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Mein Freund, der Baum | Juni 2015

Was bleibt
von Sarina Stützer

Ich bin lange nicht hier gewesen. Noch zwei Mal an Weihnachten, dann war auch das vorbei. Jetzt bin ich hier, um zu sortieren, was meine Eltern hinterlassen haben. Sie sind beide gestorben, im Abstand von sechs Monaten.

Ich bin in einer sehr ländlichen Gegend aufgewachsen. Und in dieser Ländlichkeit wohnten wir auch noch weitab vom Schuss, wie man so sagt. Die Folge: Als Nachzüglerkind, dessen nächstes Geschwister fünfzehn Jahre älter war, musste ich Möglichkeiten finden, mich selbst zu beschäftigen, und mir Freunde suchen. So hatte ich schon vor meiner Schulzeit mehr nichtmenschliche Freunde als menschliche: Bäume, kleine Rückzugsorte in Hecken oder an Teichufern, Enten und den obligatorischen Teddy. Von Haustieren hielten meine Eltern nichts, der Hofhund war der Hofhund und ließ sich als Freund nicht von mir einspannen, so oft ich es auch versuchte. Er wollte sich nicht umarmen oder kraulen lassen, und obwohl er mir nicht widersprach, war ich mir sicher, dass er gar nicht zuhörte, wenn ich vor seinem Zwinger saß und ihm von meinen Problemen erzählte.
Ganz anders mein Freund, der Baum. Er war immer da, immer am selben Platz, ich konnte ihn umarmen, mich in seine Äste schmiegen, ihm alles erzählen, und manchmal hatte ich das Gefühl, er hörte mir nicht nur zu, nein, er antwortete sogar durch leises Blätterrauschen. Er war der beste Freund, den ich hatte. Zumindest der zuverlässigste.
Dann wurde ich älter, schloss die Schule ab und zog fort.

Ich bin allein hier und sehe mich das erste Mal seit Jahren wieder richtig um. Ich war eigentlich nie allein hier und doch war ich hier eigentlich immer allein. Es ist alles wie immer und doch alles anders. Kalt, verlassen, tot scheint das Haus, als wohnte hier schon länger niemand mehr, und das, obwohl alles noch an seinem Platz steht. Die Heizung ist bereits abgestellt. Ich drücke auf einen Lichtschalter und bin erleichtert, dass der Strom noch da ist und das Licht die Dämmerung hinausdrängt.
Da an der Wand im Flur die Kinderfotos meiner vier älteren Geschwister. Von mir hängt nur das Foto vom Einschulungstag dort, für mehr reichte der Platz wohl nicht. Der Tisch in der Küche, an dem ich meist allein frühstückte, bis ich mir das Frühstück abgewöhnte und ohne zur Schule ging. Von Zimmer zu Zimmer knipse ich das Licht an und lege eine Spur aus Helligkeit durchs Haus.
Hier oben mein Zimmerchen mit dem kleinen Giebelfenster, der letzte Raum, der noch zu vergeben war, als ich kam. Vor mir war er das Nähzimmer meiner Mutter gewesen, wie ich mehr als einmal informiert wurde. Seitdem musste sie immer am Küchentisch nähen, wo es ihr nur halb so viel Spaß machte – auch darüber wurde ich regelmäßig in Kenntnis gesetzt. Meine zaghaften Vorschläge, eines der leer stehenden Zimmer meiner Geschwister zu übernehmen (ich gebe zu, nicht ganz uneigennützig, denn ich hoffte, dass dann auch für mich ein helleres, größeres Zimmer abfallen könnte), wurden jedes Mal mit der Begründung abgewiesen, dass die vier ja irgendwo schlafen müssten, wenn sie zu Besuch kämen. Solange ich bei meinen Eltern wohnte, habe ich nie erlebt, dass alle vier auf einmal da waren. Aber ich verzichtete darauf, das zu erwähnen, um mich nicht wieder dem Vorwurf des Neides ausgesetzt zu sehen.
Ich schaue zum Fenster und schaue mir selbst ins Gesicht. Schnell wende ich mich von meinem Spiegelbild ab, lösche das Licht und gehe wieder hinunter.

Oh, ich hatte ein schönes Leben – nicht dass der Eindruck entsteht, ich wüsste nicht zu schätzen, was ich hatte. Im Gegensatz zu meinen Eltern, die die Nachkriegszeit als kleine Kinder erlebten, konnte ich mich immer satt essen. Und ich musste nicht mit vierzehn von der Schule abgehen, um zu arbeiten, sondern durfte das Abitur machen, obwohl das ja wegen des Verdienstausfalls eine Menge Geld kostete. Und im Unterschied zu meinen Geschwistern, von denen zwei ebenfalls die Hochschulreife erlangt hatten, absolvierte ich sogar ein Studium. Wer mir eingeredet hat, dass ich studieren müsse, weiß ich bis heute nicht, sodass ich diese Frage meinem Vater nie beantworten konnte. Es scheint ihn dann aber doch nicht so sehr interessiert zu haben, denn sonst hätten meine Eltern wohl den Kontakt zu mir nicht abgebrochen; gerade als mein eigenes Unternehmen sich zum Erfolg entwickelte.

Ich lasse den Blick schweifen und versuche, das Unbehagen abzuschütteln. Vermutlich drehen sich meine Eltern gerade im Grab herum, weil ich hier bin. Doch niemand sonst will oder kann sich kümmern. Alle haben ihr eigenes Leben, eigene Familien, eigene Häuser, weit weg von hier. Viel ist nicht mehr zu tun: einen Container bestellen und das Haus einem Makler zum Verkauf übergeben. Das hätte ich auch telefonisch erledigen können, doch ich wollte Abschied nehmen. Abschied von meiner Kindheit, von den Dingen, die ich hatte, und von denen, die ich nicht hatte.

Es zieht mich nach draußen, ich will ihn anfassen und seine Rinde spüren und noch mal Kind sein und daran glauben, dass die Welt gut ist. Wie groß er wohl ist? Wird er mich noch erkennen? Ich öffne die Hintertür und bleibe verwirrt stehen. Zuerst meine ich, im falschen Garten zu stehen, bis das logische Denken einsetzt und mir klar wird, dass es von der Hintertür nur Zugang zu einem Garten gibt, dem Garten meiner Eltern. Ich blicke auf eine öde Fläche gepflegten Rasens. Hier wächst nicht einmal ein Gänseblümchen, geschweige denn ein Baum. Die Stachelbeer- und Johannisbeersträucher, die Beete mit Erdbeeren, Möhren und Zwiebeln, der Flieder, die Apfelbäume und der Holunder – alles weg. Wie mein Baum. Sie haben sogar den Stumpf herausgerissen, es sieht aus, als habe hier niemals ein Baum gestanden. Wahrscheinlich machte es zu viel Arbeit, im Herbst die Blätter zu beseitigen, oder er warf zu viel Schatten oder er war einfach nicht hübsch genug. Ich versuche, die Stelle zu lokalisieren, an der er gestanden hat, aber es gelingt mir in der einsetzenden Dunkelheit nicht; auch fehlen die Bezugspunkte. Die gleichförmige Thuja-Hecke, die es zu meiner Zeit noch nicht gegeben hat, bietet keine Hinweise.

Ich schlucke trocken und gehe wieder ins Haus. Während ich den Flur durchquere, versuche ich, das Bild der grünen Wüste auf meiner Netzhaut durch eines aus meiner Erinnerung zu ersetzen, das den Garten voller Leben zeigt, mit ihm, der alles überragte, im Mittelpunkt. Ich trete durch die Vordertür und schließe zwei Mal ab. Ich werde nie zurückkehren.

Version 2

Letzte Aktualisierung: 22.06.2015 - 20.05 Uhr
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