Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Es passierte an einem kĂŒhlen Dezembertag. Die Sonne schien, doch sie hatte keine Kraft mehr. Sie hatte keine Kraft den kleinen Teil der Erde zu wĂ€rmen, auf dem Ben und seine Freunde lebten.
Gut, dass es nicht windig war. Ja, zum GlĂŒck war es nicht windig. Zumindest nicht so windig wie die Tage zuvor. Der Wind hatte die KĂ€lte der vergangenen Tage noch unangenehmer erscheinen lassen. Doch irgendwie schien es sowieso egal. GeĂ€ndert hĂ€tte es an der momentanen Situation wohl nichts.
Ben lag auf dem Boden. Er lag auf einem Wiesenstreifen am Rande eines Gehweges. Zu seiner rechten brummten die Autos an ihm vorbei und zu seiner linken liefen die Menschen und so manches Tier an ihm entlang. Die GerĂ€usche, die die Menschen mit ihren Schritten machten, immer dann, wenn sie ĂŒber den, mit kleinen Steinchen angelegten, FuĂweg gingen, lagen Ben in den Ohren.
Der Boden, auf dem Ben lag, war hart und kalt. Er war zwar noch nicht gefroren, aber dennoch schon ungemĂŒtlich hart. Ben hĂ€tte nie gedacht, dass ihm so etwas passieren wĂŒrde. Nein, er hĂ€tte es wirklich nicht fĂŒr möglich gehalten. Ben war sich sogar sehr sicher, dass ihm das niemals passieren wĂŒrde.
Seine Freunde hatten es ihm gesagt. Ja, sie hatten ihm gesagt, dass es ihm irgendwann auch zustoĂen wĂŒrde. Doch Ben glaubte, er sei stĂ€rker. Viel stĂ€rker.
Ben war fĂŒnfunddreiĂig. Er lag regungslos auf dem grĂŒnen Streifen des FuĂweges. Regungslos deshalb, weil er sich einfach nicht bewegen konnte. Er hatte einfach keine Kraft sich zu bewegen und es tat ihm alles weh. Die letzten Wochen zehrten sehr an ihm. Sie nahmen ihm die KrĂ€fte. Dann hatte er nach und nach auch noch all seine Freunde verloren. Seine KrĂ€fte schwanden, was man ihm auch deutlich ansah.
Am Ende hatte er nur noch Opa Scotty. Selbst der hatte sich in den letzten Wochen verÀndert. Sie nannten ihn alle Opa Scotty. Ben und seine Freunde und alle anderen auch. Opa Scotty hielt sie alle zusammen. Bis zuletzt.
Nun also dieser Sturz. Dieser tiefe Fall. Dieser Schmerz. Dieser beinahe unertrÀgliche Schmerz.
Ben lag noch immer auf derselben Stelle und wandte sich gen Himmel. Er lieĂ gedanklich sein Leben an ihm vorbeiziehen.
Dabei dachte er an die schönen und manchmal auch weniger schönen Momente, wobei die schönen auf jeden Fall die Oberhand gewannen. Die Dezembersonne kitzelte ihn nun ein wenig und Ben seufzte leise vor sich hin.
âIch hĂ€tte den anderen Glauben sollen. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen und trotzdem dachte ich, mir wĂŒrde das schon nicht passieren und ich sei stĂ€rker. Luke war ungefĂ€hr genauso stark wie ich und ihm ist es auch passiert. Wenn ich doch nur den anderen geglaubt hĂ€tte. Vielleicht wĂ€re ich dann vorbereitet gewesen und es wĂŒrde jetzt nicht alles so wehtun.â
Ben war am Boden. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch.
UnzÀhlige Autos fuhren an ihm vorbei. Einige der Menschen in den Autos hatten ihn sogar angesehen. So eben mal kurz im vorbei fahren. Doch niemand hatte Ben geholfen. Ben wusste auch, dass er von ihnen keine Hilfe erwarten konnte. Sie dachten wahrscheinlich, er sonnte sich in der Dezembersonne, die ihn mittleiweile nicht nur kitzelte, sondern zur HÀlfte bedeckte. Doch auch das Ànderte nichts daran, dass es kalt war.
Ein paar Leute liefen den FuĂweg entlang. Ben hörte wieder dieses GerĂ€usch. Angesehen hatte ihn niemand. Nur ein kleiner Hund, der von einem Ă€lteren Ehepaar ausgefĂŒhrt wurde, blieb kurz bei ihm stehen und schnĂŒffelte an ihm. Das Ehepaar jedoch, zog den Hund schnell wieder zu sich und sie liefen weiter.
Ben dachte darĂŒber nach, was Opa Scotty immer ĂŒber Hunde gesagt hatte. âBleibt es bei einem Hund, habt ihr keine Probleme. Aber werden es mehrere Hunde, bekommst du richtig Ărger. Wenn du ihnen dann keinen Riegel vorschiebst, pissen sie dich an.â Opa Scotty sagte so etwas immer in seiner unnachahmlichen Art.
Es war das erste Mal in Bens Leben, dass er einem Hund so nahe war. Doch Angst hatte er keine, weil er wusste, dass der Hund ihm nichts machen wĂŒrde. Mehr Angst hatte er vor den Menschen, denn sie waren unachtsam.
Auch da fiel Ben ein Satz von Opa Scotty ein. âWenn ihr Zeit habt, dann beobachtet die Menschen. HĂŒtet euch vor denen, die unachtsam sind. Manche von denen bereiten dir groĂe Probleme. Es gibt nur wenige, die dir wirklich helfen wollen.â
Plötzlich fiel Ben ein, wie Opa Scotty zu seinem Spitznamen gekommen war. Eigentlich hieà er anders. Niemand kannte seinen wirklichen Namen.
âEs war an einem heiĂen FrĂŒhlingstagâ, dachte Ben. âMeine Freunde und ich waren noch sehr jung und verspielt. Auf einmal sahen wir auf dem FuĂgĂ€ngerweg eine junge Familie. Der kleine Sohn hatte einen noch kleineren Hund an der Leine. Der Hund wollte gerade Richtung StraĂe laufen. Ohne Umwege. Er wollte einfach auf die StraĂe laufen. Der Junge rief ihn zurĂŒck. âScotty. Scotty Stopp.â Er zog an der Leine und der Hund kam zu ihm zurĂŒck. Wir lachten als wir das sahen und uns gefiel der Name so gut, dass wir ihm unserem Opa gaben. Von da an nannten wir ihn Opa Scotty.â
Opa Scotty war darĂŒber sehr amĂŒsiert und er freute sich ĂŒber einen so lustigen Spitznamen.
So, als ob Ben jemand anderem etwas erzĂ€hlen wĂŒrde, murmelte er in die Welt hinein. âDas war eine schöne Zeit. Es war schön, als wir noch so jung waren. Als wir uns mit dem Wind hin und her bewegten und im Regen tanzten. Ich vermisse Luke, Lizzy, Gerrit und Linda. Die anderen natĂŒrlich auch, aber die noch mehr. Wie viel SpaĂ wir doch zusammen hatten. Bis spĂ€t in die Nacht haben wir uns unterhalten und gespielt. Opa Scotty vermisse ich auch. Oh ja, ihn vermisse ich auch sehr.â
Ben spĂŒrte nun, wie die Sonne langsam wieder von ihm verschwand. Sie hatte ihn zwar nicht wĂ€rmen können, aber trotzdem fĂŒhlte es sich jetzt noch kĂŒhler an. Wolken zogen auf und eine leichte Brise wehte.
âOpa Scotty hatte stets zu uns gesagt, dass er uns nicht immer zusammenhalten könne. Die anderen hatten ihm geglaubt, nur ich nichtâ, dachte Ben, wĂ€hrend der Wind allmĂ€hlich stĂ€rker wurde.
âJetzt liege ich hier und muss ihm Recht geben. Er hat uns, er hat mich, nicht halten können. So musste auch ich diesen Sturz erleben.â
Der Wind nahm weiter an Fahrt auf. Doch Ben hatte noch keine Angst.
âIch habe schon ganz andere StĂŒrme erlebtâ, rief er dem Wind zu. âStĂŒrme mit Regen, manchmal sogar mit Hagel. Mit grellem Licht und lautem gepolter. Du machst mir keine Angst.â
Doch Ben wusste, dass diesmal etwas anders war. Diesmal war er allein. Seine Freunde waren nicht da. Opa Scotty war nicht da. Niemand war da. Nicht mal die Leute, die sonst hier spazierten, waren mehr da. Nur die Autos und die Menschen in den Autos waren noch da. Die waren aber mehr mit sich beschÀftigt und konnten oder wollten Ben nicht helfen.
Der Wind wurde stĂ€rker und stĂ€rker. SchlieĂlich wurde er so stark, dass Ben wegflog. Ben flog durch die Luft. Er flog und flog. Es war ein komisches GefĂŒhl. Der Wind trug ihn hinfort. Weit weg von dem Ort, der einst sein zuhause war. Weit weg von dem Ort, an dem er mit seinen Freunden so viel SpaĂ hatte. Weit weg von dem Ort, an dem Opa Scotty ihm Kraft gab.
Als der Wind wieder etwas schwĂ€cher wurde, landete Ben erneut unsanft auf dem Boden. Ihm war schwindelig und er wusste nicht, wo er sich nun befand. Doch da, wo er jetzt war, fĂŒhlte er sich besser als dort, wo er vor wenigen Momenten noch lag.
Ben war nicht mehr alleine. Um ihn herum lagen viele BlĂ€tter. Auch sie hatten den Sturz erleben mĂŒssen. Doch sie waren noch zusammen. Sie hatten sich noch. Ben fand schnell neue Freunde, schlieĂlich war auch er ein Blatt. Er erzĂ€hlte den anderen von seinem Leben, von seinem Sturz, von seinem Schmerz und von seinem Flug hierher. âVielleicht blĂ€st der Wind ja auch Luke, Lizzy, Gerrit und Linda irgendwann hierher. Die anderen aus unserem Baum natĂŒrlich auch, aber die bitte zuerstâ, sagte Ben mit einem dicken Grinsen im Gesicht.
Nur eines machte ihn traurig. Er wusste, dass BĂ€ume nicht fliegen konnten. Also wĂŒrde er Opa Scotty vermutlich nicht mehr wiedersehen.
âDoch solange es mich gibt, werde ich an ihn denken und wer weiĂ, vielleicht blĂ€st der Wind mich irgendwann nochmal zu ihm zurĂŒckâ, sagte Ben eines Abends zu den anderen BlĂ€ttern, die nun seine Freunde waren.
ENDE
Letzte Aktualisierung: 12.06.2015 - 20.09 Uhr Dieser Text enthält 8296 Zeichen.