Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Mein Freund, der Baum | Juni 2015
Haus - Baum - Kind - Nichts mehr
von Anne Zeisig

Das Dröhnen, Knattern und Brummen bahnt sich an diesem Morgen lautstark den Weg zur Einfahrt hoch und . . .

* * *

Linda ging langsam über den Friedhofsparkplatz zum Eingang. Mit dem Rheuma wurde es auch nicht besser. Sie hatte an der Gießkanne und den Stiefmütterchen schwer zu tragen. Das Frühjahr war bis jetzt besonders trocken gewesen.
Der Hauptweg zog sich endlos in die Länge, war aber jetzt, wo die Forsythien leuchtend gelb blühten, eine Augenweide. Die meisten Gräber waren bereits für Ostern herausgeputzt.
Endlich erreichte sie ihr Ziel. Die vertrocknete Heide bot einen traurigen Anblick.
“Ach, lass doch sein”, hörte sie Edgar sagen, “ich habe nichts mehr davon und für die Nachbarn musst du mein Grab nicht herrichten. Genieße lieber unseren Garten und pflanze die Blumen dort ein.”
Sie riss die verblühten Herbstpflanzen heraus und steckte sie in eine Tüte. Linda stöhnte. “In deinem Garten kann nichts mehr blühen. Es fehlt das Sonnenlicht. Die alten Bäume nehmen jedem noch so kleinen Blümchen das Licht zum Gedeihen. Und mir fehlt die Kraft zur Pflege.”
Als sie die Frühlingsblüher einsetzte, muss Linda lächeln.
Den ersten richtigen Ehekrach hatte es seinerzeit gegeben, als es nach der Hausrenovierung daran ging, den Garten herzurichten. Sie hätte gerne Immergrünes um sich herum gehabt und viel Rasen, aber Edgar meinte, das gleiche einer Friedhofsbepflanzung.
Also hatte er sich durchgesetzt und es gab Stauden, viele Blühsträucher, Obstbäume, Fichten und als Mittelpunkt eine Birke!
Jawohl! Eine Birke! Einen Baum, der sogar auf Brachflächen wie Unkraut wuchert und auch in einer Dachrinne mit wenig Erde wachsen kann.
“Das ist aber eine Rotlaubige!”, hatte ihr Edgar fröhlich mit roten Wangen verkündet, weil sie wunderbar zur roten Blutberberitze passen würde, die den Vorgarten einfriedete.
Sein Garten war sehr pflegeintensiv, Edgar gönnte ihm jede Minute seiner Freizeit und vergaß alles andere, wenn er mit der Pinzette Unkraut aus dem Rasen pickte.
Der Wind wehte den Duft von Lavendel, Kräutern und Ziergehölzen ins Haus.
“Haus gebaut, Baum gepflanzt, Kind gezeugt!”, war seine erste Reaktion auf Lindas Schwangerschaft, obwohl er kein Kind wollte. Und doch baute er ein wunderschönes Baumhaus samt Klettergerüst, damit ‘das Kind’ nicht auf seinem Zierrasen spielen würde.
Natürlich hielt sich die kleine Mia nicht an diese Anordnung, was immer wieder zu Konflikten zwischen ihnen geführt hatte.

* * *

Linda hatte endlich den Weg von der Wasserstelle bewältigt und schwemmte die Blumen ein. Wer weiß, wann es regnen wird.
Wie schnell die vielen Jahre doch dahingeflogen sind.
“Ein Garten ist nie fertig”, war Edgars Devise.
Selbst in der schwersten Zeit ihrer Ehe hatte der Spaten keine Ruhe vor ihm.
Damals war auch Frühling. Aber es war ein sonnenverwöhnter Tag.
Mia, ihre kleine Mia, war nicht in der Grundschule erschienen. Nie hatte man je ein Lebenszeichen von ihr gefunden. Sie war verschluckt worden. Einfach so. Von gleich auf Jetzt. Morgens gegen acht Uhr.
Keine Zeugen.
Nichts!
Linda konnte sich nicht mehr erinnern, wieviel Jahre sie in einem Schwebezustand gelebt hatten zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Trauer und dem Alltag, der gelebt werden musste als Normalität, die nicht normal war angesichts des Unfassbaren.
Edgar bot ihr keine Schulter zum Anlehnen, wenn sie sich wieder einmal in den Schlaf weinte, weil sie kein Kindergrab hatte als Trost für ihre tiefe Trauer, weil sie nichts hatte.
Nichts!
Und immer wieder überfielen sie diese Phantastereien, dass Mia eines Tages vor ihrer Tür stehen würde als erwachsene Frau und alles wäre erklärbar einfach und leicht.
Edgar ackerte auch oft nachts im Garten. Ihre Schlaflosigkeit und die Gefühlsausbrüche ertrug er nicht.
Hatte gleich nach Mias Verschwinden um die Birke herum ein Rondell mit Azaleen angelegt. Mias Baumhaus ließ er unberührt. Linda hätte es lieber abgerissen, so sehr schmerzte sie der Anblick.
Das Kinderzimmer schloss sie sofort ab.
Hatte es nie mehr betreten.
Linda hatte sich Vorwürfe gemacht, weil sie sich an diesem Morgen nach dem Nachtdienst im Krankenhaus sofort hingelegt hatte, anstatt Mia zur Schule zu bringen.
“Ich gehe in die dritte Klasse, Mama! Ich bin kein Baby mehr!”
Wie stolz sie winkte, als sie die Einfahrt hinunter gegangen war und ihre Zöpfe hatten witzig hin und her gewippt.

* * *

Linda erhob sich gebrechlich und blickte auf das Grab. “Sei mir nicht böse”, flüsterte sie, “aber es muss sein.”
Ein junger Gartenarchitekt aus der Nachbarschaft hatte ihr einen Plan erstellt für einen pflegeleichten Steingarten mit verschiedenen Kiesarten, Sukkulenten und einer großen Terrasse.
“Edgar, ich will mich dem Leben wieder positiv zuwenden. Es muss Schluss sein mit der Einsiedelei.”

* * *

Als sie in die Straße einbog, sah sie bereits, dass Bagger und Kran ganze Arbeit geleistet hatten. Die riesigen Bäume waren gefällt. Sie konnte bereits von hier aus das Dach des Hauses sehen.
Linda kam näher. Wie licht und hell das doch wirkte. Ihr Herz pochte vor Freude. So hatte sie es sich vorgestellt. Luft und Sonne konnten nun ans Haus gelangen.
Aber gegenüber parkte ein Polizeiwagen. Sie sah beim Näherkommen, dass die Einfahrt zum Haus mit einem Flatterband abgesperrt war.
Ob es Probleme gegeben hatte? Sie öffnete das Gartentor. Eine junge Frau lief auf sie zu und hielt sie fest.
“Aber ich bin die Eigentümerin!”, wehrte Linda sich. “Und ich habe eine Genehmigung zum Abholzen.”
Sie durfte unter das Band hindurch, die Frau hatte es ihr hochgehalten. “Wir sollten ins Haus gehen”, schlug sie vor, “die Gärtner haben uns angerufen.”
Als Linda die Wohnraumtür öffnete, verschlug es ihr wegen der Helligkeit die Sprache.
Sie ging zum Wohnzimmerfenster und blickte hinaus. Auch die Rotbirke war abgeholzt worden und endlich konnte Linda den Himmel sehen. Wo die Azaleen gestanden hatten, klaffte ein riesiges Loch.
Stand hinter der Hecke ein schwarzer Kombi?
Sie wurde zurückgehalten. “Bitte setzen Sie sich doch.”
“Sie müssen wissen, dass der Garten umgestaltet werden soll. Damit ich ihn besser pflegen kann. Hell und freundlich soll es werden.” Ihre Stimme überschlug sich und Linda blickte in die Augen dieser jungen Frau.
Dieser Blick verriet nichts Gutes.
“Ist einem Arbeiter etwas passiert?”, fragte sie zitternd.
Eigentlich wollte sie sich doch über die Veränderungen im Garten freuen. Darauf, dass es einen Grillplatz geben sollte, dass sie Nachbarn einladen würde, die ihre Kinder mitbrächten, wo ihr doch eigene Enkel nicht vergönnt waren wegen der Tragödie.
Zu lange hatten Edgar und sie wie Einsiedler gelebt.
Ihre Frage wurde verneint. “Die Gärtner haben ein Kinderskelett unter der Birke gefunden. Dort, wo die Azaleen standen.”
“Mia!”

* * *
. . . als erstes hat der Bagger sein Ziel erreicht, reißt den Dachstuhl ein, wo Mia ihr Zimmer hatte, frisst sich weiter bis zum Erdgeschoss.
Das alte Haus wehrt sich nicht.
Gleichzeitig rollt schweres Gerät durch den Garten und walzt alles nieder.
Die Lastkraftwagen fahren halbstündlich Bauschutt und Gehölze vom Grundstück, um dessen Verkauf sich ein Notar kümmern wird.
Edgars Grab hat Linda auch einebnen lassen.


© Anne Zeisig, Version ZWEI

Letzte Aktualisierung: 22.06.2015 - 07.19 Uhr
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