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Mein Freund, der Baum | Juni 2015

Aus-Flug
von Barbara Hennermann

Sein Blick streifte über den Wald. Der letzte Sturm hatte ihn übel zugerichtet. Kreuz und quer lagen die gesplitterten Stämme der Fichten und ragten wie eine Manifestation des Waldsterbens gen Himmel. Er hatte davon gelesen, sich aber nie Gedanken darüber gemacht, wenn er mit Auto oder Flugzeug einem neuen Termin entgegen raste. Nachdenklich setzte er sich auf den Stamm einer geschlagenen Buche. Papier raschelte in seiner Hosentasche. Er zog das eng beschriebene Blatt heraus und sah auf seine kaum lesbare eigene Schrift.
Vormals, als die Zeit noch langsam einher ging und die Menschen noch Raum in ihr fanden, lebte einmal ein König. Alt war er geworden und weise, doch nun spürte er die Schwere in seinen Gliedern und Müdigkeit im Herzen. Da ließ er seine drei Töchter zu sich kommen und sprach zu ihnen: „ Bald wird der Augenblick kommen, an dem ich euch verlassen werde. Doch zuvor geht ihr hinaus in die Welt und sucht euch einen Gemahl, der statt meiner für euch sorgen wird. Aber nur einer kann König werden und nur eine Königin. Wer sich dafür würdig erweisen wird, kann nur die Zukunft zeigen.“ Erschöpft lehnte er sich zurück. Die Töchter jedoch verließen weinend sein Gemach und machten sich auf den Weg in die Welt.
Die Älteste ließ die königliche Kutsche anspannen und fuhr schnurstracks ins nächste Königreich. Sie war sich sicher, dass ihr Vater nur einen Prinzen, der mit Macht und Reichtum ausgestattet war, als rechtmäßigen Nachfolger anerkennen würde. Sie waren sich auch bald handelseinig und der Prinz folgte ihr in der Kutsche zurück in ihres Vaters Reich.
Die zweite Tochter schwang sich auf ihren Rappen und ritt mit fliegenden Haaren weit hinaus ins Land. Welche Eigenschaften sollte der Mann haben, mit dem sie das Land regieren würde? Schön musste er sein, mutig und erfolgreich. Dazu klug und anerkannt in seinem Staate. So einen zu finden war nicht einfach! Nach drei Tagen kam sie in eine Stadt, in der offensichtlich gerade ein großes Fest gefeiert wurde. Die Königstochter stieg vom Pferd und fragte eine Bauersfrau am Straßenrande nach dem Grund dafür. „Ja wisset ihr denn nicht? Ritter Gaudius hat uns vom schrecklichen Lindwurm befreit! Endlich können wir uns wieder frei bewegen.“ Damit drehte sie sich um und stimmte in den Chor der übrigen ein. „Ein Hoch auf Ritter Gaudius!“ Die Königstochter wusste, dass sie nun den Richtigen gefunden hatte. Sie drängte sich durch die Menge bis zu dem Siegreichen vor und schilderte ihm ihr Anliegen. Der fand Gefallen an dem Plan, schwang sich auf sein Ross und gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg.
Für die Jüngste war kein Fortbewegungsmittel mehr übriggeblieben. So machte sie sich zu Fuß auf den Weg und gelangte in einen großen Wald. Traurig setzte sie sich unter eine alte dicke Buche. Wie sollte sie hier den letzten Wunsch ihres Vaters erfüllen können? Da ertönte hinter ihr eine dunkle Stimme: „ Königstochter, was betrübt dich so?“ Als sie erschrocken herumfuhr, sah sie einen großen braunen Bären, der beruhigend weiter sprach: „Hab keine Angst, ich werde dir nichts tun.“ Seltsamerweise fürchtete sie sich überhaupt nicht vor ihm, fasste im Gegenteil gleich Vertrauen und erzählte ihm alles. Der Bär wiegte den schweren Kopf hin und her. „Nun, was du wirklich suchst, scheint mir Wärme, Vertrauen und Geborgenheit zu sein. Weißt du was? Nimm m i c h mit! Vielleicht bekommst du so das Königreich nicht, aber dafür immerwährende Nähe.“ Da kuschelte sich die Königstochter an das mollige Bärenfell und gemeinsam gingen sie zum Schloss.
Dort warteten bereits die beiden älteren Schwestern mit ihren Bräutigamen und jede sah sich schon als Gewinnerin. Als die Jüngste mit dem Bären kam, erschraken alle und wollten fortlaufen. Sie aber sprach: „Bleibt nur, mein Liebster tut euch so wenig ein Leides wie mir.“
Der alte König nun musterte die Männer, welche seine Töchter gebracht hatten. Der Ältesten beschied er: „Deine Entscheidung war vernünftig, aber herzlos.“ Der zweiten sagte er: „ Auch dich hat die Stimme der Vernunft und nicht des Herzens gelenkt.“ Dann sah er die Jüngste an: „Du hast dich nicht vom Tand der Welt blenden lassen und dich für das einzig Wichtige im Leben entschieden, die Liebe. Aus ihr wird alles andere wachsen. Deshalb sollt ihr das Reich übernehmen.“ Mit einem Seufzer schloss er die Augen und verschied. Im selben Augenblick aber ertönte ein lauter Knall und der Bär warf sein Bärenfell ab. Ein schöner Jüngling trat auf die Prinzessin zu und küsste sie. „Du hast mich erlöst, da du nicht auf Äußeres sahest sondern auf innere Qualitäten.“ So regierten sie gemeinsam zum Wohle des Volkes lange Jahre das Land und bekamen viele Kinder. Die beiden älteren Schwestern aber folgten ihren Männern in deren Reiche, wo sie heute noch leben, wenn sie nicht gestorben sind.


Urs lächelte, als er den Bogen zusammenfaltete und in die Tasche zurück steckte. Was wohl Evelyne dazu sagen würde? Sie war es gewesen, die ihn zu diesem Seminar hier in den Höhen des Taunus überredet hatte. „Meditation und Stille – Rückkehr zu sich selbst“. Neun andere Männer aus dem Management der Wirtschaft und Politik hatten sich gleich ihm hier eingefunden. Abschalten, regenerieren, Kraft tanken, in der Natur neue Wege finden – sie alle hatten das gleiche Ziel.
Zwei Tage vergingen mit autogenem Training, Yoga, langen Wanderungen, Einzel- und Gruppengesprächen. Dann hatte der Kursleiter ihnen die Aufgabe gestellt, ein Märchen zu schreiben, das ihnen spontan einfallen würde. Urs hatte sich von den anderen abgesondert und wie in Trance zu schreiben begonnen. Anschließend war er alleine hier herauf gewandert. Langsam erhob er sich von dem dicken Buchenstamm. Die Sonne fiel hinter dem Hügel in eine Wolkenkette und färbte sie rosarot. Bald würde es dunkel sein. Urs spürte kein Verlangen mehr nach der Gesellschaft ausgebrannter Manager auf ihrem Selbstfindungstrip. Auch die psychologische Deutung seines Märchens wollte er nicht abwarten. Er glaubte verstanden zu haben, was sein Unbewusstes ihm hatte mitteilen wollen. Jetzt zog es ihn nach Hause zurück. Evelyne sollte erfahren, wie recht sie gehabt hatte. Ja, er würde sein Leben grundlegend verändern!

Als er den schweren BMW über die Autobahn zurück jagte ertappte er sich dabei, wie er lauthals eines der Lieder schmetterte, die er auf dem Seminar hatte lernen müssen. Plötzlich fand er Gefallen daran. Evelyne würde sich wundern! Er würde ihr von dem Buchenstamm berichten, dessen Rinde er erfühlt und gestreichelt hatte. Es würde sie freuen, dass er endlich auch einen Zugang zur Natur gefunden hatte. In Zukunft würde er es nicht mehr seinem Geschäftspartner Rolf überlassen, Evelyne auf ihren Wanderungen zu begleiten. O nein, jetzt ist Urs Blank mit von der Partie!
„Ich werde ihr einen Heiratsantrag machen“, ging es ihm durch den Sinn. „So richtig altmodisch. Und dann schaffen wir uns endlich Kinder an. Sie ist ja erst vierzig, das ist heutzutage kein Alter. Und als Vater ist man nie zu alt.“
Beschwingt fuhr er in die Einfahrt seines Hauses hinein. Evelyne war da, ihr Sportwagen stand vor der Garage. Daneben parkte Rolfs schwarzer Porsche. Möglicherweise hatten sie eine gemeinsame Wanderung gemacht? Und nun übernachtete Rolf wie auch sonst oft hier? Natürlich hatten sie ihn nicht schon heute erwartet, fiel ihm ein. Schon gar nicht um diese Zeit! Er ließ den BMW in der Einfahrt stehen und hastete die Treppe hoch, drehte den Schlüssel im Schloss.
Gedämpftes Licht fiel aus dem Wohnzimmer in die Diele und malte Streifen auf das Tischchen aus den Zwanzigern. Urs stieß die Wohnzimmertüre ganz auf. Evelyne lag auf dem breiten Diwan, ihr Negligé war verrutscht und gab ihren nackten Körper den Blicken preis. Unnatürlich verdreht hing ihr Kopf über die Seitenlehne herab. Der Gürtel eines blauen Bademantels schnürte ihren Hals ein. Gegenüber saß mit stumpfem Blick Rolf. Er trug den blauen Bademantel, der offen auseinander fiel. Sonst nichts.
Wie gelähmt nahm Urs das Bild in sich auf. „Wie kommt der Kerl in meinen Badmantel?“, schoss es ihm durch den Kopf. Dann hörte er die monotone Stimme. „Ich habe ihr einen Antrag gemacht. Wir sind doch schon so lange zusammen. Du hattest ja nie Zeit für sie. Aber sie hat gelacht, verstehst du, sie hat mich ausgelacht! Ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte, hat sie gefragt. Niemals würde sie heiraten, ihre Karriere, ihr eigenes Leben auf´s Spiel setzen. Womöglich noch Kinder bekommen sollen wie ein Karnickel. O nein, das ist nichts für Evelyne Vogt! Die will leben. Aus dem Vollen schöpfen. Lust ja, aber Liebe? Schließlich ist das Mittelalter vorbei.“ Urs sah, wie Rolf schluckte. „Ich wollte das nicht. Ich wollte sie nicht töten. Sie sollte nur mit ihrem schrecklichen Lachen aufhören!“ Tränen rannen über sein Gesicht.

Urs Blank überlegte, was in seinem Leben nicht stimmte, als er - zu seinem eigenen Erstaunen völlig ruhig und beherrscht - zum Telefon ging und die Nummer der Polizei wählte. Immer noch erzählte sein Partner Rolf mit monotoner Stimme weiter, wie Evelyne auf ihrem Anspruch, unabhängig zu bleiben, beharrt hatte. In seiner Hosentasche raschelte ein Bogen Papier. Urs sprach in den Hörer, was passiert war. Es würde gleich eine Streife kommen. Er holte den Bogen Papier aus der Hosentasche, riss ihn in unzählige kleine Papierschnipsel und ließ sie wie Schnee über Evelynes toten Körper rieseln. Urs Blank fühlte – nichts. Sein Verstand arbeitete präzise und analytisch, wie er es von ihm gewohnt war.
Es war alles in Ordnung in seinem Leben, alles stimmte. Morgen würde er sich nach einem neuen Geschäftspartner umsehen.

Hb 6/2015 V2



Letzte Aktualisierung: 27.06.2015 - 12.00 Uhr
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