Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Das Dröhnen, Knattern und Brummen bahnt sich an diesem Morgen lautstark den Weg zur Einfahrt hoch und . . .
* * *
Linda ging langsam ĂŒber den Friedhofsparkplatz zum Eingang. Mit dem Rheuma wurde es auch nicht besser. Sie hatte an der GieĂkanne und den StiefmĂŒtterchen schwer zu tragen. Das FrĂŒhjahr war bis jetzt besonders trocken gewesen.
Der Hauptweg zog sich endlos in die LĂ€nge, war aber jetzt, wo die Forsythien leuchtend gelb blĂŒhten, eine Augenweide. Die meisten GrĂ€ber waren bereits fĂŒr Ostern herausgeputzt.
Endlich erreichte sie ihr Ziel. Die vertrocknete Heide bot einen traurigen Anblick.
âAch, lass doch seinâ, hörte sie Edgar sagen, âich habe nichts mehr davon und fĂŒr die Nachbarn musst du mein Grab nicht herrichten. GenieĂe lieber unseren Garten und pflanze die Blumen dort ein.â
Sie riss die verblĂŒhten Herbstpflanzen heraus und steckte sie in eine TĂŒte. Linda stöhnte. âIn deinem Garten kann nichts mehr blĂŒhen. Es fehlt das Sonnenlicht. Die alten BĂ€ume nehmen jedem noch so kleinen BlĂŒmchen das Licht zum Gedeihen. Und mir fehlt die Kraft zur Pflege.â
Als sie die FrĂŒhlingsblĂŒher einsetzte, muss Linda lĂ€cheln.
Den ersten richtigen Ehekrach hatte es seinerzeit gegeben, als es nach der Hausrenovierung daran ging, den Garten herzurichten. Sie hĂ€tte gerne ImmergrĂŒnes um sich herum gehabt und viel Rasen, aber Edgar meinte, das gleiche einer Friedhofsbepflanzung.
Also hatte er sich durchgesetzt und es gab Stauden, viele BlĂŒhstrĂ€ucher, ObstbĂ€ume, Fichten und als Mittelpunkt eine Birke!
Jawohl! Eine Birke! Einen Baum, der sogar auf BrachflÀchen wie Unkraut wuchert und auch in einer Dachrinne mit wenig Erde wachsen kann.
âDas ist aber eine Rotlaubige!â, hatte ihr Edgar fröhlich mit roten Wangen verkĂŒndet, weil sie wunderbar zur roten Blutberberitze passen wĂŒrde, die den Vorgarten einfriedete.
Sein Garten war sehr pflegeintensiv, Edgar gönnte ihm jede Minute seiner Freizeit und vergaà alles andere, wenn er mit der Pinzette Unkraut aus dem Rasen pickte.
Der Wind wehte den Duft von Lavendel, KrÀutern und Ziergehölzen ins Haus.
âHaus gebaut, Baum gepflanzt, Kind gezeugt!â, war seine erste Reaktion auf Lindas Schwangerschaft, obwohl er kein Kind wollte. Und doch baute er ein wunderschönes Baumhaus samt KlettergerĂŒst, damit âdas Kindâ nicht auf seinem Zierrasen spielen wĂŒrde.
NatĂŒrlich hielt sich die kleine Mia nicht an diese Anordnung, was immer wieder zu Konflikten zwischen ihnen gefĂŒhrt hatte.
* * *
Linda hatte endlich den Weg von der Wasserstelle bewĂ€ltigt und schwemmte die Blumen ein. Wer weiĂ, wann es regnen wird.
Wie schnell die vielen Jahre doch dahingeflogen sind.
âEin Garten ist nie fertigâ, war Edgars Devise.
Selbst in der schwersten Zeit ihrer Ehe hatte der Spaten keine Ruhe vor ihm.
Damals war auch FrĂŒhling. Aber es war ein sonnenverwöhnter Tag.
Mia, ihre kleine Mia, war nicht in der Grundschule erschienen. Nie hatte man je ein Lebenszeichen von ihr gefunden. Sie war verschluckt worden. Einfach so. Von gleich auf Jetzt. Morgens gegen acht Uhr.
Keine Zeugen.
Nichts!
Linda konnte sich nicht mehr erinnern, wieviel Jahre sie in einem Schwebezustand gelebt hatten zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Trauer und dem Alltag, der gelebt werden musste als NormalitÀt, die nicht normal war angesichts des Unfassbaren.
Edgar bot ihr keine Schulter zum Anlehnen, wenn sie sich wieder einmal in den Schlaf weinte, weil sie kein Kindergrab hatte als Trost fĂŒr ihre tiefe Trauer, weil sie nichts hatte.
Nichts!
Und immer wieder ĂŒberfielen sie diese Phantastereien, dass Mia eines Tages vor ihrer TĂŒr stehen wĂŒrde als erwachsene Frau und alles wĂ€re erklĂ€rbar einfach und leicht.
Edgar ackerte auch oft nachts im Garten. Ihre Schlaflosigkeit und die GefĂŒhlsausbrĂŒche ertrug er nicht.
Hatte gleich nach Mias Verschwinden um die Birke herum ein Rondell mit Azaleen angelegt. Mias Baumhaus lieĂ er unberĂŒhrt. Linda hĂ€tte es lieber abgerissen, so sehr schmerzte sie der Anblick.
Das Kinderzimmer schloss sie sofort ab.
Hatte es nie mehr betreten.
Linda hatte sich VorwĂŒrfe gemacht, weil sie sich an diesem Morgen nach dem Nachtdienst im Krankenhaus sofort hingelegt hatte, anstatt Mia zur Schule zu bringen.
âIch gehe in die dritte Klasse, Mama! Ich bin kein Baby mehr!â
Wie stolz sie winkte, als sie die Einfahrt hinunter gegangen war und ihre Zöpfe hatten witzig hin und her gewippt.
* * *
Linda erhob sich gebrechlich und blickte auf das Grab. âSei mir nicht böseâ, flĂŒsterte sie, âaber es muss sein.â
Ein junger Gartenarchitekt aus der Nachbarschaft hatte ihr einen Plan erstellt fĂŒr einen pflegeleichten Steingarten mit verschiedenen Kiesarten, Sukkulenten und einer groĂen Terrasse.
âEdgar, ich will mich dem Leben wieder positiv zuwenden. Es muss Schluss sein mit der Einsiedelei.â
* * *
Als sie in die StraĂe einbog, sah sie bereits, dass Bagger und Kran ganze Arbeit geleistet hatten. Die riesigen BĂ€ume waren gefĂ€llt. Sie konnte bereits von hier aus das Dach des Hauses sehen.
Linda kam nÀher. Wie licht und hell das doch wirkte. Ihr Herz pochte vor Freude. So hatte sie es sich vorgestellt. Luft und Sonne konnten nun ans Haus gelangen.
Aber gegenĂŒber parkte ein Polizeiwagen. Sie sah beim NĂ€herkommen, dass die Einfahrt zum Haus mit einem Flatterband abgesperrt war.
Ob es Probleme gegeben hatte? Sie öffnete das Gartentor. Eine junge Frau lief auf sie zu und hielt sie fest.
âAber ich bin die EigentĂŒmerin!â, wehrte Linda sich. âUnd ich habe eine Genehmigung zum Abholzen.â
Sie durfte unter das Band hindurch, die Frau hatte es ihr hochgehalten. âWir sollten ins Haus gehenâ, schlug sie vor, âdie GĂ€rtner haben uns angerufen.â
Als Linda die WohnraumtĂŒr öffnete, verschlug es ihr wegen der Helligkeit die Sprache.
Sie ging zum Wohnzimmerfenster und blickte hinaus. Auch die Rotbirke war abgeholzt worden und endlich konnte Linda den Himmel sehen. Wo die Azaleen gestanden hatten, klaffte ein riesiges Loch.
Stand hinter der Hecke ein schwarzer Kombi?
Sie wurde zurĂŒckgehalten. âBitte setzen Sie sich doch.â
âSie mĂŒssen wissen, dass der Garten umgestaltet werden soll. Damit ich ihn besser pflegen kann. Hell und freundlich soll es werden.â Ihre Stimme ĂŒberschlug sich und Linda blickte in die Augen dieser jungen Frau.
Dieser Blick verriet nichts Gutes.
âIst einem Arbeiter etwas passiert?â, fragte sie zitternd.
Eigentlich wollte sie sich doch ĂŒber die VerĂ€nderungen im Garten freuen. Darauf, dass es einen Grillplatz geben sollte, dass sie Nachbarn einladen wĂŒrde, die ihre Kinder mitbrĂ€chten, wo ihr doch eigene Enkel nicht vergönnt waren wegen der Tragödie.
Zu lange hatten Edgar und sie wie Einsiedler gelebt.
Ihre Frage wurde verneint. âDie GĂ€rtner haben ein Kinderskelett unter der Birke gefunden. Dort, wo die Azaleen standen.â
âMia!â
* * *
. . . als erstes hat der Bagger sein Ziel erreicht, reiĂt den Dachstuhl ein, wo Mia ihr Zimmer hatte, frisst sich weiter bis zum Erdgeschoss.
Das alte Haus wehrt sich nicht.
Gleichzeitig rollt schweres GerÀt durch den Garten und walzt alles nieder.
Die Lastkraftwagen fahren halbstĂŒndlich Bauschutt und Gehölze vom GrundstĂŒck, um dessen Verkauf sich ein Notar kĂŒmmern wird.
Edgars Grab hat Linda auch einebnen lassen.