunden.
Mias hektischer Atem wurde mit jedem Luftholen ruhiger. Dann setzte ihr Herz aus – im selben Moment, in dem ihr Vater die Tür eintrat.

Letzte Aktualisierung: 20.05.2015 - 20.19 Uhr
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