Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Es gibt „Orte, die wir verloren haben
und Orte, in die wir uns verloren haben.“ (Wim Wenders)
Ela hat starke Verwüstungen angerichtet. Wo einst hohe Tannen standen, sind jetzt Schneisen bedeckt mit morsch gewordenen toten Bäumen. Auf dem Boden befinden sich noch die Abdrücke der Raupen, die schon einen großen Teil abtransportiert haben. Am Wegesrand stapeln sich meterhoch Baumstämme, aber der Weg ist frei. Schön asphaltiert führt er in den Wald, wo die Erinnerungen mich anfallen wie ein Mückenschwarm.
Vor mir schiebt eine junge Frau den leeren Kinderwagen. Der Mann hält das Baby fest an seine Brust geschmiegt. Ein kleines Mädchen hüpft leichtfüßig um sie herum. Sie freut sich auf den Märchenwald, dessen Eingangspforte in Sichtweite kommt.
Hänsel, lass nicht Gretels Hand los! Mein Mann will nicht hinein in den Märchenzoo. Kinderkram. Wir sind doch erwachsen! Ich gehe alleine weiter.
Rübezahl, ertönt eine sonore Stimme aus einer Felsgrotte. Der steinerne Riese hält unverändert die Wacht wie vor 30 Jahren. Wenn man auf einen Knopf drückt, wird das Märchen erzählt, nicht länger als drei Minuten. Länger reicht die Geduld der Kleinen nicht. Dann wollen sie weiter. Der Weg führt schmal und in Spiralen auf und ab, endet schon mal in einer Sackgasse,wo der fliegende Teppich nicht mehr zwischen zwei Baumstämmen schwebt. Ela hat seinen Flug jäh unterbrochen.
Wie habe ich diesen Weg einst geliebt! Mein Sohn von Märchen zu Märchen laufend. Er will der erste sein, der die bekannten Worte in Gang setzt. Der Wolf steht steifbeinig in einer offenen Hütte mit einer großen Standuhr, die vor Urzeiten stehen geblieben ist, während die Ziegen am Gras rupfen. So bekommen sie von den Kindern mehr Aufmerksamkeit als der böse Wolf.
Hänsel und Gretel sind tatsächlich Höhe- und Wendepunkt des kleinen Märchenzoos. Das ist mir früher nie aufgefallen. Hänsel sitzt gefangen in seinem Käfig, aber Gretel steht schon davor. Sie wird ihn retten. Dem Gesicht der Hexe ist die bevorstehende Niederlage anzusehen. Auf dem Dach klebt verwittert der poröse Lebkuchen. Eine Pizza, ein Schokoladeneis, Popcorn, was könnte die Kinder heute verführen?
Und die Erwachsenen? Mein Haus, mein Auto, mein Flachbildfernseher XL, meine Frau mit Modelfigur, meine Party, mein Urlaub auf den Seychellen??
Der Schweinehirt steht unberührt von all den Versuchungen einige Schritte weiter. Echte Hängebauchschweine spazieren durch sein Gehege. Sie können nichts für ihr Äußeres. Die Natur hat sie so bedacht, nicht die schlaraffen(un)artigen Köstlichkeiten. Ein Mann mistet ihren Stall aus. Er könnte der Sohn der ehemaligen Besitzerin sein, so alt wie mein Sohn.
Weiter. Dornröschen schläft immer noch in ihrem prunklosen Schloss. Rosen umranken es purpurrot. Die Dornen haben ins eigene Blut gestochen. Wird sie je aufwachen?
Mein Mann steht am Ausgang mit einem Eis in der Hand. Doch Kind geblieben. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Affen, zu denen es kein Märchen gibt, bevor wir weitergehen.
Pierre Brice war mein erster Filmstarschwarm. Mit 12 sah ich ihn in Winnetou III sterben. Als ich 34 war, galoppierte er hier im Regen den kurzen Weg über die Freilichtbühne. Die Schminke rann ihm über das Gesicht, brachte ein alterndes, aber immer noch schönes Gesicht zum Vorschein. Mein Sohn schwärmte mehr für Old Shatterhand, den Unbesiegbaren.
Jetzt wird „Das Dschungelbuch“ gegeben. Ich höre Mogli mit einer Seilbahn über die Bühne schweben auf der Flucht vor dem bösen Tiger Shir Khan. Das Gute wird siegen. Das weiß doch jedes Kind. Ich sehe die Gesichter der Zuschauer nicht, höre nur Stille. Wann wird der Bär Balu sie endlich zum Lachen bringen?
Weiter. Wir klettern eine Anhöhe hinauf. Dort unten liegt der Blaue See wie ein Spiegel, smaragdgrün schimmernd durch die ihn umgürtenden Bäume, ganz gegen seinen Namen. Ruderboote sind wie eh und je am Ufer angetäut.
Als Kind war es für mich das Größte von meinem Vater über dem Stadtteich gerudert zu werden. Meinem Sohn gefiel es auch. In seiner Phantasie verwandelte sich der See in einen Ozean, den er als Captain Hook überquerte.
Aus dem Wasser taucht ein Frosch auf, hält mir seine goldene Kugel hin.
Die Erinnerungen folgen nicht der Chronologie der Zeit, sondern der Reihenfolge der Orte. Hier irgendwo muss das Ausflugslokal sein mit Blick auf den See, wo ich meine Hochzeit feiern wollte. Wer zahlt, bestimmt. Meine Eltern wählten ein anderes Hotel aus.
Passte dir der Schuh, Aschenputtel, oder wurde er passend gemacht?
Das ist jetzt fast 40 Jahre her. Aus dem einst schicken Restaurant ist ein billiger Selfservice geworden, der Pommes anbietet. Nur der Blick auf den See ist geblieben.
Ich lasse die Kugel wieder lautlos ins Wasser gleiten.
Die Erinnerungen sind ein großartiger Schatz.
Von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort lässt er sich bergen.
Komm, Hänsel! Nimm meine Hand! Wir müssen weiter.
Letzte Aktualisierung: 02.08.2015 - 19.06 Uhr Dieser Text enthält 4929 Zeichen.