Ganz schön bissig ...
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Liebeskummer | Mai 2015
Eva M. (32) geschieden
von Monika Heil

Er ist viel zu kaputt, um sich weitere Gedanken zu machen über die Ereignisse dieses Tages, über Eva, seine Exfrau. Seit einem Jahr sind sie geschieden. All die Monate waren sie sich nicht begegnet. Auch wenn sie in einer Millionenstadt lebten, war es eher unwahrscheinlich, dass sich ihre Wege nie mehr gekreuzt hatten. Nicht in der U-Bahn, nicht beim Einkaufen, nicht im Kino oder im Restaurant. Er kannte nicht einmal ihre neue Adresse. Und heute ...
Nicht nachdenken. Morgen. Vielleicht.
Er holt sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank, angelt nach der Tageszeitung, schaltet das Radio ein. Schlager, alte Schlager. Nicht nachdenken.
„The end of our Love...”
Mit einem wütenden Hieb bringt er die Stimme zum Schweigen. Zufall?
Er wechselt ins Wohnzimmer, setzt sich auf die Couch. Die neue Couch, auf der bisher noch niemand anderes gesessen hat. Er schaltet das Fernsehgerät ein, bekommt gerade noch den Abspann des Spielfilms mit. Evas Lieblingsfilm.
„Scheiße!“
Die nachfolgenden Sendungen verschläft er im Sitzen. Der Tag schleicht sich in seinen Traum.

Eva sitzt neben ihm. Sie sieht genauso aus wie damals. Sie trägt den selben dunkelblauen Hosenanzug, die selbe Streifenbluse, Schuhe mit viel zu hohen Absätzen. Ihre dunklen Haare hat sie streng zurück gekämmt. Ihre braunen Augen sind stark geschminkt. Elegant und fremd sieht sie aus. Wie am Tag ihrer Scheidung. Seither hat er sie nie wieder gesehen.

Das ist nicht wahr. Er hat sie gesehen. Heute. Auf dem Fenstersims im dritten Stock. Bahnhofstraße 83. Er hat sie gesehen, als er mit den Kameraden das Sprungtuch ausrollte, als er hinauf sah zu der Frau, die drohte, sich umzubringen. Obwohl er nicht wusste, wo seine Ex-Frau jetzt wohnte, erkannte er sie sofort. Sagte nichts. Zu niemanden. Er tat seine Pflicht als Feuerwehrmann. Als Ehemann hat er keine Pflichten mehr.

Die Liebe ist vorbei.
Der Kummer bleibt.

Er hat noch einmal hinauf gesehen zu dem geöffneten Fenster und plötzlich erkannte er, dass sie nicht springen würde. Heute nicht. Menschenkenntnis? Psychologie? Langjährige Vertrautheit? Er machte sich darüber keine Gedanken. Schweigend sah er zu, wie ein junger Polizist sie wenig später vom Fenster weglockte, rollte mit den Kameraden das Sprungtuch ein, während sie auf einer Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Sie bemerkte ihn nicht, ihn nicht und auch nicht die Gaffer, die sensationslüstern hinter der Absperrung gefangen waren, die um sich schauten, ob sie eine Kamera fanden, in die sie ihre Version des Geschehens hineinlächeln konnten.

Was war denn geschehen? Was wussten die Menschen, die der Zufall an den Rand dieser Szene gespült hatte über diese Frau? Nichts. Sie kannten nicht einmal ihren Namen. Den kannte nur Alexander und der schwieg.
Krankenwagen, Polizei, Feuerwehr, alle rückten wieder ab. Die Menschenmenge verlief sich. Der Großstadtverkehr nahm seine tägliche Routine wieder auf.

Und nun sitzt sie in seinem unruhigen Traum neben ihm auf der Couch, sieht ihn mit schmalen müden Augen an und schweigt. Was gibt es noch zu sagen nach zwölf Monaten Stille? Fünf Jahre hat ihre Ehe gedauert. Seit einem Jahr sind sie geschieden. Damals haben sie ihre gemeinsame Sprache eingefroren, waren auseinander gegangen, jeder in ein eigenes einsames Leben.

Ihre Liebe war vorbei.

Warum ist sie heute wieder in sein Leben getreten? Warum spielt das Radio ihr Lied? Warum sitzt sie neben ihm auf der Couch?

***

Eva hat ihn gesehen. Nicht als sie oben auf dem Fenstersims stand – verzweifelt und voller Angst. Da sah sie nur blaue Uniformen, kräftige Arme, die das Sprungtuch hielten, die ihr helfen wollten. Stand Alexander dort unten? Wenn nicht, würden sich vielleicht seine Kameraden an sie erinnern, würden ihm Bericht erstatten. Dann würde er kommen. Sie hatte es ein Jahr lang nicht ohne ihn ausgehalten. Jetzt konnte sie es nicht mehr ertragen, dieses Leben ohne Alexander.

Nichts war vorbei.

Eva hat ihn gesehen, als die Sanitäter sie an ihm vorbei trugen. Er schien in seine Arbeit vertieft, interessierte sich nur für das Material in seinen Händen, hatte keinen Blick für die Menschen um ihn herum. Dann, für den Bruchteil einer Sekunde, glaubte sie, er schaue zu ihr herüber. Oder war das wieder nur Einbildung? Wie so oft im letzten Jahr?

Sie hatte Zeit, sehr viel Zeit seit Alexander sie verlassen hatte. Sie folgte ihm. Sie verfolgte ihn. Er hat sie nie gesehen. O ja, sie war geschickt. Er hatte all seine Gewohnheiten beibehalten. Er kaufte im selben Supermarkt ein, tankte an der selben Tankstelle, ging zum selben Friseur, holte am selben Kiosk seine Zeitungen, war einmal sogar in ihrem gemeinsamen Lieblingslokal gewesen. Danach nie wieder. Sie war oft in seiner Nähe gewesen. Er hat sie nie entdeckt. Sie verbarg sich hinter Säulen oder Regalen, beobachtete ihn von der anderen Straßenseite aus, versteckte sich im Strom der Passanten. Viele Stunden verbrachte sie nachts vor seinem Haus. Eine neue Freundin gab es nicht. Jeden Abend saß er allein auf seiner Couch und sah fern. Es sei denn, er hatte Spätschicht. Dann blieb sie zu Hause in ihrem winzigen Ein-Zimmer-Appartement – eine Riesenübertreibung für dieses Loch direkt unterm Dach, in das kaum Tageslicht fiel, das nur mit dem möbliert war, was das Sozialamt genehmigte. Kein Fernseher, kein Telefon, nur das Notwendigste.

Doch. Eva hat ihn gesehen, als sie wieder unten war, unten auf der Strasse und nicht mehr dort oben auf dem Fenstersims. Warum war sie nicht gesprungen? Apathisch hatte sie die Augen geschlossen. Der Notarzt hatte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt.

***

Schon vier Stunden später wird sie aus dem Krankenhaus entlassen. Über die weitere Behandlung muss das Sozialamt entscheiden – der Kosten wegen. Das Krankenhaus wird ein ärztliches Gutachten erstellen. Morgen soll sie sich ihrem Hausarzt vorstellen. Der kennt sie seit Jahren. Er wird ihr weiterhelfen, verspricht man ihr. Sie ist seit mehr als einem Jahr nicht in seiner Praxis gewesen.

***

Ein Geräusch auf der Straße reißt Alexander aus seinem unruhigen Schlaf. Er blickt neben sich und bemerkt, dass er allein auf der Couch sitzt.
Die Spätnachrichten flimmern über den Bildschirm. Eva! Sie springt. Die Kamera zoomt in eine erstarrte Menschenmenge. Das Sprungtuch ist noch nicht entrollt.

***

Zur selben Zeit sitzt Bodo Sattler in der Redaktion seiner Zeitung und verfasst seine Artikel für die nächste Ausgabe.
Eva M. (32) geschieden...

Letzte Aktualisierung: 07.05.2015 - 18.22 Uhr
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