Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Karin Welters IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Mein Freund, der Baum | Juni 2015
Ewald und Kurt
von Karin Welters

Schon immer war ich ein Außenseiter.
Obwohl … wenn ich es recht bedenke, wurde es erst wirklich augenscheinlich, nachdem ich zum Gymnasium gewechselt hatte. Bis dahin tollte ich mit Freunden herum und stellte eine Menge Unsinn an – wie jedes andere Kind in unserer Straße.
Viele unserer Großeltern hatten einen Schrebergarten, der reichlich Gemüse und Obst hervorbrachte, das in Gemeinschaftsarbeit eingekocht wurde. Während der kalten Jahreszeit waren wir Arbeiterkinder mit eingeweckten Pflaumen und Bohnen, Kirschen und Stachelbeeren reichlich versorgt. So kurz nach dem Krieg war das ein Segen für uns alle.
Manchmal, im Spätsommer, quälten sich einige meiner Freunde, die die halbrohen Pflaumen vertilgten, mit heftigen Durchfällen. Ich kletterte zwar auch gern auf den Obstbäumen herum, aber ich brachte es nicht fertig, die grünen Früchte zu pflücken, die doch erst mit ihrem dunklen Lila so süß schmeckten.
Oft saß ich stundenlang auf einem der starken Äste und schaute über die Schrebergärten mit ihren zusammengeschusterten Lauben, den langen, in Reih und Glied aufgestellten Stangen, an denen sich die Bohnen emporrankten und sah den Vögeln zu, die an den hellroten Kirschen herumpickten. Ich liebte diese Obstbäume. Es war eine unbeschwerte Zeit.
Als meine Lehrer drängten, dass ich zum Gymnasium wechseln sollte, weil ich in allen Fächern auf der Grundschule eine glatte Eins hatte, wehrten sich meine Eltern zunächst. Damals, in den 50er Jahren, lautete die Devise: Mädchen heiraten ja sowieso. Also warum so viel Schulgeld bezahlen? Gott sei Dank, gaben meine Eltern dem Drängen der Lehrer nach.
Ja… und so ging ich aufs Gymnasium. Auf einmal war es vorbei mit dem Herumtollen und dem Unsinn machen. Der Ernst des Lebens hatte begonnen. Schon bald hatte ich begriffen, dass ich zwischen Baum und Borke eingeklemmt war. Ich gehörte nicht mehr zu meiner alten Clique, die weiterhin die Volksschule besuchte. Aber genauso wenig passte ich in die Gruppe der höheren Töchter auf dem Gymnasium. Nachmittags hatte ich zu pauken und es blieb kaum noch Zeit für meine alten Freunde – geschweige denn für Obstbäume oder Schrebergärten mit windschiefen Lauben.
Während dieser Zeit – zwischen den Stühlen – suchte ich meinen Platz im Leben. Aber … es gab keinen mehr. Es war schmerzhaft, so allein da zu stehen. Oft ging ich deshalb in dem Waldstück, nicht weit von unserem Wohnblock, spazieren. Das Wetter war mir egal. Wenn es regnete, fand ich das Herumstromern im Wald sogar besonders schön. Dann blieben die anderen Spaziergänger lieber zu Hause und der Wald gehörte mir ganz allein.
Tja, und dann entdeckte ich eines Tages, dass ich mit den Bäumen regelrecht sprechen konnte. Natürlich nicht laut, aber in Gedanken. Manchmal, bei schönem Wetter, wenn viele Leute unterwegs waren, ging ich tiefer in den Wald.
Ja – noch heute meide ich Menschenmengen.
Damals also ging ich tiefer in den Wald, setzte ich mich unter einen der Bäume und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm. Wenn ich dann die Augen schloss und einfach nur so da saß, konnte ich fühlen, wie der Baum mir ein bisschen von seiner Kraft schenkte. Später, als ich etwa dreizehn Jahre alt war und die Schwierigkeiten mit meinen Eltern begannen oder ich in der Schule mal wieder gehänselt worden war, ging ich öfter auf meine Streifzüge.
Es gelang mir immer besser, mit den Bäumen zu reden. Kaum, dass ich mich hingesetzt hatte, ging das Gespräch los. Ich schöpfte enorm viel Stärke aus diesen Gesprächen und kam meist fröhlich und ausgeglichen nach Hause.
Ein Baum hatte es mir besonders angetan. Eine riesige, knorrige, alte Eiche am anderen Ende des Waldstücks. Da, wo das große Feld begann. Dieser Baum zog mich regelrecht an, wenn ich in seine Nähe kam. Er stand etwas abseits vom Weg und ich hatte mir ein kleines Plätzchen aus Moos und Laub darunter angelegt. Diesem Baum hörte ich besonders gern zu. Hatte ich zu Beginn nur Energie geschöpft und in Gedanken mit den Bäumen gesprochen, hatte sich zwischen der Eiche und mir eine richtige Vertrautheit entwickelt.
Natürlich habe ich niemandem von meinem Erleben erzählt. Um Gottes Willen! Meine Eltern hätten mich für verrückt erklärt. Und in der Schule konnte ich erst recht nicht davon sprechen. Die haben mich ohnehin nicht für voll genommen. Und für meine früheren Freunde war ich inzwischen diejenige, die abgehoben hatte.
Irgendwann habe ich der Eiche einen Namen gegeben. Ich nannte sie Ewald. Wie ein verstorbener Verwandter geheißen hatte, den ich gut leiden konnte.
Wenn ich am späten Nachmittag bei Ewald auftauchte, spürte ich seine Freude. Nicht nur in Gedanken, sondern richtig. Körperlich. Als erstes umarmte ich ihn. Erst dann setzte ich mich hin. Ja … und dann, eines Tages, hörte ich ihn reden. Meine Güte, habe ich mich beim ersten Mal erschrocken! Ich habe mich umgeschaut, ob da noch jemand war, den ich nicht gesehen hatte. Aber ich war tatsächlich allein. Und dann hörte ich ihn wieder reden. Anfangs waren es nur einfache Dinge. Er wollte wissen, wie es mir geht. Oder er fragte, warum ich so traurig aussehe.
Später gab er mir Antworten auf Fragen, die ich ihm stellte. Ich verstand die Antworten manchmal nicht so ganz, aber es war schon etwas Besonderes, ihn zu hören. Im Winter sprach er leiser, als im Sommer. Aber er hat nie aufgehört, mit mir zu reden. Wenn ich Kummer hatte, tröstete er mich. Wenn ich etwas Schönes erlebte, freute er sich mit mir. Und wenn ich Schwierigkeiten hatte, gab er mir Anregungen und Hinweise, wie ich sie lösen konnte. Ewald war ein fester Bestandteil in meinem Leben geworden. Ja, sogar ein Teil von mir.
In dem Jahr, in dem ich fünfzehn wurde, schickten mich meine Eltern in eine Sommer-Ferienfreizeit. Vier Wochen! Ich glaubte, die Welt bleibt stehen. Vier Wochen ohne Ewald? Nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Wie sollte ich das überstehen? Unter Tränen habe ich mich von ihm verabschiedet und wieder hat er mich getröstet und gemeint, dass vier Wochen schneller vorüber gingen, als ich mir vorstellen könnte. Nun ja, er war über 200 Jahre alt. Für ihn waren vier Wochen nicht viel. Aber für mich? Mir erschienen sie damals wie eine Ewigkeit. Während der gesamten Freizeit habe ich nur an ihn gedacht. Ob er mich vermisste? So wie ich ihn? Nun, auch diese schlimmen vier Wochen gingen vorbei.
Kaum dass ich wieder zu Hause war, machte ich mich auf den Weg. Ich wollte so schnell wie möglich zu Ewald. Ich rannte! Aber … kurz vor dem Ziel stand ich plötzlich vor einem Bauzaun aus Eisengittern. Der Zaun war mindestens zwei Meter hoch. Ein Darüberklettern war ausgeschlossen. Mir rutschte das Herz in die Hose. Aufgeregt lief ich am Zaun entlang in der Hoffnung, eine Öffnung zu finden.
Stattdessen erblickte ich Männer mit gelben Helmen, die rote Stangen in den Boden rammten. Ich blieb einfach stehen und schaute ihnen zu. Einer der Männer sah mich und kam zum Zaun. „Was machst du hier?“, fragte er mich. „Suchst du was?“
Was sollte ich sagen? Ich konnte ihm schlecht von Ewald erzählen, oder?
Also fragte ich, was sie hier machten? Ich erfuhr, dass an dieser Stelle gebaut werden sollte. Das ganze Feld und ein großes Stück vom Wald war Bauland geworden und es sollte eine Siedlung aus Einfamilienhäusern entstehen.
Und dann hörte ich es.
Das Kreischen der Kettensägen.
Sie holzten alle Bäume auf dem markierten Gelände ab.
Der Mann hatte sich schon längst wieder seinen Eisenstangen gewidmet. Ich stand wie betäubt. In meinen Ohren rauschte es und ich war sicher, dass ich sterben würde. Wie in einem Kokon aus Nebel und Watte stolperte ich nach Hause. Ich lege mich aufs Bett und fühlte mich wie tot. Das Kreischen der Säge dröhnte noch immer in meinen Ohren.
Mein bester Freund wurde gerade ermordet!
Ich wurde krank. Sehr krank. Wochenlang hatte ich Fieber und durfte nicht in die Schule gehen. Als ich schließlich auch nichts mehr essen konnte, wurde ich ins Krankenhaus gebracht. Aber auch dort hat man nichts ausrichten können. Kein Arzt fand heraus, was mir fehlte. Wie auch?
Als ich nach drei Monaten immer noch nicht gesund war, nahm mich meine Oma für ein paar Tage zu sich. Oma Clara war meine Lieblingsoma. Sie saß stundenlang an meinem Bett und hielt meine Hand. Dann nahm sie mich in den Arm und fragte, wer Ewald sei. Sie meinte, dass ich im Fieber immer seinen Namen gerufen hätte. Sie musste mir versprechen, mit niemandem darüber zu reden. Sie versprach es. Dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte.
Sie hat mich nicht ausgelacht. Im Gegenteil. Sie hat gemeint, dass wenn ich mit einem Baum reden kann, ich auch mit jedem anderen sprechen könnte. Und sie sagte, dass ich eine besondere Gabe hätte, die ich mir bewahren sollte. Sie ging mit mir in das Waldstück und gemeinsam haben wir einen Baum ausgesucht, der weit im Inneren stand und wahrscheinlich so schnell nicht gefällt werden würde. Es war wieder eine Eiche.
Es hat noch einige Zeit gedauert, bis ich wieder ganz gesund war. Deshalb musste ich das Schuljahr wiederholen. Auf diese Weise konnte ich die Zeit nutzen, meinen neuen Freund besser kennenzulernen. Er war zwar nicht wie Ewald, aber ihm doch sehr ähnlich. Ich nannte ihn Kurt.
Heute bin ich über siebzig Jahre alt. Meine Gewohnheit mit Bäumen zu sprechen, habe ich nie aufgegeben. Wann immer ich Kummer oder Sorgen habe, finde ich Trost unter meinem Baum. Kurt hat mir viele Eicheln beschert. Daraus habe ich einige Nachkommen gezüchtet, die heute in meinem Garten stehen. Lauter Kürtchen. Man kann sich vorstellen, wie groß die Bäume nach mehr als fünfzig Jahren sind, oder? Und wenn ich sehe, wie Clarissa, meine Enkelin, unter einer der Eichen sitzt, mit geschlossenen Augen an den Stamm gelehnt, dann freue ich mich, dass die Fähigkeit, mit Bäumen zu reden, vielleicht doch nicht so selten ist, wie ich geglaubt habe. Oder wird diese Fähigkeit gar vererbt?


Version 2

Letzte Aktualisierung: 04.06.2015 - 10.34 Uhr
Dieser Text enthält 10051 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.