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Mein Freund, der Baum | Juni 2015

Haunebu
von Ingo Pietsch

Auf einem Bergpass nahe der deutsch-schweizerischen Grenze
Der rechte Rückspiegel löste sich in seine Bestandteile auf, als eine Pistolenkugel ihn zerfetzte.
Flag Sterling fragte sich, wie seine Verfolger es schafften, gleichzeitig das Motorrad zu steuern und zu schießen. Er selber hat alle Mühe, sein Gefährt in der Spur zu halten, da es am vorherigen Tag geregnet hatte.
Flag sah sich kurz um: Durch die verkratzte Motorradbrille war ohnehin kaum etwas zu erkennen. Aber die Verfolger hatten dichter aufgeschlossen.
Drei Motorräder und ein Geländewagen jagten hinter ihm her.
Wäre der Fahrtwind nicht gewesen, würde Flag der Schweiß in Strömen über das Gesicht laufen. So hatte er sich seine Rückfahrt jedenfalls nicht vorgestellt.
Wieder fielen Schüsse und Flag duckte sich. Ein Querschläger prallte am Gepäckträger davon und jagte pfeifend an seinem Ohr vorbei. Flag geriet aus dem Gleichgewicht und musste sich mehrmals mit den Füßen abstoßen, damit er nicht hinfiel. Langsam wurden ihm die Knie weich.
Dadurch kam einer der Fahrer mit ihm gleichauf. Der zückte seine Waffe.
Flag zog rüber und rammte ihn. Sein Gegner stürzte und die anderen beiden fuhren an ihm vorbei, während der Geländewagen einfach über ihn hinwegpolterte.
Die Nadelbäume zu Flags Linker schüttelten sich unter einer Maschinengewehrsalve und es regnete Tannenzapfen.
Flag hoffte, dass sich die Straßenverhältnisse nicht besserten, denn das war das einzige, was ihn am Leben hielt.
Ihm taten die Arme weh und er war erschöpft. Aber es lag an ihm, wie der Krieg sich weiter entwickeln würde.
Flag schüttelte die Gedanken daran ab und holte das letzte aus seiner Maschine.
Langsam aber sicher kam der Grenzübergang in Sichtweite.

Eine halbe Stunde zuvor
Flag saß gefesselt auf einem Stuhl. Er hatte Durst. Um ihn herum standen zwei Dutzend runde Fahrzeuge in einer riesigen Höhle, die in den Berg hineingetrieben worden war. In dem hangarartigen Bau arbeiteten Mechaniker, schraubten und schweißten an den Fahrzeugen.
Zwei blonde Hünen flankierten Flags Stuhl. Seit einer Stunde standen sie reglos da und sprachen kein Wort. Flag hatte versucht, sie mit Witzen aus der Reserve zu locken. Einer der beiden hatte schließlich gekichert, gleichzeitig bekam Flag mehrere schmerzhafte Hiebe ins Rückrad. Flag war mit seinem Stuhl umgefallen und hatte sich mit einer Hand eine Metallklammer sichern können, die auf dem Boden herumlagen.
Die ganze Umgebung wirkte nicht so sauber und aufgeräumt, wie er es aus seiner Militärzeit her kannte. Das ganze Projekt stand unter enormen Zeitdruck.
Gerade erst war bekannt geworden, dass sich die Vereinigten Staaten den Alliierten angeschlossen hatten.
Einer der Bewacher stellte dem Stuhl wieder auf seine Füße.
Ein Oberst in straffer Wehrmachtsuniform und kurzer Reitpeitsche marschierte auf Flag zu. Direkt unter der dem Schirm seiner Mütze blitzte ein Monokel hervor.
„Herr Sterling, schön sie wieder zu sehen. Wie spricht man ihren Namen jetzt aus? Fletsch Ztörling? Ihren Vornamen haben sie auch drastisch gekürzt! Ich werde sie trotzdem weiter mit Sterling ansprechen.“
Flag erwiderte nichts. Er hatte den Oberst kurz vor Kriegsanfang kennen gelernt. Eigentlich hatte er ihn für sehr kompetent gehalten, mit einem leichten Anflug von Größenwahn vielleicht, der sich mittlerweile im ganzen deutschen Reich weiter ausgebreitet hatte.
Der Oberst lief im Kreis und wedelte mit seiner Reit-Rute. „Industriespionage!“ Er schlug sich mit Rute an sein Bein. „Deserteur!“ Ein weiterer Schlag. „Vaterlandsverrat!“
„Weltverbesserer!“, ergänzte Flag.
Der Oberst drehte sich um und schlug Flag mit dem Handrücken ins Gesicht.
Flags Lippe platzte auf und er spie aus. „Ich habe nichts falsch gemacht. Ich bin nur rechtzeitig auf die richtige Seite gewechselt.“
„Auf die Verliererseite!“, der Oberst lachte höhnisch. „Kommen sie zu uns zurück. Als Doppelagent wären sie uns mit ihrer Spezialausbildung und ihrem Wissen sehr nützlich. Obwohl: Haben sie etwa gedacht, dass wir sie mit dieser Maskerade nicht erkannt hätten? Gefärbte Haare, wie einfallslos!“
„Ihre Soldaten, wie Hans und Fritz hier“, Flag nickte zu seinen Beschützern, „sind eh nicht besonders helle, sonst wäre ich ja wohl kaum so weit in ihr Heiligtum eingedrungen.“
„Woher kennt der unsere Namen?“, fragte einer der Hünen ungläubig.
Das überlegene Grinsen im Gesicht des Oberst erstarb kurzzeitig, kehrte aber sofort wieder zurück.
„Sie halten sich wohl für besonders schlau?“ Der Oberst hieb sich so heftig in an die Wade, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. „Meine Freunde aus Thule-Gesellschaft haben mich vor ihnen gewarnt und ich habe nicht auf sie gehört! Schon damals in Hamburg vor zwei Jahren, wo sie die Pläne für unseren Vril-Antrieb stehlen wollten, hätte ich sie ausschalten sollen. Aber das kann ich jetzt immer noch nachholen.“
Flag verdrehte vor Langeweile die Augen.
Während der Oberst zum Rumpf eines der runden Fahrzeuge ging und es tätschelte, nestelte Flag an seinen Handschellen herum.
„Die Haunebu Zwo. Unsere Reichsflugscheibe. Diese Errungenschaft wird den weiteren Kriegsverlauf entscheidend ändern. Für das Radar unsichtbar, schwer gepanzert und schneller als jedes dieser albernen Propellerflugzeuge dieser Inselaffen und Franzmänner. Was haben sie oder ihre alliierten Freunde alldem entgegenzusetzen? Sicher erwarten sie jetzt, dass ich ihnen in der Stunde ihres Todes noch unsere Pläne verrate? Oder glauben sie etwa, dass sie hier lebendig und in einem Stück wieder herauskommen?“
Hinter dem Oberst polterte etwas.
Irritiert drehte er sich wieder um: Flag stand direkt vor ihm und bedrohte ihn mit einer Pistole, die er Hans abgenommen hatte. Er und Fritz lagen bewusstlos am Boden.
Der Oberst war verunsichert. Er hatte seine Augen aufgerissen und sein Monokel baumelte jetzt an einer Kette vor seiner Brust.
„Wollen sie mich als Geisel nehmen, Herr Sterling?“
„Nein“, entgegnete Flag direkt. „Ich denke, sie würde sowieso niemand vermissen. Ihr esoterisch angereichertes Geschwafel interessiert mich auch nicht. Mein Auftrag lautet einzig und allein, den genauen Standort dieser Basis zu bestimmen. Den Rest erledigen dann meine alliierten Freunde.“
Flag ging langsam rückwärts und rannte dann los.
„Diesmal entkommen sie mir nicht, Herr Sterling! Und wenn ich sie in die Finger bekomme, dann ziehe ich ihnen persönlich die Haut ab! Alarm!“, hallte es durch den Hangar.

Direkt vor dem Grenzposten
Die deutschen Grenzsoldaten hatten den Schlagbaum geschlossen. Als sie Flag auf den Posten zurasen sahen, hoben sie ihre Gewehre und riefen „Halt!“ und „Stopp!“. Doch bevor sie schießen konnten, wurden sie von der schweizer Seite aus niedergestreckt.
Flag schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel, schloss die Augen und durchbrach ungebremst den morschen Grenzbaum. Holz flog in alle Richtungen davon.
Die schweizer Schranke war schon zur Hälfte geschlossen und senkte sich weiter.
Flag warf sich auf die Seite und schlitterte unter dem Schlagbaum hindurch.
Die beiden Motorradfahrer hatten keine Möglichkeit mehr, zu reagieren und blieben am Baum hängen, während ihre Maschinen einfach noch ein Stück weiterfuhren.
Die Schweizer Soldaten fischten sie auf und zogen sie zur Seite, ehe der Geländewagen angedonnert kam.
Wieder ratterte das Maschinengewehr des Wagens. Erde spritzte rund um Flag auf und die Kugeln verwandelten Flags Mottorad in ein Wrack. Glücklicherweise wurden weder er noch der Tank getroffen.
Flag sah auf und hörte trotz des ohrenbetäubenden Dauerfeuers den Oberst rufen: „Gib Gas!“.
Die Motorhaube kratzte unter der Schranke hindurch, die sich nicht ein Stück bewegte.
Alles oberhalb Lenkrads wurde wegrasiert, der Geländewagen krachte in eine Eiche und explodierte in einem grellen Feuerball.
Niemand hatten diesen Unfall überlebt.
Flag ging zu der rot-weiß lackierten Schranke. Das Herz hämmerte ihm immer noch in der Brust. Er klopfte auf den Schlagbaum, der metallisch klang; denn es handelte sich um das Kanonenrohr eines Panzers.
„Gute deutsche Wertarbeit!“, lächelte Flag. Der Panzer setzte sich langsam in Bewegung. „Los jetzt, wir müssen die Koordinaten des Hangars an die Luftstreitkräfte weitergeben.“ Flag blickte auf den brennenden Geländewagen zurück und fragte sich, was dieser Krieg noch alles für ihn bereit hielt.

Letzte Aktualisierung: 17.06.2015 - 08.43 Uhr
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