Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Partystimmung | Juli 2015
Party Nummer 2
von Karin Welters

Nach fast zehn Jahren kam ich zurück. Zurück in die Stadt, deren Grenzen ich eigentlich nie mehr hatte überschreiten wollen. Aber – mein Vater lag im Sterben. Sollte ich meine Mutter in dieser schweren Stunde allein lassen? Obwohl … sie war für das, was zwanzig Jahre zuvor geschehen war, mit verantwortlich.
An diesem sonnigen Samstagmorgen Anfang September kam ich in Elberfeld am Hauptbahnhof an. Die Unterführung zum Bahnhof Döppersberg hatte sich genauso wenig verändert wie die Wupper. Noch immer fuhr die Schwebebahn im kurzen Zeitintervall, so dass ich schon zwanzig Minuten später in Varresbeck aussteigen konnte. Der kurze Weg bis zur Döringstraße war in wenigen Minuten geschafft. Genauso schnell waren die paar Kleidungsstücke aus meiner Sporttasche im Schrank des ehemaligen Kinderzimmers verstaut. Wie zu erwarten, war das Zimmer mustergültig aufgeräumt. Staubfrei. Die gelben Plastikblumen in der Bleikristallvase auf der Fensterbank waren roten gewichen. Die Vase war dieselbe. Die gehäkelten Spitzengardinen und die altmodischen Vorhänge aus beiger, grober Wolle, obwohl nie erneuert, sahen aus wie unmittelbar nach dem Kauf. Offensichtlich wurden sie immer noch alle vier Wochen mit der Hand in Feinwaschmittel gebadet. Nur der beige Teppichboden mit dem braunen Rautenmuster war neu und passte natürlich farblich perfekt zu den Vorhängen. Trotz der Vertrautheit fühlte ich mich wie ein Eindringling in einer fremden, fast unwirklichen Welt. Natürlich war mir klar, dass ich mich verändert hatte.
Er lag im abgedunkelten Schlafzimmer. Ich wusste zwar, dass er im Sterben lag, dennoch war ich schockiert. Dieser einst vor Kraft strotzende Oberbefehlshaber der Familie lag mit eingefallenen Wangen in aschfahlem Gesicht und mit geschlossenen Augen im Bett. Reglos. Stumm. Verdorrend.
Ich brachte es nicht fertig, nach seiner Hand zu greifen. Zu oft hatten mich diese Hände geschlagen. Mal mit und mal ohne Hilfsmittel. Am Schlimmsten war es, wenn er seinen Ledergürtel benutzte. Obwohl er jetzt, in diesem Augenblick, überhaupt nicht mehr zu irgendeiner Handlung fähig war, stiegen in mir die Bilder meiner Kindheit auf.
Ich war etwa acht, als er auf Mutter einschlug. Wie meistens, wenn er zu viel getrunken hatte. Nie würde ich vergessen wie sie am Boden lag. Blutverschmiert. Wie ich vor Angst am ganzen Leib gezittert habe. Wie er sich umdrehte und wütend wie wortlos die Wohnung verließ. Wie sie am nächsten Tag vom Zahnarzt zurückkam – mit einem Taschentuch vor dem Mund. Wie einige Tage später zwei neue Schneidezähne die Lücke füllten.
Oder – wie er die Hunde der Nachbarschaft dressierte. Er liebte Hunde. Besonders Schäferhunde. Es sollten schließlich gute Wachhunde werden. Und so wie er die Hunde befehligte, so hatten wir Kinder zu parieren. Und genau wie Hunde auf seinen scharfen Pfiff reagierten, so parierten wir, wenn dieser Pfiff ertönte – egal, wie weit wir entfernt waren. Diesen Pfiff hörte man kilometerweit. Und wehe, wir waren nicht schnell genug! Dann kam er uns mit einem Kleiderbügel aus Holz entgegen. Oh ja! Wir lernten zu gehorchen. Und zwar fix!
Und – er war ein leidenschaftlicher Skat-Bruder. Mit seinen Kumpels spielte er oft am Sonntagmorgen in der Stammkneipe ein paar Runden. Dann konnte er auch schon mal großzügig sein und uns Kindern eine Limo spendieren. Heute würde man sagen – sonntags war er in Partylaune.
Nie wäre ich auf die Idee gekommen, meinem Vater zu widersprechen. Auch nicht, als ich Onkel Karl nach Hause begleiten sollte. Vater war besorgt, dass sein Kumpel den Heimweg verpasste. Er hatte an jenem Sonntag zu viel Bier getrunken und schwankte bedenklich. Onkel Karl war ein Skatbruder, kein richtiger Verwandter und schon gar kein echter Onkel. Aber – wir Kinder mussten alle Bekannten und Freunde unserer Eltern mit Tante oder Onkel anreden. Das gehörte sich so.
Karl war erheblich jünger als Vater. Er hätte sein Sohn sein können. Und ich, als 11jährige, sollte ihn nach Hause bringen. Ob Vater wusste, was dieser Karl für ein Schweinehund war? Dass er kleine Mädchen mochte? Wusste er, dass Karl mit seinen gelb verfärbten Zähnen in einem Drecksloch hauste? Mit gelb verfärbten Wänden, gelb verfärbten Vorhängen, gelb verfärbter Bettwäsche?
An dieser Stelle der Erinnerung stand ich auf und verlieĂź angeekelt den sterbenden Mann, die Zombie-Mutter und das blitzsaubere Treppenhaus. Mit der Schwebebahn fuhr ich nach Vohwinkel. Ich wollte das Haus sehen, in dem mein Martyrium stattgefunden hatte.
Jetzt war ich dazu bereit.
Während der kurzen Fahrt spürte ich, wie sich meine Wut steigerte. Wie diese jahrelang unterdrückte, aufgestaute Rachsucht sich Bahn brechen wollte. Würde ich das Haus wieder finden? Lebte dieser Scheißkerl überhaupt noch? Er musste etwa Mitte vierzig sein – jetzt. Würde er mich wiedererkennen?
Ich verließ die Endstation und bog nach links in die Vohwinkeler Straße ein – Richtung Sonnborn. Nach etwa hundert Metern blieb ich wie angewurzelt stehen und traute meinen Augen nicht. Er stand auf der anderen Straßenseite – mit angewinkeltem Bein lässig an einer Hauswand gelehnt.
Mit der linken Hand spielte er mit seinem SchlĂĽsselbund, dass es klimperte.
Sein dünner gewordenes Haar pappte am Kopf fest und glänzte von der ekligen Pomade, die er benutzte.
Wie damals!
Mein Blick verengte sich. Ich sah ihn wie durch ein umgedrehtes Fernglas. Ganz weit weg. Wie am Ende eines Tunnels. Alles andere war ausgeblendet. Ich wusste, mit meiner Kleidergröße 34 und den langen, blonden Haaren wirkte ich wie Anfang zwanzig. Erkannte er mich?
Das wütende Hupen der Autos erreichte mich wie durch eine Nebelwand, als ich die Straße überquerte. Quietschende Reifen registrierte ich nebenbei, aber sie erweckten seine Aufmerksamkeit. Er schaute zu mir herüber. Ich sah seinen erstaunten Blick, als ich ihm, wie fremdgesteuert, zulächelte; seine Zunge, die von einem Mundwinkel zum anderen wanderte.
Den lĂĽsternen Ausdruck in seinen Augen kannte ich.
Den kannte ich sehr gut!
Nein, stellte ich entzückt fest, er hatte mich nicht erkannt. Betont lasziv schlenderte ich auf ihn zu. Vor Schreck ließ er den Schlüssel fallen, hob ihn jedoch blitzschnell auf, ohne mich aus den Augen zu lassen. Wieder lächelte ich ihn an. Er schluckte.
Sein Adamsapfel hĂĽpfte auf und ab.
„Kennst du ein nettes, kleines Hotel - für eine intime, kleine Party?“, fragte ich ihn mit einem unanständigen Augenaufschlag.
Die Augen traten ihm fast aus dem Kopf.
Ohne ein Wort zu sagen, grabschte er nach meiner Hand und zog mich in die Seitenstraße. Nur wenige Minuten später betraten wir die Absteige. Er zahlte und zerrte mich fast die Treppe hinauf.
Im Zimmer angekommen, riss er sich die Kleider vom Leib und wollte sich auf mich stürzen. „Stopp!“, rief ich laut. „Erst duschen – dann das Vergnügen. Und du zuerst!“
Er verschwand im Bad. Seit damals hatte ich immer „mein Werkzeug“ dabei: schwarze Seidenstrümpfe, ein Baumwolltuch und ein großes Messer, mit scharfer Klinge, das ich nun unter dem schmuddeligen Kissen versteckte.
Das Wasser im Bad rauschte.
In BH und Slip drapierte ich mich auf dem Bett, wie eine aufgeblasene Gummipuppe. Als er aus dem Bad stĂĽrmte, wollte er erneut ĂĽber mich herfallen.
„Aber, aber“, gurrte ich und drehte mich auf die Seite. „Wir wollen doch Spaß haben, oder?“
Grinsend stand er vor mir. „Wie hättest du es denn gern, Baby?“
Ich zeigte ihm meine SeidenstrĂĽmpfe, die ich demonstrativ dehnte.
„Ich liebe kleine Party-Spielchen.“ Mit diesen Worten schlang ich einen Strumpf um sein Handgelenk und das andere Ende um den Bettpfosten. Er grinste. „Ach so ist das!“
Bereitwillig hielt er mir das andere Handgelenk entgegen, mit dem ich genauso verfuhr. Seinen FuĂźgelenken erging es gleichermaĂźen. Ehe er sich versah, hatte ich das Tuch als Knebel in seinen Mund gestopft und festgezurrt.
Hilflos lag er vor mir auf dem Bett.
Wie ich – damals!
Seine Erregung hatte sich durch das Geschehen sichtlich gesteigert. Seine aufgerichtete Manneskraft wartete auf Erlösung. Aus seinen Augen sprach die nackte Gier.
Genüsslich zog ich das Messer unter dem Kissen hervor und prüfte eingehend die Spitze. Sein Blick verwandelte sich in Entsetzen. Er stöhnte auf.
Wie ich – damals!
Als ich mit der Messerspitze seine Kronjuwelen streichelte, zeigten sich SchweiĂźperlen auf seiner Stirn.
Wie bei mir – damals!
Er wand sich auf dem Bett wie ein Tier in der Falle. Sein Körper brüllte nach Freiheit.
Wie bei mir –damals!
Seine Manneskraft war schlagartig in sich zusammensackt und ich fuhr mit der Messerspitze Millimeter für Millimeter an seinen Innenschenkeln entlang – jeweils wieder bis zur Spitze seiner nun geschrumpften Kronjuwelen. Er rührte sich nicht. Er winselte.
Wie ich – damals!
Die nackte Panik fĂĽhrte Regie in seinem Innenleben. Weit aufgerissene Augen.
Wie bei mir – damals!
Dann hob ich das Messer mit beiden Händen über meinen Kopf und stach zu – mit aller Kraft!
Mitten ins Kissen – Millimeter neben seinem Kopf.
Jetzt stand er eindeutig unter Schock.
Wie ich – damals!
Ich setzte mich neben ihn auf die Bettkante und sah ihn lange schweigend an. Seine SchweiĂźperlen hatten sich zu Rinnsalen vereint, die ihm seitlich ĂĽber das Gesicht flossen und im Kissen versackten.
Lange sammelte ich meinen Speichel im Mund und spuckte ihm mitten ins Gesicht.
AnschlieĂźend zog ich mich in aller Seelenruhe an, packte mein Messer in die Tasche und verlieĂź wortlos das Zimmer.
Im Hinausgehen rief ich dem Portier zu: „Der Herr in Zimmer drei möchte gern eine Flasche Schnaps.“
Ich sah gerade noch, wie er grinsend mit der Flasche aus dem Hinterzimmer kam und die Treppe hochstieg. Wenige Minuten später brachte mich die Schwebebahn zurück nach Varresbeck.
Zwei Tage später starb mein Vater. Und weil er eine Seebestattung wollte, die erst einige Wochen später stattfinden würde, konnte ich wieder nach Hause. Zurück nach Aachen.
In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so wohl gefĂĽhlt, wie auf dieser Heimreise.

Letzte Aktualisierung: 07.07.2015 - 19.34 Uhr
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