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Mein Freund, der Baum | Juni 2015

Rieke und der Marlboro-Bauernleberwurst-Mann
von Jochen Ruscheweyh

Wilfried schob den Vorhang ein Stück zur Seite. Gerade so weit, dass ein Schlitz entstand, durch den hindurch er das Eingangstor beobachten konnte. Es war noch nicht einmal Mittag und bereits jetzt drängte eine Gruppe von bestimmt dreißig Leuten gegen die kunstvoll ineinander verwobenen Eisenstangen, die Wilfrieds Großvater noch selbst geschmiedet hatte.
Zu Anfang hatten sie sich noch Mühe gegeben, anonym zu bleiben, ihre Gesichter hinter Sturmhauben oder unter Helmen versteckt. Mittlerweile skandierten sie ihre tumben Parolen ganz offen und pfiffen auf irgendeine Form der Maskierung.
Woberg war eine Kleinstadt, übersichtlich, geordnet, westfälisch. Hier kannte jeder jeden oder zumindest dessen Anverwandte oder Kinder, dachte Wilfried. Die Menschen, die an seinem Tor rüttelten, hatte er nie zuvor gesehen.
Wilfried war unschlüssig, ob man sie als Demonstranten bezeichnen konnte, schließlich demonstrierten sie in seinen Augen ja nichts, außer ihrer eigenen Verblendung.
Und wenn er ehrlich war, hatte er nicht die geringste Ahnung, was es mit diesem 7G-Netz auf sich hatte, warum gerade seine alte Eiche dies stören sollte, warum die Leute nicht einfach wieder normale, alte Telefone mit Wählscheibe benutzen konnten und wie zum Henker von so einem Unfug Arbeitsplätze abhängen sollten. Für ihn roch das alles nach Inszenierung.
Deren Folgen spürte er aber ganz deutlich: Wilfrieds Milch, Käse und Wurstspezialitäten waren bis vor Kurzem noch sehr beliebt gewesen und ein willkommener Anlass bei der Adresse Sprinkühler Weg 30 - seinem Anwesen - vorbeizuschauen.
Mittlerweile verirrte sich kein Woberger mehr in seinen Hofladen, und so verfütterte er die Produkte an sein Vieh oder entsorgte sie in einem großen Loch hinter dem ehemaligen Gästehaus.
Wilfried zog den Vorhang zu. Harte Zeiten kamen, soviel stand fest.
Oder sie waren bereits da.

***

„Du musst das nicht tun.“
Rieke nickte und löste das Tuch, dass sie sich in ihren Pferdeschwanz gebunden hatte. „Ich weiß, ich will aber.“
„Ganz sicher? Du bist dir im Klaren, dass es dann kein Zurück mehr gibt“, stellte Paul fest.
Rieke rückte näher an ihn heran, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, rollten ein paar Tränen über ihre Wange. „Aber so geht es auch nicht weiter.“
Paul holte seine Tasche hervor. „Aber du hast es nicht von mir.“
Rieke schüttelte den Kopf, als er ihr die Spritze gab.

***

Gegen Abend war wieder das eingekehrt, was er mittlerweile als Normalität ansah. Der Pulk hatte sich verzogen und Wilfried kehrte die Überreste des Protests zusammen: Dosen, Plastikflaschen, Chips-Tüten und Flugblätter, die Wilfried mal als Feind der Demokratie, mal als Höhlenmenschen oder verblendeten Naturschützer darstellten.
„Du kommst spät“, bemerkte er, als Rieke von ihrem Rad stieg.
„Du kannst ja nächstes Mal eine Vermisstenmeldung aufgeben, wenn du dich dann besser fühlst", gab sie zurück.
Wilfried biss sich auf die Lippe. „Wie lange soll das jetzt noch so weitergehen?“, fragte er. „Du bist kaum noch hier, sprichst nur das Nötigste mit mir und vernachlässigst den Stall.“
Sie lehnte ihr Rad an die Mauer und ging wortlos in Richtung Gutshaus.
„So lässt du mich nicht hier stehen!“, rief Wilfried ihr hinterher.
Rieke fuhr herum und schrie: „Hast du dich eigentlich jemals gefragt, wie es mir bei der ganzen Sache geht? Wie ich in der Stadt angeguckt werde? Wie sie flüstern und reden hinter meinem Rücken? Hast du dich das je gefragt, Papa?“
Er stellte den Besen zur Seite und ging ein Stück auf sie zu.
„Wenn deine Mutter noch ...“
„Sie ist aber nicht mehr hier und das solltest du endlich auf die Reihe bekommen“, fiel sie ihm ins Wort.
Wilfried wischte sich über das Gesicht. „Hör zu, ich weiß, es ist im Moment nicht leicht, aber was wir tun, ist das Richtige glaub mir. Es kann doch nicht sein, dass Leute uns vorschreiben wollen, wie wir mit unserem Land umzugehen haben.“
„Wie du mit unserem Land umgehst, meinst du wohl.“
„Eines Tages wirst du mir dafür danken, dass ich standhaft geblieben bin“, stellte er fest und hakte dabei seine Daumen hinter die Träger seiner Latzhose.
„O ja. Mein Vater, der Robin Hood von Wald und Flur.“
„Das nimmst du zurück!“
Rieke drehte sich um und verschwand ins Haus.

***

Als sie sicher war, dass ihr Vater schlief, stand Rieke auf, ging ins Badezimmer und betrachtete sich im mittleren Spiegel des Hängeschranks. Dann legte sie ihre Hand so gegen die spiegelnde Fläche, dass ihr Gesicht beinahe vollkommen verschwand.

Sie hatte das Gefühl, als würde die Kälte der Nacht wie ein wabbernder Nebel um ihre Füße streichen, nur um im richtigen Moment in sie hineinzukriechen.
Die Rinde der alten Eiche fühlte sich warm an, als hätte sie die gesamte Sonne des Tages in sich aufgenommen. Ihre borkige Rinde drückte gegen Riekes Wirbelsäule, als sie sich mit dem Rücken dagegensetzte. Es dauere nicht lange bis es wirke, hatte Paul gesagt, bis es in die feinsten Gefäße gedrungen sei. Sie nahm ihr Tuch aus der Tasche, wickelte die Spritze aus und legte sie wie ein rituelles Werkzeug auf ihre Oberschenkel. „Wir töten, was wir lieben oder töten wir, um geliebt zu werden?“, flüsterte sie, als könnte der Baum ihr zuhören, ihr Antwort geben, Bestätigung. Papa hat mich dazu gebracht, er und sein dummer Starrsinn. Es war, als könnte sie sich selbst denken hören. Eine merkwürdige Erfahrung.

***

In die Berge von Plastik und Unrat, die Wilfried jeden Abend zusammenkehrte, mischte sich jetzt hin und wieder ein gelbliches Eichenblatt.
Er fragte sich, wie er, wie sie beide den Herbst überstehen sollten. Die Produkte aus dem Hofladen hatten in den letzten Jahren nicht nur ihren Lebensunterhalt gesichert sondern auch für ein kleines Polster auf der Sparkasse gesorgt. Selbst das war mittlerweile nahezu aufgebraucht.
Rosi fehlte an allen Ecken und Kanten; als Mutter, als Ehefrau und als Problemlöserin. Ein Lächeln lag auf Wilfrieds Gesicht, als er sich vorstellte, wie sie die Ärmel hochkrempelte, sich umsah und sagte: Du lässt den Hof vollkommen verwahrlosen, Wilfried. Wo fangen wir an?

***

Rieke rieb sich die Augen. „Ich fühle mich richtig scheiße.“
„Das war abzusehen“, antwortete Paul und zog Rieke so zu sich heran, dass ihr Kopf auf seiner Brust zu liegen kam.
„Es ist, als hätte ich ihn, nein, als hätte ich die ganze Welt hintergangen.“
„Du darfst das nicht so an dich heranlassen, du triffst deine eigenen Entscheidungen und wenn du sagst, du willst Party, dann machst du Party.“
Rieke ließ ihren Blick über die Bilder an den Wänden wandern. Paul in Afrika, Paul im Himalaya, Paul in der Wüste. Paul, der alles richtig machte und politisch korrekt.
„Party? Wann hab ich das letzte Mal Party gehabt?“
Paul streichelte über ihren Kopf: „Das ist jetzt vorbei. Von jetzt an gibt es nur noch Party!“ Er gab Rieke einen Umschlag.
Als sie ihn öffnete, entdeckte sie Geld. Viel Geld.
Langsam begann sie zu verstehen.
„Was ist das?“, fragte sie trotzdem, denn sie wollte, dass er es sagte.
„Du weißt schon ...“
„Nein, weiß ich nicht.“
„Es gab ein Problem“, grinste Paul, „und wir haben es gelöst.“

„Ich will es nicht“, sagte sie nach einer Weile. „Das Geld.“
„Was?“, fragte er, während er nach seiner Schachtel Marlboro griff.
Paul in Thailand. In Badehose. In der sein Penis sich wie eine schlecht gestopfte Bauernleberwurst unter dem Stoff abmalte. Gut, dass ich nicht mit ihm geschlafen habe, dachte sie. „Ich will es nicht. Und ich will dich nicht. Weil du ein verlogenes Dreckschwein bist“, eröffnete sie ihm, drückte sich vom Bett hoch und griff nach ihrem Pullover.
„Bist du jetzt total durchgeknallt? Ich dachte, es war das, was du wolltest.“
„Ich glaube, du hast nicht die geringste Ahnung, was ich will.“
Paul entflammte ein Feuerzeug und steckte seine Zigarette an. „Gut, dann geh doch wieder zurück zu deiner Ponyhof-Romantik, aber eins sag ich dir, das wahre Leben spielt sich woanders ab.“
„In Afrika vielleicht?“, fragte Rieke und gab sich Mühe, betont sarkastisch zu klingen.
„Lass Afrika da raus, den Leuten da geht es richtig beschissen.“
Rieke schlüpfte in ihre Jacke. „Aber du hast doch sicher einen Weg gefunden, noch etwas aus ihnen rauszuholen.“
„Du wolltest das Gift, erinnerst du dich?“, sagte er und es klang so hässlich wie richtig.
„Ja“, sagte sie, nahm ihm die Zigarette aus der Hand, zog daran und drückte sie auf seinem Bett aus, „und das war ein ganz schlimmer Fehler.“

***

Rieke schob ihr Rad durch die Einfahrt und lehnte es an die Mauer. „Warte, ich helf dir“, rief sie und nahm sich einen Besen.
„Ich weiß auch nicht, was los ist, vielleicht der Klimawechsel“, sagte Wilfried, während er einen großen Haufen gelber Blätter zusammenkehrte.

„Meinst du, es wäre anders zwischen uns, wenn deine Mutter noch leben würde?“, fragte er irgendwann. Rieke strich über die Borke der Eiche. Etwa in Schulterhöhe, zwei handbreit neben der vernarbten Gabelung fanden ihre Finger das winzige Loch, in das sie das Gift appliziert, von wo aus es sich im Leitungssystem des Baumes verteilt hatte.
„Hast du es gefunden?“
Rieke zuckte zusammen. „Was?“
„Deine Mutter hat ein Herz in diesen Baum geritzt. Allein deswegen würde ich ihn nie abholzen lassen, ganz gleich ob er irgendwas oder irgendjemanden stört.“
Lass es den verfrühten Herbst sein, lieber Gott, und nicht das Gift, dann wünsche ich mir nie wieder etwas von dir, dachte Rieke.

Version 1

Letzte Aktualisierung: 18.06.2015 - 07.12 Uhr
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