Auf Schatzsuche | August 2015
| … und der Schröder sitzt in Moskau und schaufelt Kaviar in sich rein | von Jochen Ruscheweyh
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„Ich hab dir eins mit gekochtem Schinken und eins mit Cervelatwurst gemacht.“
Ellen gab Karl-Heinz einen Kuss auf die Wange. „Ich bin so stolz auf dich, dass du nochmal Arbeit gefunden hast.“
„Du weißt doch, Elli, Unkraut vergeht nicht.“
„Spiel das nicht runter, mein Freund!“, drohte ihm seine Frau scherzhaft mit wackelndem Zeigefinger. „Andere Kerle hätten das Saufen angefangen oder sich gehen lassen.“
Karl-Heinz blickte an sich herunter. Früher hatte er mal seine Füße sehen können, ohne den Bauch einzuziehen. Jetzt fiel es ihm manchen Tags schon schwer, den wulstigen Hautlappen um seinen Nabel herum überhaupt zu einer Bewegung in irgendeine Richtung zu motivieren. Sie wurden eben alle älter. Und die Extra-Rostbratwurst nach der Rostbratwurst bei Ellinghaus und Tante Margots Frankfurter Kranz und ...
Ellen war schon ein Goldstück, so über seine körperlichen Unzulänglichkeiten hinweg zu sehen. Wobei er manchmal den Verdacht hatte, dass sie seine Völlerei womöglich unterstützte, um dann gönnerhaft über deren Auswirkungen hinwegzusehen. In Amerika nannten sie Leute, die andere mästeten, „Vieper“ oder so ähnlich, hatte er neulich mal bei Akte Investigativ gesehen.
Er entsorgte Ellens Butterbrote in einer fremden gelben Tonne an der Lünener Straße – er konnte jetzt einfach nichts essen - und traf Egon, wie verabredet, an der Jachmann-Kreuzung, die alle immer noch Jachmann-Kreuzung nannten, obwohl der Suzuki-Händler sich schon vor Jahren von diesem Standort verabschiedet hatte.
„Hast du das Zeug bei?“
Wie in einem schlechten Agentenfilm öffnete Egon seinen Mantel, in dessen Innentasche eine Dose P4000 mit entsprechendem Sprühaufsatz steckte, zog die Dose heraus und strich über die Blechnaht, die bereits einiges an Rost angesetzt hatte.
„Bist du sicher, dass wir die noch benutzen können?“, wandte Karl-Heinz ein.
„Absolut“, bestätigte Egon. „Ich hab die Düse vorhin nochmal mit Caramba Multiöl gereinigt. Wir gehen ein Stück die alte Bahntrasse entlang, suchen uns ein relativ dichtes Gebüsch, warten und dann Zugriff!“
„Genau!“
„Wie hat Karin denn dein neues“ - Karl-Heinz malte Anführungsstriche mit Zeige- und Ringfinger in die Kamener Morgenluft – „Jobangebot aufgenommen?“
„Wie, als ich mich das letzte Mal für den Ausflug mit dem SPD Ortsverein an die Mosel angemeldet habe.“
„Oh“, entgegnete Karl-Heinz, „so schlimm?“
„So schlimm!“
„Was haben wir eigentlich verbrochen, dass man so mit uns umgehen kann?“, stellte Karl-Heinz fest. „Ich meine, wir gehören doch noch nicht zum alten Eisen. Die reden immer, dass Deutschland die Fachkräfte fehlen und dann lassen die uns in Transfergesellschaften versauern.“
Egon ballte die Faust. „Das ist alles der Schröder in Schuld und der sitzt jetzt in Moskau schaufelt Kaviar in sich rein und macht sich seinen privaten Erdgas-Tank voll. Der braucht sich bestimmt keine Sorgen machen, wo er zwei Raummeter Holz für den Winter herkriegt.“
„Aber du bekommst doch noch Deputat-Kohle, oder?“
„Sicher, Kalle, aber das ist doch eine ganz andere Wärme, mit Holz im Ofen.“
Karl-Heinz nickte, auch wenn er den Zusammenhang nicht sah. Aber vielleicht war das auch normal, schließlich war er nur auf dem Büro gewesen und Egon als ehemaliger Zechenelektriker sicherlich der technisch Versiertere.
„Kann man mich sehen?“, rief Egon aus den Büschen.
„Nur, wenn man es weiß ...“
„Was weiß?“, fragte Egon.
„Dass du in den Büschen stehst.“
„Gut“, gab Egon zurück. „Dann komm auch her.“
„Stell dir mal vor, wir wären jetzt wirklich bei einem Sicherheitsdienst angestellt“, begann Egon, während er sich eines dieser Halsbonbons in den Mund steckte, deren Geruch Karl-Heinz abgrundtief hasste.
„Das wär kein Job für mich“, erklärte Karl-Heinz und versuchte, nicht durch die Nase zu atmen.
„Genau wie diese Denunzianten vom Werksschutz, die haben einen auch wegen jeder Kleinigkeit angeschissen! Pass auf, da kommt jemand!“, wurde Egon plötzlich hektisch. „Hier, nimm! Schnell!“
Karl-Heinz betrachtete das P4000, das ihm Egon in die Hand gedrückt hatte, blickte zu dem sich nähernden Teenager, dessen Hosenbeine einen Teil seiner nicht geschnürten Schuhe bedeckten und an den Hacken über den Boden schliffen, dann wieder auf die Dose. „Ich dachte, du machst das ...“, flüsterte er Egon zu.
„Ich hab ja hinterher schon die Arbeit“, was sicherlich richtig war, für Karl-Heinz aber trotzdem nach einer Ausrede klang. „Also gut!“, antwortete er, merkte aber gleichzeitig, wie ihn Egon bereits aus der Deckung des Gebüsches schob. Karl-Heinz kam ins Straucheln und stolperte mehr auf die Trasse, als dass er ging. Im letzten Moment erlangte er seine Körperkontrolle wieder, drückte seine Brust heraus und hielt das P4000 am ausgestreckten Arm wie eine geladene Pistole vor sich.
Für ihn war der Gedanke immer abwegig gewesen, dass er statt Egon die Vorreiterrolle übernahm, daher hatte er sich nicht darauf vorbereitet. Wilde Satz-Fetzen schossen ihm durch den Kopf, die er simultan wieder verwarf, ehe er herauspresste: „He, Kid!“, was er den Nachbarjungen einmal zu einem anderen Jungen hatte sagen hören.
Der Teenager guckte von seinem Handy auf, während Egon ebenfalls auf die Trasse trat und Karl-Heinz zuraunte: „Samsung oder Apple, Volltreffer, absoluter Volltreffer!“
„Zwei Pädophile mit ’ner Retro-Düse CS-Gas. Da piss ich mir vor Schiss aber kräftig in die Hose.“
„Sprüh!“, forderte Egon Karl-Heinz auf. „So, sprüh doch!“
Es zischte, als Karl-Heinz den Sprühkopf herunterdrückte. Der feine Nebel, den Karl-Heinz erwartete, blieb aus.
„Auf welchem B-Ware-Naziflohmarkt habt ihr euch die Scheiße denn andrehen lassen?“ Der lästernde Unterton in der Stimme des Teenagers machte Karl Heinz aggressiv. Er presste die Lippen aufeinander, schüttelte die Sprühdose und drückte erneut auf den Sprühkopf. Eine dichte Wolke trat aus, die den Kopf des Teenagers so einhüllte, wie wenn Ellen ihrer Mutter die Haare aufdrehte und mit Gard oder 3-Wetter-Taft bestäubte. Der Teenager rang sichtlich nach Luft und schwankte. Karl-Heinz-Heinz registrierte, wie Egon dem Jungen unter die Hand schlug und das durch die Luft wirbelnde Handy auffing, als hätte er das schon hunderte Male zuvor gemacht.
„Ein 6er iPhone, saubere Arbeit, Karl-Heinz, saubere Arbeit!“
„Und was machen wir jetzt mit ihm?", entgegnete Karl-Heinz.
„Den lassen wir noch ein bisschen rumtaumeln, das P4000 macht eine retrograde Amnesie. Der kann sich an nix erinnern, nicht mal, dass er heute Morgen seine Schultasche gepackt hat.“
„Du kennst ja Fachausdrücke. Aber bist du dir da absolut sicher?“
Egon klopfte Karl-Heinz auf die Schulter und sagte: „Ich hab den P4000 Bestand von meinem alten Herrn übernommen. Das hat eine kleine feine Chemiefirma auf dem Balkan entwickelt.“
„Legal?“, fragte Karl-Heinz.
„Ein Nebenprodukt bei ... naja, ich sag mal so: einen Umweltengel wirst du nicht da drauf finden. Aber die waren absolut führend im Taubensport. Und man konnte das im Geschäft bekommen.“
„Aber unter der Ladentheke, was?“, stellte Karl Heinz fest.
„Jetzt sei doch nicht so kleinkariert, ich hab dir das doch schon erklärt: Du sprühst den Vogel mit P4000 ein und kannst alles mit ihm machen, ohne dass er sich erinnert und euer Verhältnis belastet wird. Hast du schon mal eine Blasenspiegelung machen lassen?“
„Ja.“
„Siehst du, selbes Prinzip, nur ein anderes Mittel.“
Karl-Heinz versuchte, das ungute Gefühl an seinen letzten schon viel zu lange zurückliegenden Urologenbesuch zurückzudrängen. Und für Gewissensbisse wegen dem Teenager war es jetzt eh zu spät. „Gut“, sagte er, „dann schlage ich vor, wir besorgen uns eine Karte vom Kreis Unna und markieren günstige Stellen, wo wir zuschlagen können.“
„So gefällst du mir, Kamerad!“, verkündete Egon. „Sie es mal so, wie gehen auf Schatzsuche und ...“ Egon fuhr herum, als sich ein Radfahrer per Klingel meldete.
„Was ist mit dem Jungen, braucht er Hilfe?“, fragte der Hinzugekommene, ohne vom Rad zu steigen.
„Nur so ein Hasch-Bruder, der sich was eingeworfen hat. Der kommt gleich wieder in Ordnung. Unsereins geht arbeiten und das Pack ...“, schüttelte Egon den Kopf. „Aber wenn sie vielleicht ein Handy hätten und einen Peterwagen rufen könnten?“
„Sagen Sie mal“, mischte sich Karl-Heinz ein, „ist das eigentlich ein iPhone, was sie da haben?“
Es roch angebrannt, als Karl-Heinz einige Stunden und mehrere Isenbeck-Pils später nach Hause kam. Auf dem Herd entdeckte er eine Pfanne, deren verkohlten Inhalt er gerade eben noch als Wirsingrouladen identifizieren konnte. Ellen selbst saß wie apathisch am Küchentisch. „Was ist los?“, fragte er und erst nach mehrmaligem Schütteln und zwei leichtem Ohrfeigen stammelte sie: „Der ... der Junge von Ingrid von der Frauenhilfe ... tot ... einfach so ... mitten auf der alten Trasse.“
Karl-Heinz streichelte ihr über den Kopf: „Sicher ein Blutsturz, eine von Egons Tauben hatte sowas neulich auch, die war noch nicht mal so alt.“
„Und der Wollzynski ihr Mann wird auch vermisst. Ich ... ich hab Angst um dich, Karl-Heinz, versprich mir, dass du dir ein Handy kaufst, damit du Hilfe rufen kannst, wenn dir was passiert.“
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Letzte Aktualisierung: 07.08.2015 - 21.09 Uhr Dieser Text enthält 9383 Zeichen. www.schreib-lust.de |