Diese Seite jetzt drucken!

Mein Freund, der Baum | Juni 2015

Windspiele
von Manuel Fiammetta

Es passierte an einem kühlen Dezembertag. Die Sonne schien, doch sie hatte keine Kraft mehr. Sie hatte keine Kraft den kleinen Teil der Erde zu wärmen, auf dem Ben und seine Freunde lebten.
Gut, dass es nicht windig war. Ja, zum Glück war es nicht windig. Zumindest nicht so windig wie die Tage zuvor. Der Wind hatte die Kälte der vergangenen Tage noch unangenehmer erscheinen lassen. Doch irgendwie schien es sowieso egal. Geändert hätte es an der momentanen Situation wohl nichts.
Ben lag auf dem Boden. Er lag auf einem Wiesenstreifen am Rande eines Gehweges. Zu seiner rechten brummten die Autos an ihm vorbei und zu seiner linken liefen die Menschen und so manches Tier an ihm entlang. Die Geräusche, die die Menschen mit ihren Schritten machten, immer dann, wenn sie über den, mit kleinen Steinchen angelegten, Fußweg gingen, lagen Ben in den Ohren.
Der Boden, auf dem Ben lag, war hart und kalt. Er war zwar noch nicht gefroren, aber dennoch schon ungemütlich hart. Ben hätte nie gedacht, dass ihm so etwas passieren würde. Nein, er hätte es wirklich nicht für möglich gehalten. Ben war sich sogar sehr sicher, dass ihm das niemals passieren würde.
Seine Freunde hatten es ihm gesagt. Ja, sie hatten ihm gesagt, dass es ihm irgendwann auch zustoßen würde. Doch Ben glaubte, er sei stärker. Viel stärker.
Ben war fünfunddreißig. Er lag regungslos auf dem grünen Streifen des Fußweges. Regungslos deshalb, weil er sich einfach nicht bewegen konnte. Er hatte einfach keine Kraft sich zu bewegen und es tat ihm alles weh. Die letzten Wochen zehrten sehr an ihm. Sie nahmen ihm die Kräfte. Dann hatte er nach und nach auch noch all seine Freunde verloren. Seine Kräfte schwanden, was man ihm auch deutlich ansah.
Am Ende hatte er nur noch Opa Scotty. Selbst der hatte sich in den letzten Wochen verändert. Sie nannten ihn alle Opa Scotty. Ben und seine Freunde und alle anderen auch. Opa Scotty hielt sie alle zusammen. Bis zuletzt.
Nun also dieser Sturz. Dieser tiefe Fall. Dieser Schmerz. Dieser beinahe unerträgliche Schmerz.
Ben lag noch immer auf derselben Stelle und wandte sich gen Himmel. Er ließ gedanklich sein Leben an ihm vorbeiziehen.
Dabei dachte er an die schönen und manchmal auch weniger schönen Momente, wobei die schönen auf jeden Fall die Oberhand gewannen. Die Dezembersonne kitzelte ihn nun ein wenig und Ben seufzte leise vor sich hin.
„Ich hätte den anderen Glauben sollen. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen und trotzdem dachte ich, mir würde das schon nicht passieren und ich sei stärker. Luke war ungefähr genauso stark wie ich und ihm ist es auch passiert. Wenn ich doch nur den anderen geglaubt hätte. Vielleicht wäre ich dann vorbereitet gewesen und es würde jetzt nicht alles so wehtun.“
Ben war am Boden. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch.
Unzählige Autos fuhren an ihm vorbei. Einige der Menschen in den Autos hatten ihn sogar angesehen. So eben mal kurz im vorbei fahren. Doch niemand hatte Ben geholfen. Ben wusste auch, dass er von ihnen keine Hilfe erwarten konnte. Sie dachten wahrscheinlich, er sonnte sich in der Dezembersonne, die ihn mittleiweile nicht nur kitzelte, sondern zur Hälfte bedeckte. Doch auch das änderte nichts daran, dass es kalt war.
Ein paar Leute liefen den Fußweg entlang. Ben hörte wieder dieses Geräusch. Angesehen hatte ihn niemand. Nur ein kleiner Hund, der von einem älteren Ehepaar ausgeführt wurde, blieb kurz bei ihm stehen und schnüffelte an ihm. Das Ehepaar jedoch, zog den Hund schnell wieder zu sich und sie liefen weiter.
Ben dachte darüber nach, was Opa Scotty immer über Hunde gesagt hatte. „Bleibt es bei einem Hund, habt ihr keine Probleme. Aber werden es mehrere Hunde, bekommst du richtig Ärger. Wenn du ihnen dann keinen Riegel vorschiebst, pissen sie dich an.“ Opa Scotty sagte so etwas immer in seiner unnachahmlichen Art.
Es war das erste Mal in Bens Leben, dass er einem Hund so nahe war. Doch Angst hatte er keine, weil er wusste, dass der Hund ihm nichts machen würde. Mehr Angst hatte er vor den Menschen, denn sie waren unachtsam.
Auch da fiel Ben ein Satz von Opa Scotty ein. „Wenn ihr Zeit habt, dann beobachtet die Menschen. Hütet euch vor denen, die unachtsam sind. Manche von denen bereiten dir große Probleme. Es gibt nur wenige, die dir wirklich helfen wollen.“
Plötzlich fiel Ben ein, wie Opa Scotty zu seinem Spitznamen gekommen war. Eigentlich hieß er anders. Niemand kannte seinen wirklichen Namen.
„Es war an einem heißen Frühlingstag“, dachte Ben. „Meine Freunde und ich waren noch sehr jung und verspielt. Auf einmal sahen wir auf dem Fußgängerweg eine junge Familie. Der kleine Sohn hatte einen noch kleineren Hund an der Leine. Der Hund wollte gerade Richtung Straße laufen. Ohne Umwege. Er wollte einfach auf die Straße laufen. Der Junge rief ihn zurück. „Scotty. Scotty Stopp.“ Er zog an der Leine und der Hund kam zu ihm zurück. Wir lachten als wir das sahen und uns gefiel der Name so gut, dass wir ihm unserem Opa gaben. Von da an nannten wir ihn Opa Scotty.“
Opa Scotty war darüber sehr amüsiert und er freute sich über einen so lustigen Spitznamen.
So, als ob Ben jemand anderem etwas erzählen würde, murmelte er in die Welt hinein. „Das war eine schöne Zeit. Es war schön, als wir noch so jung waren. Als wir uns mit dem Wind hin und her bewegten und im Regen tanzten. Ich vermisse Luke, Lizzy, Gerrit und Linda. Die anderen natürlich auch, aber die noch mehr. Wie viel Spaß wir doch zusammen hatten. Bis spät in die Nacht haben wir uns unterhalten und gespielt. Opa Scotty vermisse ich auch. Oh ja, ihn vermisse ich auch sehr.“
Ben spürte nun, wie die Sonne langsam wieder von ihm verschwand. Sie hatte ihn zwar nicht wärmen können, aber trotzdem fühlte es sich jetzt noch kühler an. Wolken zogen auf und eine leichte Brise wehte.
„Opa Scotty hatte stets zu uns gesagt, dass er uns nicht immer zusammenhalten könne. Die anderen hatten ihm geglaubt, nur ich nicht“, dachte Ben, während der Wind allmählich stärker wurde.
„Jetzt liege ich hier und muss ihm Recht geben. Er hat uns, er hat mich, nicht halten können. So musste auch ich diesen Sturz erleben.“
Der Wind nahm weiter an Fahrt auf. Doch Ben hatte noch keine Angst.
„Ich habe schon ganz andere Stürme erlebt“, rief er dem Wind zu. „Stürme mit Regen, manchmal sogar mit Hagel. Mit grellem Licht und lautem gepolter. Du machst mir keine Angst.“
Doch Ben wusste, dass diesmal etwas anders war. Diesmal war er allein. Seine Freunde waren nicht da. Opa Scotty war nicht da. Niemand war da. Nicht mal die Leute, die sonst hier spazierten, waren mehr da. Nur die Autos und die Menschen in den Autos waren noch da. Die waren aber mehr mit sich beschäftigt und konnten oder wollten Ben nicht helfen.
Der Wind wurde stärker und stärker. Schließlich wurde er so stark, dass Ben wegflog. Ben flog durch die Luft. Er flog und flog. Es war ein komisches Gefühl. Der Wind trug ihn hinfort. Weit weg von dem Ort, der einst sein zuhause war. Weit weg von dem Ort, an dem er mit seinen Freunden so viel Spaß hatte. Weit weg von dem Ort, an dem Opa Scotty ihm Kraft gab.
Als der Wind wieder etwas schwächer wurde, landete Ben erneut unsanft auf dem Boden. Ihm war schwindelig und er wusste nicht, wo er sich nun befand. Doch da, wo er jetzt war, fühlte er sich besser als dort, wo er vor wenigen Momenten noch lag.
Ben war nicht mehr alleine. Um ihn herum lagen viele Blätter. Auch sie hatten den Sturz erleben müssen. Doch sie waren noch zusammen. Sie hatten sich noch. Ben fand schnell neue Freunde, schließlich war auch er ein Blatt. Er erzählte den anderen von seinem Leben, von seinem Sturz, von seinem Schmerz und von seinem Flug hierher. „Vielleicht bläst der Wind ja auch Luke, Lizzy, Gerrit und Linda irgendwann hierher. Die anderen aus unserem Baum natürlich auch, aber die bitte zuerst“, sagte Ben mit einem dicken Grinsen im Gesicht.
Nur eines machte ihn traurig. Er wusste, dass Bäume nicht fliegen konnten. Also würde er Opa Scotty vermutlich nicht mehr wiedersehen.
„Doch solange es mich gibt, werde ich an ihn denken und wer weiß, vielleicht bläst der Wind mich irgendwann nochmal zu ihm zurück“, sagte Ben eines Abends zu den anderen Blättern, die nun seine Freunde waren.

ENDE

Letzte Aktualisierung: 12.06.2015 - 20.09 Uhr
Dieser Text enthält 8296 Zeichen.


www.schreib-lust.de