Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Liebeskummer | Mai 2015
Nachhilfe
von Karin Welters

„Bist du verrückt geworden?“ Fassungslos war Rebecca stehengeblieben. Mit einer unwirschen Handbewegung quetschte sie eine der langen, blonden Strähnen hinter ihr Ohr. „Du kannst doch nicht aufgeben, bevor du angefangen hast!“
„So geht es aber nicht mehr weiter“, erwiderte Linus. Auch er war stehengeblieben. Er hielt den Kopf gesenkt und die Traurigkeit in seiner Stimme war unüberhörbar. Tränen schimmerten in seinen Augen, als er sie anschaute. „Sie merkt es nicht einmal.“
Ärgerlich packte Rebecca ihn am Arm. Am liebsten hätte sie ihn geschüttelt. „Wie soll Ramona denn merken, dass du sie liebst? Du schleichst um sie herum wie ein paranoider Geist. Du sprichst sie nicht einmal an!“
„Ich schaffe es nicht, Rebecca“, entgegnete er. „Ich kriege meine Hemmungen nicht in den Griff. Die Angst, sie könnte sich über mich lustig machen, ist einfach zu groß. Das würde ich nicht überleben.“
„Ach, Bruderherz“, seufzte Rebecca, „irgendwann musst du deine Schüchternheit überwinden.“
„Du hast gut reden. Du kennst solche Probleme nicht. Ramona ist das hübscheste Mädchen auf der Schule und die Jungs schwirren um sie herum wie die Motten um die Lampe. Sie kann sich jeden aussuchen. Warum sollte sie also ausgerechnet mich bemerken?“
„Wenn du weiterhin derart negativ über dich denkst, wirst du deine Scheu nie überwinden. Wie lange willst du denn noch leiden? Seit einem halben Jahr stirbst du fast vor Sehnsucht. Aber – dein Liebeskummer ist hausgemacht! Wie willst du jemals herausfinden, ob sie nicht gerade auf dich wartet?“
„Was habe ich ihr zu bieten? Die anderen haben schon ihren Führerschein gemacht und dürfen das Familienauto am Wochenende benutzen. Sie tragen die neuesten Klamotten mit den entsprechenden Labels und sind Mitglied im angesagten Tennisclub.“
„Pah! Alles nur Oberfläche, mein Lieber. Du aber hast etwas zu bieten, was diesen aufgeblasenen Gockeln abgeht. Du hast Loyalität, Ehrlichkeit, Integrität und Einfühlungsvermögen vorzuweisen – Eigenschaften, die nicht käuflich sind. Ich kenne deine Qualitäten. Mir kannst du nichts vormachen.“
Linus drehte sich um und setzte den Spaziergang im Stadtwald fort. Rebecca musste sich beeilen, um ihn einzuholen. Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her.
„Da drüben ist eine Bank“, bemerkte Rebecca und zeigte auf die aus Baumstämmen grob behauene Sitzgelegenheit. „Komm, wir setzten uns einen Moment.“
Rebecca sah ihren drei Jahre jüngeren Bruder von der Seite an. Seine Trauer, sein offensichtlicher Liebeskummer und seine Ratlosigkeit rührten sie. Liebevoll strich sie über seine kurzen, blonden Stoppelhaare. „Du bist so ein feiner Kerl, Linus. Du weißt offenbar nicht, dass den meisten Mädchen das Gehabe von diesen Machos auf die Nerven geht. Die heutigen Mädels wollen einen Freund, mit dem sie auf Augenhöhe reden können. Sie wünschen sich, als gleichwertige Gesprächspartner ernst genommen zu werden. Diese Angeber sind dazu überhaupt nicht fähig! Die wollen nur bewundert und in ihrer Eitelkeit angehimmelt werden.“
„Aber“, wehrte Linus ab, „vielleicht gehört Ramona zu den Mädchen, die gern ausgeführt und am Wochenende im Auto herumkutschiert werden, die in der Disko ausgehalten werden wollen.“
Rebecca schloss die Augen und überließ sich der Wärme des Spätsommers an diesem Sonntagnachmittag. Sie hörte das fröhliche Lachen der Familien, die mit ihren Kindern ihre Freizeit verbrachten. Hundegebell mischte sich mit dem Zwitschern der Vögel und Fahrradklingeln ertönten, wenn ihre Benutzer Spaziergänger auf sich aufmerksam machten.
Hoffentlich geht mein Plan auf, dachte Rebecca. „Ich muss mal eben zur Toilette“, sagte sie und erhob sich. „Ich bin gleich zurück.“
Sie wartete Linus‘ Antwort gar nicht erst ab und ging mit festem Schritt in Richtung des Häuschens, in dem die öffentlichen WCs untergebracht waren. Das Mädchen mit den roten Locken, in kurzen Jeans und T-Shirt, wartete bereits hinter dem Gebäude.
„Schön, dass du gekommen bist“, begrüßte Rebecca die Jüngere.
„Ich habe zu danken“, lächelte das hübsche Mädchen und zeigte zwei überaus niedliche Wangengrübchen.
„Sollen wir?“, fragte Rebecca.
„Na klar!“
Die beiden umrundeten den Park und kamen nach einer Weile zu der Bank, auf der Linus auf seine Schwester wartete. Er hatte sich ausgestreckt und, wie Rebecca erkennen konnte, die Augen geschlossen.
„Na, Bruderherzchen“, sprach sie ihn an, „wovon träumst du?“
Ohne die Augen zu öffnen oder sich aufzurichten, erwiderte er: „Von Ramona. Ich glaube nicht, dass sie mich je ernst nehmen wird. Dazu bin ich einfach viel zu unscheinbar. Sie hat einen Freund verdient, der ihr gewachsen ist. Einer, der ihr das Wasser reichen kann.“
„Komm, lass mich sitzen“, meinte Rebecca und schob ihn zur Seite.
„Entschuldige“, murmelte er. Das Mädchen mit den roten Locken hatte sich an einen etwas abseits stehenden Baumstamm hinter der Bank niedergelassen – außerhalb von Rebeccas und Linus‘ Blickfeld.
Rebecca legte ihren Arm um Linus‘ Schultern. „Wenn du jetzt mit ihr sprechen könntest, was würdest du ihr sagen?
„Ach, Rebecca. Wenn sie jetzt vor mir stünde – ich brächte keinen Ton hervor. Mein Hals wäre wie zugeschnürt und in meinen Ohren brauste es. Immer, wenn ich in ihre Nähe komme, fängt mein Herz an zu hämmern, dass ich es in den Schläfen spüre. Nein! In ihrer Nähe bekäme ich kein Wort raus.“
„Nun gut“, erwiderte Rebecca, „aber im Moment steht sie nicht vor dir. Also – was würdest du ihr sagen, wenn du deine Hemmungen, deine Scheu und deine Schüchternheit überwinden könntest? Was würdest du ihr sagen, wenn du frei von der Leber reden könntest? Jetzt!“
Rebecca sah, wie er nach Worten suchte. Wie er überlegte. „Ich würde ihr sagen, dass ich sie toll finde. Dass sie mich fasziniert. Dass ich ihre grünen, strahlenden Augen mag. Und dass ich mit ihr ein Eis essen gehen möchte.“
„Mehr nicht?“
„Nein, Rebecca. Mehr nicht. Ich möchte sie auf keinen Fall überrumpeln oder sie bedrängen. Ich möchte sie kennenlernen und ich wünsche mir, dass auch sie mich näher kennenlernen möchte, bevor wir … na du weißt schon. Weil ich es wirklich ernst meine, möchte ich uns Zeit lassen. Ich will jede Sekunde des Zusammenseins genießen, mich in sie einfühlen. Ich würde ihr zuhören, weil sie mich interessiert.“
„Und was würdest du tun, wenn sie ja sagt? Wenn sie mit dir ein Eis essen ginge?“
Linus brachte ein schiefes Grinsen zustande. „Wahrscheinlich würde ich rot anlaufen und nach dem Mauseloch suchen, in das ich mich verkriechen kann.“
„Wovor hast du Angst, Linus?“
„Dass ich mich lächerlich mache“, erwiderte er, ohne zu zögern. „Dass ich dummes Zeug rede und anfange zu stottern. Dass ich einen Volltrottel abgebe, vor dem sie das Weite sucht und mich nie wieder von der Seite anschaut.“ Nach kurzem Zögern fuhr er fort: „Und dass sie sich hinter meinem Rücken über mich lustig macht. Vielleicht kichert sie dann mit ihren Freundinnen über mich und macht mich vor allen unmöglich.“
„Glaubst du wirklich, dass sie zu dieser Sorte Mädchen gehört?“
Linus schaute seine Schwester an. „Eigentlich nicht. Aber – ich weiß es ja nicht.“
„Und wie willst du es je herausfinden, wenn du dich nicht traust? Wenn du lieber in deinem Liebeskummer ertrinkst, statt den Stier bei den Hörnern zu packen?“
Linus sah auf den Boden, als fände er dort die Antwort. Nach einer Weile flüsterte er: „Ich weiß, Rebecca. Ich weiß. Aber – in mir tobt ein Krieg zwischen Sehnsucht und Angst, bei dem ich auf jeden Fall auf der Strecke bleibe.“
„Du kannst mir glauben, Linus“, erwiderte Rebecca, „dieser Krieg begegnet dir noch oft in deinem Leben. Immer wieder gerätst du in solche Situationen. Deshalb ist es wichtig, die Angst zu überwinden. Es ist ein lebenslanger Kampf, den wir Menschen wohl ausfechten müssen.“
„Woher willst du das wissen? So viel älter bist du nun auch nicht.“
Rebecca schmunzelte. „Nein. Aber Carola, unsere liebe, große Schwester, ist immerhin fast zehn Jahre älter als ich. Sie muss es wissen und hat es mir neulich gesteckt.“
„Ach du Schei…“
„Sag es nicht! Nimm es einfach nur wie es ist. Je eher du anfängst, deine jetzige Angst zu überwinden, desto leichter fällt es dir beim nächsten Mal. Außerdem … woher willst du wissen, ob deine Angst überhaupt berechtigt ist?“
„Das ist es ja! Wenn ich es weiß, ist es zu spät. Dann hat sie mich vielleicht schon ausgelacht.“
„Na und? Dann war sie die Angst nicht einmal wert, oder? Und dein Liebeskummer hat sich dann auch erledigt.“
Rebecca beobachtete, wie es in ihrem Bruder arbeitete. Offensichtlich dachte er über das nach, was sie gesagt hatte.
„Weißt du, Schwesterchen“, meinte er zögernd, „auch, wenn du wahrscheinlich Recht hast – vielleicht ist der Liebeskummer der Preis für die Ungewissheit. Aber in der Ungewissheit liegt immer noch ein bisschen Hoffnung.“
„Hoffnung? Ich sehe in dem, was du Hoffnung nennst, eher eine Selbsttäuschung. Versuchst du, dir die Selbsttäuschung als Hoffnung zu verkaufen?“
Als Linus nicht antwortete, fuhr sie fort: „Vor allen Dingen hältst du dich in einem ungewissen Zustand gefangen. Du selbst kettest dich dadurch an das Unglücklichsein. Wenn Ramona sich über dich lustig macht, dann lass sie los. Befreie dich von deiner Angst, sonst beraubst du dich der Freiheit, offen für ein anderes Mädchen zu sein.“
„Warum macht ihr euch so einen Kopf?“, fragte eine Stimme plötzlich. Das Mädchen mit den roten Locken umrundete die Bank, stemmte die Hände in die Seite und baute sich vor Linus auf.
„Ramona!“, rief Linus erschrocken aus und war im Nu auf den Beinen. „Was machst du denn hier?“
„Deine Schwester hat Recht, Linus. Wenn ich so wäre, wie du es befürchtest, wäre ich keinen Pfifferling wert. Du wärst bescheuert, auf so eine Tussi zu warten. Aber mir, Linus, mir solltest du eine Chance geben.“
Ramona zog Linus auf die Bank. Rebecca war aufgestanden und hatte sich auf den Heimweg gemacht. Noch einmal drehte sie sich um und sah die beiden mitten in einem lebhaften Gespräch. Rebecca lächelte vergnügt.

Letzte Aktualisierung: 21.05.2015 - 07.26 Uhr
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