Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Auf Schatzsuche | August 2015
Im MĂ€rchenwald
von Eva Fischer

Es gibt „Orte, die wir verloren haben
und Orte, in die wir uns verloren haben.“ (Wim Wenders)

Ela hat starke VerwĂŒstungen angerichtet. Wo einst hohe Tannen standen, sind jetzt Schneisen bedeckt mit morsch gewordenen toten BĂ€umen. Auf dem Boden befinden sich noch die AbdrĂŒcke der Raupen, die schon einen großen Teil abtransportiert haben. Am Wegesrand stapeln sich meterhoch BaumstĂ€mme, aber der Weg ist frei. Schön asphaltiert fĂŒhrt er in den Wald, wo die Erinnerungen mich anfallen wie ein MĂŒckenschwarm.
Vor mir schiebt eine junge Frau den leeren Kinderwagen. Der Mann hĂ€lt das Baby fest an seine Brust geschmiegt. Ein kleines MĂ€dchen hĂŒpft leichtfĂŒĂŸig um sie herum. Sie freut sich auf den MĂ€rchenwald, dessen Eingangspforte in Sichtweite kommt.

HĂ€nsel, lass nicht Gretels Hand los! Mein Mann will nicht hinein in den MĂ€rchenzoo. Kinderkram. Wir sind doch erwachsen! Ich gehe alleine weiter.

RĂŒbezahl, ertönt eine sonore Stimme aus einer Felsgrotte. Der steinerne Riese hĂ€lt unverĂ€ndert die Wacht wie vor 30 Jahren. Wenn man auf einen Knopf drĂŒckt, wird das MĂ€rchen erzĂ€hlt, nicht lĂ€nger als drei Minuten. LĂ€nger reicht die Geduld der Kleinen nicht. Dann wollen sie weiter. Der Weg fĂŒhrt schmal und in Spiralen auf und ab, endet schon mal in einer Sackgasse,wo der fliegende Teppich nicht mehr zwischen zwei BaumstĂ€mmen schwebt. Ela hat seinen Flug jĂ€h unterbrochen.
Wie habe ich diesen Weg einst geliebt! Mein Sohn von MĂ€rchen zu MĂ€rchen laufend. Er will der erste sein, der die bekannten Worte in Gang setzt. Der Wolf steht steifbeinig in einer offenen HĂŒtte mit einer großen Standuhr, die vor Urzeiten stehen geblieben ist, wĂ€hrend die Ziegen am Gras rupfen. So bekommen sie von den Kindern mehr Aufmerksamkeit als der böse Wolf.
HĂ€nsel und Gretel sind tatsĂ€chlich Höhe- und Wendepunkt des kleinen MĂ€rchenzoos. Das ist mir frĂŒher nie aufgefallen. HĂ€nsel sitzt gefangen in seinem KĂ€fig, aber Gretel steht schon davor. Sie wird ihn retten. Dem Gesicht der Hexe ist die bevorstehende Niederlage anzusehen. Auf dem Dach klebt verwittert der poröse Lebkuchen. Eine Pizza, ein Schokoladeneis, Popcorn, was könnte die Kinder heute verfĂŒhren?
Und die Erwachsenen? Mein Haus, mein Auto, mein Flachbildfernseher XL, meine Frau mit Modelfigur, meine Party, mein Urlaub auf den Seychellen??
Der Schweinehirt steht unberĂŒhrt von all den Versuchungen einige Schritte weiter. Echte HĂ€ngebauchschweine spazieren durch sein Gehege. Sie können nichts fĂŒr ihr Äußeres. Die Natur hat sie so bedacht, nicht die schlaraffen(un)artigen Köstlichkeiten. Ein Mann mistet ihren Stall aus. Er könnte der Sohn der ehemaligen Besitzerin sein, so alt wie mein Sohn.
Weiter. Dornröschen schlÀft immer noch in ihrem prunklosen Schloss. Rosen umranken es purpurrot. Die Dornen haben ins eigene Blut gestochen. Wird sie je aufwachen?

Mein Mann steht am Ausgang mit einem Eis in der Hand. Doch Kind geblieben. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Affen, zu denen es kein MĂ€rchen gibt, bevor wir weitergehen.

Pierre Brice war mein erster Filmstarschwarm. Mit 12 sah ich ihn in Winnetou III sterben. Als ich 34 war, galoppierte er hier im Regen den kurzen Weg ĂŒber die FreilichtbĂŒhne. Die Schminke rann ihm ĂŒber das Gesicht, brachte ein alterndes, aber immer noch schönes Gesicht zum Vorschein. Mein Sohn schwĂ€rmte mehr fĂŒr Old Shatterhand, den Unbesiegbaren.
Jetzt wird „Das Dschungelbuch“ gegeben. Ich höre Mogli mit einer Seilbahn ĂŒber die BĂŒhne schweben auf der Flucht vor dem bösen Tiger Shir Khan. Das Gute wird siegen. Das weiß doch jedes Kind. Ich sehe die Gesichter der Zuschauer nicht, höre nur Stille. Wann wird der BĂ€r Balu sie endlich zum Lachen bringen?

Weiter. Wir klettern eine Anhöhe hinauf. Dort unten liegt der Blaue See wie ein Spiegel, smaragdgrĂŒn schimmernd durch die ihn umgĂŒrtenden BĂ€ume, ganz gegen seinen Namen. Ruderboote sind wie eh und je am Ufer angetĂ€ut.
Als Kind war es fĂŒr mich das GrĂ¶ĂŸte von meinem Vater ĂŒber dem Stadtteich gerudert zu werden. Meinem Sohn gefiel es auch. In seiner Phantasie verwandelte sich der See in einen Ozean, den er als Captain Hook ĂŒberquerte.
Aus dem Wasser taucht ein Frosch auf, hÀlt mir seine goldene Kugel hin.

Die Erinnerungen folgen nicht der Chronologie der Zeit, sondern der Reihenfolge der Orte. Hier irgendwo muss das Ausflugslokal sein mit Blick auf den See, wo ich meine Hochzeit feiern wollte. Wer zahlt, bestimmt. Meine Eltern wÀhlten ein anderes Hotel aus.
Passte dir der Schuh, Aschenputtel, oder wurde er passend gemacht?
Das ist jetzt fast 40 Jahre her. Aus dem einst schicken Restaurant ist ein billiger Selfservice geworden, der Pommes anbietet. Nur der Blick auf den See ist geblieben.

Ich lasse die Kugel wieder lautlos ins Wasser gleiten.
Die Erinnerungen sind ein großartiger Schatz.
Von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort lÀsst er sich bergen.

Komm, HĂ€nsel! Nimm meine Hand! Wir mĂŒssen weiter.

Letzte Aktualisierung: 02.08.2015 - 19.06 Uhr
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