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Mein Freund, der Baum | Juni 2015

Luna
von Christian Rautmann

„Zum ersten Mal spürte ich wirklich, was es hieß, lebendig zu sein, sich mit allem Leben und der ihm in-newohnenden Wahrheit verbunden zu fühlen — nicht der Wahrheit, die uns von so genannten Wissen-schaftlern, von Politikern oder anderen Menschen vermittelt wird, sondern der Wahrheit, die im Innersten der Schöpfung existiert.
Julia ’Butterfly' Hill

Der Wind riss mit einer unvorstellbaren Kraft an ihr. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment wie eine Feder in die Luft gehoben und davongewirbelt zu werden. Doch sie spürte keine Furcht. Nach den fast zwei Jah-ren, die sie nun schon hier lebte, machten ihr Stürme und Regen genauso wenig Angst, wie die Tatsache, dass ihr Lebensraum nur aus einer vier Quadratmeter großen Plattform bestand, die in 60 Meter Höhe an einem Mammutbaum befestigt war. Am Anfang hatte sie noch versuchte, sich gegen die Gewalten der Natur zu stellen. Doch sie hatte sehr schnell verstanden, dass das nicht der richtige Weg war, um hier oben zu überleben. Wie in so vielen Dingen war der Baum ihr auch hier ein Lehrmeister gewesen. Wäh-rend Julia anfangs versucht hatte, sich mit all ihrer Kraft gegen den Wind zu stemmen, hatte sie bald bemerkt, wie der Baum sich scheinbar gehen ließ und sich dem Wogen des Sturmes hingab. Da hatte sie beschlossen, genau das auch zu tun. Und es hatte funktioniert.
So stand sie nun wieder barfuß hoch oben auf ihrer Plattform, hatte die Arme ausgebreitet und schrie und lachte in den Sturm hinein, der um sie herum tobte. Julia fühlte sich in diesen Momenten beinahe selbst wie ein Wesen des Waldes, wie einer jener über 1000 Jahre alten Bäume, die gelernt hatten, sich den Naturkräften zu beugen, um gegen sie bestehen zu können. Wie einer jener Mammutbäume, zu deren Schutz sie vor fast zwei Jahren auf diese Plattform geklettert war.
Trotzdem war Julia froh, als der Sturm sich am späten Nachmittag gelegt hatte. Sie prüfte kurz, ob ihr Schlafsack und die anderen wenigen Habseligkeiten, die sie hatte, ebenfalls alles gut überstanden hat-ten. Dann legte sie sanft ihre rechte Hand an den Stamm des Baumes. Sofort spürte sie die tiefe Bin-dung, die zwischen ihnen bestand. Ihr Atem wurde ruhiger und sie fühlte, wie ein Teil der Energie dieses uralten Riesen auch durch sie strömte.
"Danke, Luna, dass du mich wieder beschützt hast und mich bei dir sein lässt", sagte sie leise und be-trachtet liebevoll die Blätter und das Geäst, das inzwischen zu ihrer Heimat geworden war.
Das Klingeln ihres Mobiltelefons riss sie jäh aus ihren Gedanken. Fast ein wenig ärgerlich nahm sie den Hörer ab. "Ja, hallo?", fragte sie.
"Hallo Butterfly", sagte die ihr vertraute Stimme von Mike. Er war einer der Aktivisten, die sich ständig um ihr Wohlergehen hier oben kümmerten. "Alles klar bei dir?"
Julia lächelte. "Natürlich. Es könnte nicht besser sein. Luna und mir geht es gut. Das bisschen Wind macht uns nichts aus."
"Ja, ich weiß. Obwohl wir hier unten schon fast davongeweht worden wären. - Du, ich schicke dir gleich Essen per Seilzug nach oben. Und dann will dich mal wieder so ein Typ von irgendeiner Zeitung inter-viewen. Ist das o.k. für dich?"
"Klar doch. Jeder Artikel hilft uns, die Öffentlichkeit auf das aufmerksam zu machen, was Pacific Lumber hier machen will", sagte Julia.
"Na, mal sehen. Vielleicht knicken sie bald ein. Ich habe da ein paar Gerüchte gehört. Seit wir den Holz-arbeitern das Porträtfoto von dir gezeigt haben und die wissen, wer da oben im Baum sitzt, hat sich was geändert."
Julia lachte. "Ja, das war eine gute Idee. Und super war auch die Aktion, als ihr alle johlend und trom-melnd den Hang hinaufgezogen seid und sogar Micky Hart mitgemacht hat."
"Ja", lachte nun auch Mike, "Der Schlagzeuger von Greatful Dead bei den Baumbeschützern. Und dazu dein Tanz hoch oben auf der Plattform. Das war der Wahnsinn.
"Und eine tolle Schlagzeile", ergänzte Julia. "Sag dem Typen also, er kann jederzeit kommen."

Nachdem sie ihr Abendessen mit dem Seilzug nach oben geholt hatte, rollte Julia ihren Schlafsack aus. Dann ging sie zu ihrer Zeltplane, die sie nicht nur gegen Regen schützte, sondern ihr auch als Was-serauffangbecken diente, unternahm eine, wegen des eiskalten Wassers, rasche Katzenwäsche und rollte sich dann schnell im Schlafsack ein. Es war kalt und sie dachte kurz daran, dass sich in wenigen Tagen zum zweiten Mal der 10. Dezember jährte, an dem sie nach hier oben gekommen war. Zwei Jahre, die sie gemeinsam mit Luna verbrachte hatte und in denen sie sich gegenseitig beschützt hatten. Sie streckte ihre Hand aus, bis sie den Baum berührte. Dann schlief sie ein.

Es dauerte noch drei weitgehend ereignislose Tage, bis sich tatsächlich die Zeitung wegen des Interviews meldete. Julia würde sich mit dem Reporter auf der Besucherplattform treffen, die die Umweltschutz-gruppe in einer Höhe von knapp 30 Metern angebracht hatte. Das war gut. Denn auch schon aus dieser Höhe wurde jedem sofort klar, mit was für einem gigantischen Lebewesen er es hier zu tun hatte und welchen Frevel es bedeutete, es zu töten.

"Hallo Julia", sagte die Frau mit sanfter Stimme und lächelte. "Mein Name ist Lisa Hartley. Ich arbeite für die Los Angeles Times."
Das war also der Typ, den Mike angekündigt hatte, grinste Julia in sich hinein. Aber sie schien nett zu sein und im Unterschied zu vielen anderen Besuchern hier oben nicht vor Angst zu schlottern.
"Hi, Lisa. Freut mich, dass Sie mich hier oben besuchen. Sind Sie extra aus LA gekommen?"
"Ja. Ihre Geschichte ist überall die Sensation. Und wir würden auch gerne einen Artikel über sie und ihren sensationellen Einsatz für die Redwoodbäume bringen. - Wie kamen sie denn überhaupt dazu, auf diesen Baum zu klettern?"
"Sie heißt Luna", sagte Julia. "Und vermutlich hätte ich sie nie kennengelernt, wenn ich nicht vor drei Jahren fast bei einem Autounfall gestorben wäre."
"Stimmt es, dass Sie fast ein Jahr gebraucht haben, um wieder gesund zu werden?"
"Ja", sagte Julia, "Sie sind gut informiert. Das hat mich damals so aus der Bahn geworfen, dass ich all meine Sachen verkauft und mich auf die Suche nach einem neuen und sinnvolleren Leben gemacht ha-be."
"Und so sind Sie auf den Baum, also Luna, gekommen?"
"Ja", lachte Julia und fuhr dann ernst fort, "Pacific Lumber will diese wundervollen Bäume fällen und es war gerade niemand da, der auf der Plattform wohnen wollte. Also hab‘ ich es gemacht."
"Und Sie sind da direkt hinauf? Einfach so? In diese Höhe?", fragte Lisa und zeigte nach oben.
"Na ja, das war am Anfang schon komisch. Und es sollte ja auch eigentlich nur für eine Woche sein. Aber dann gab es einfach niemanden, der mich ablösen konnte. Und eigentlich wollte ich auch gar nicht mehr runter. Ich werde hier oben bleiben, bis Pacific Lumber zusagt, keinen Baum zu fällen. Und wenn es noch mal zwei Jahre dauert."
"Das ist toll, Julia. Das schreibe ich genau so. - Noch eine andere Frage: Hat Pacific Lumber nicht auch versucht, Sie vom Baum zu vertreiben?"
"Und wie", sagte Julia und spürte, wie ihr das Herz bei der Erinnerung bis zum Hals schlug, "Einen riesi-gen Hubschrauber haben sie geschickt, der mich mit dem Wind seiner Rotorblätter fast vom Baum ge-pustet hätte. Dann haben sie volle acht Tage mit unglaublich lauten Nebelhörnern einen solchen Lärm gemacht, dass ich beinahe taub geworden wäre. Und von meinem Nachschub haben sie mich auch ta-gelang abgeschnitten."
"Ohne Erfolg offensichtlich", stellte Lisa fest.
"Ja, ohne Erfolg. Luna und ich halten fest zusammen. Und gemeinsam werden wir diese Baummörder und ihre Geldgier in die Knie zwingen."

Julia Hill verbrachte danach nur noch wenige Tage auf ihrem Baum, denn kurz darauf einigten sich die Aktivisten mit der Firma: Alle Bäume in einer 12.000 m² großen Pufferzone sollten erhalten bleiben. Sie hatte ihr Ziel erreicht und verließ nach genau 738 Tagen den Baum und kehrte auf den Erdboden zurück.
Als Julias Füße nach so langer Zeit endlich wieder die Erde berührten, brach sie zusammen. Doch nicht etwa aus körperlicher Schwäche, sondern weil sie von einer Welle aus Trauer und Freude überrollt wurde, die sie in Tränen ausbrechen ließ. Freude, weil sie nach so langer Zeit endlich Erfolg gehabt hatten und die US-Regierung sogar das Gelände erworben und die Redwoodbäume unter Schutz gestellt hatte. Trauer, weil sie nun ihre vertraute Freundin Luna verlassen musste.


Nachbemerkung: Die Erzählung basiert auf der wahren Geschichte von Julia ‚Butterfly‘ Hill, die von 1997 bis 1999 für 738 Tage auf einem Mammutbaum lebte. Sie berichtet selbst davon in ihrem Buch ‚The Legacy of Luna‘ (deutsch: Die Botschaft der Baumfrau)

Version 2

Letzte Aktualisierung: 24.06.2015 - 20.33 Uhr
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