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Mein Freund, der Baum | Juni 2015

Vom Baum der Erkenntnis
von Gerhard Fritsch

Der Einzug der Neanar in Foluriand hatte kriegerische Auseinandersetzungen, Opfer auf beiden Seiten und viel Elend mit sich gebracht (nachzulesen in der Chronik „Vom Einzug der Neanar in Foluriand“ / SL, Januar 2010). Nachdem die Streitigkeiten aber aufgehört hatten, kehrte Frieden ein in Foluriand. Fornor und Neanar respektierten sich gegenseitig oder tolerierten zumindest einander. Iovatar, oder auch Forovatar, wie er ehedem von den Fornor genannt wurde, war sehr zufrieden mit dieser Situation, denn im Gegensatz zu den Ahnherren Foluriands, die nicht hatten eingreifen wollen, hatte er selbst sich für die Beilegung der Streitigkeiten eingesetzt und zwischen den Parteien vermittelt.

Ja, er konnte stolz sein auf sich. Er war es, der erreicht hatte, woran andere nach jahrelangen Bemühungen gescheitert waren. Galt er bei den Fornor seit jeher als eine Art oberste Instanz, so fand er nun auch immer mehr Anhänger bei den Neanar. Er half, beriet, unterstützte und förderte die Honoratioren ebenso wie die weniger Erfolgreichen. Seinen weisen Rat nahmen alle gerne an, viele machten gar durch übertriebene Verbeugungen auf sich aufmerksam, um ihn zu einer Reaktion zu bewegen, die, wie man erwarten konnte, in den allermeisten Fällen wohlwollend ausfiel.

Iovatar lebte auf einem Baum, dem höchsten im Lande, der alles andere in Foluriand überragte. Er stand genau in der Mitte des Landes und von ihm aus war der Weg zu allen Grenzen gleich weit. Er war nicht irgend ein Baum, sondern der alleinige in Foluriand, dem einzigartige, wenn auch sehr geheimnisvolle Eigenschaften zugesprochen wurden. So transportierten seine Wurzeln sämtliche Nachrichten aus allen Winkeln des Landes zu seinem Bewohner und speicherten jedes gesprochene Wort im Blattwerk seiner Krone ab. Auf diese Weise war Iovatar stets über alles, was sich Neues im Lande zutrug, informiert, und er konnte aus einem Erinnerungsspeicher schöpfen, der den übrigen Bewohnern Foluriands als übernatürlich erschien. Für Iovatar bedeutete es aber auch ständige anstrengende und zeitraubende Aufmerksamkeit, was zur Folge hatte, dass er meist erst spät abends oder in der Nacht von seinem Baum hinabstieg, um mit seinen Schützlingen zu sprechen, wofür er sich jeweils ebenfalls sehr viel Zeit nahm.

Viele Jahre vergingen so, und gewiss war es Iovatars Verdienst, dass Harmonie herrschte zwischen den einst verfeindeten Stämmen. Es gab jedoch auch Individuen, die sich mit dem Status Quo nicht zufrieden geben wollten. Sie versuchten, sich zu Wortführern aufzuschwingen, um sich mehr Geltung zu verschaffen oder die Politik des Landes zu beeinflussen. Ausgerechnet eine Neanar, die vormals aus Verbitterung sogar auswandern wollte und nicht zuletzt von Iovatar zum Verweilen überredet worden war, sorgte jetzt mehr und mehr für Verstimmung im Lande. Sie ließ sich in der Anwendung bewährter Kampftechniken ausbilden und trug mit der Zeit, wenn auch nur in Schaukämpfen, den einen oder anderen Sieg davon. Dadurch wurde ihr Stolz noch mehr angeschürt, von Jahr zu Jahr wurde sie in ihrem Tun aggressiver. Von ihren Anhängern ließ sie sich fortan als „die Gladiatorin“ feiern und immer öfter widersprach sie den Ratschlägen Iovatars, der ihr bis dahin immer noch wohlwollend gesinnt war. Doch eines Tages stellte sie sich ihm in den Weg und forderte ihn zum direkten Kampf auf. Erbittert fochten beide miteinander, Iovatar aber gewann die Oberhand und drängte seine Widersacherin in die Enge. Schon glaubte er, den Sieg errungen zu haben, als die Gladiatorin vortäuschte, über einen am Boden liegenden Ast gestolpert zu sein und sich dabei am Knie verletzt zu haben. Iovatars Ritterlichkeit verbot es ihm, den Kampf weiterzuführen, er forderte die Rivalin aber auf, ihre Niederlage einzugestehen und sich für die boshaften Worte, die sie gegen ihn geschleudert hatte, zu entschuldigen. Die Gladiatorin aber ersann eine neue List, um dieser Schmach zu entgehen. Per Handzeichen deutete sie an, dass ihr jetzt auch ihre Stimme den Dienst versagte und sie erst einmal gesunden müsse. Iovatar erzürnte, denn für eine Entschuldigung bedürfte es nur eines einzigen Wortes, und das, meinte er, würde ihr wohl zuzumuten sein. Die Gladiatorin ließ sich darauf aber nicht ein, denn sie spielte mit dem Gedanken, die Auseinandersetzung zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Auch einige ihrer Anhänger und selbst Angehörige der alteingesessenen Fornor ergriffen nun Partei für sie. Sie versuchten, die Bedeutung der Auseinandersetzung herabzuspielen. Iovatar forderten sie auf, die Sache doch nun endlich auf sich beruhen zu lassen. Doch auch Iovatar hatte seinen Stolz, er beharrte auf der ihm zustehenden Genugtuung, weshalb er den Aufschub bis zur Genesung der Gladiatorin akzeptierte.
Jedoch war Iovatar auch enttäuscht von den Fornor und Neanar, die versucht hatten, sein Gemüt in dieser Angelegenheit zu beschwichtigen. Unrecht glaubte er darin zu erkennen und zog sich zurück in seine Wohnstätte auf dem Baum. Zuvor aber rief er den Umstehenden noch zu, dass er solange nicht mehr zu ihnen herabsteigen werde, bis seine Widersacherin um Verzeihung gebeten habe und ihre Anhänger deren Fehlverhalten eingesehen hätten.
So sitzt Iovatar noch heute auf dem Baum der Erkenntnis, der ihm zum liebsten Freund geworden ist. Versteckt hinter dessem Blattwerk beobachtet er, was in Foluriand vor sich geht. Kein Wort, das dort gesprochen wird, entgeht ihm, und selbst die leiseste Bewegung dort unten bleibt ihm nicht verborgen. Die Bewohner Foluriands wissen um seine unsichtbare Anwesenheit und hüten sich, etwas Unbedachtes von sich zu geben.

Letzte Aktualisierung: 02.06.2015 - 14.53 Uhr
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