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Auf Schatzsuche | August 2015

Phillum
von Sarina Stützer

„My precioussssss, it’s mine, my preciousssssssss!“
Ann und Phil sahen aus einiger Entfernung zu, wie Andy Serkis auf dem Felsen kauerte und seinen Text zischte. Martin Freeman stand vor ihm, einen Ring in der Hand.
„Käme jetzt jemand von einem anderen Planeten vorbei, um das Leben auf der Erde zu katalogisieren, hätte er keinen Zweifel daran, einen echten Hobbit vor sich zu haben“, flüsterte Phil nicht ohne Stolz. Ann lächelte. Die Verwandlung von Martin Freeman zu Bilbo Baggins war ihrer beider Werk. Ein Werk, das täglich mehrere Stunden in Anspruch nahm und jeden Tag mit gleicher Perfektion vollbracht werden wollte. Ann war ebenso stolz auf das, was sie geschaffen hatten, wie Phil. Immer noch lächelnd sah sie zur Seite. Phil war einen Kopf größer als sie und hätte – abgesehen von der Größe – mit seinen kurzen, aschblonden Locken ebenfalls als Hobbit durchgehen können, hätte er behaarte Füße gehabt. Das grüne T-Shirt und die sandfarbene Cargohose passten hervorragend ins Bild.
„Was ist?“
Ann war so in ihre Gedanken versunken, dass sie erst jetzt wahrnahm, dass Phil ihren Blick erwiderte. „Ach ... es ist ... eigentlich siehst du gerade selbst fast aus wie ein Hobbit.“
„So wie du vor dich hin lächelst, hast du gerade eher Ähnlichkeit mit Gollum – au!“ Phil hielt sich den Oberarm, an dem er einen kräftigen Knuff von Ann kassiert hatte. „Ich meine doch nur, du glotzt so, dass man meinen könnte, du hättest gerade deinen Schatzzzzzz gesehen.“ Phil lachte.
„Blödmann!“ Anns Lachen klang in ihren Ohren nicht echt. Sie hoffte, Phil merkte es nicht. Wie so vieles.
Phil hatte seine Aufmerksamkeit inzwischen auf das Gelände hinter ihnen gerichtet. Für fremde Augen war es ein undurchdringliches Chaos aus Wohnwagen, Anhängern, Scheinwerfern, Kabeln und Menschen. Für Ann und Phil, die in dieser Welt zu Hause waren, hatte jedes einzelne Teil seinen Sinn und Platz.
Phil stieß Ann den Ellenbogen in die Seite. „Schau mal, die Blonde da. Die ist doch neu, oder? Vom Catering?“
Ann strich sich eine braune Strähne hinters Ohr, die aus dem nachlässig gebundenen Zopf gerutscht war, und sah in die von Phil angedeutete Richtung.
„Hm, könnte sein. Bist du wieder verliebt?“
Phil grinste. „So schnell bin selbst ich nicht. Aber man weiß ja nie. Es könnte immer sein, dass plötzlich die Frau vor mir steht, die für mich bestimmt ist. Ich will sie auf keinen Fall verpassen“
„Eigentlich bist doch du der Gollum von uns beiden“, meinte Ann. „Immer auf der Suche nach dem Schatzzzzzz. Nur dass Gollum genau weiß, wonach er sucht.“
Phil antwortete nicht und kniff die Augen zusammen, um die blonde junge Frau im Gegenlicht nicht aus dem Blick zu verlieren. Er beobachtete, wie Greg, einer der Kameraassistenten, hinter einem Wohnwagen hervortrat, auf die Frau zuging und sie auf den Mund küsste. Er wandte sich ab.
„Enttäuscht?“
Phil zuckte mit den Schultern. „Hätte ja sein können.“
Ann schüttelte den Kopf. Seit mehreren Monaten arbeiteten sie nun zusammen, und seit sie ihn kannte, lebte Phil in der Hoffnung, im nächsten Moment die Frau seines Lebens zu finden. Es waren immer die zierlichen Blonden, nach denen er schaute. Sie selbst war kräftiger gebaut, wie man so sagte, und außerdem ein dunkelhaariger Typ.
„Komm, Auffrischung!“ Sie nahm ihren Alukoffer vom Boden und ging zum Set. Phil folgte ihr mit dem Rest der Ausrüstung.

In der Pause saßen Ann und Phil nebeneinander auf Campingstühlen und verspeisten die Köstlichkeiten, die am Büffet aufgefahren worden waren. Greg und die Blonde gingen in einiger Entfernung eng umschlungen vorbei.
„Vielleicht trennen sie sich ja bald?“
Ann seufzte. „Phil, du bist einfach unverbesserlich. Wann hattest du eigentlich das letzte Mal eine feste Freundin?“
Phil biss in ein Stück Melone und dachte nach. „Das muss jetzt fünf Jahre her sein. Wow, fünf Jahre!“
„Und warum hat es nicht geklappt?“
„Sie wollte in den Beautysalon, wenn ich mit ihr wandern wollte. Sie wollte ‚Pretty Woman‘ sehen und ich ‚Batman‘.“
Ann riss die Augen auf. „‚Pretty Woman‘? Gibt es tatsächlich noch Leute auf dem Planeten, die den noch nicht gesehen haben?“
Phil schüttelte den Kopf. „Sie hat ihn sich immer wieder angesehen. In den drei Monaten, die wir zusammen waren, allein sechs Mal.“
Ann prustete los. Phil sah sie zunächst verletzt an, dann musste er selbst lachen. „War nicht so wirklich die Richtige“, meinte er.
„Hey, Ann, Phil! Habt ihr Greg irgendwo gesehen?“
Vor ihnen stand Carl, Kameraassistent, wie sein Freund Greg.
„Der möchte möglicherweise lieber nicht gestört werden, er hat nämlich gerade eine umwerfende Frau im Arm gehabt“, meinte Ann grinsend.
„Der Glückliche“, seufzte Phil.
Carl lachte. „Dinah, seine Verlobte. Er hatte erwähnt, dass sie vorbeikommen wollte. Dann will ich ihm das Schäferstündchen mal lassen.“ Carl zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Ann und Phil gegenüber. „Und wie siehts bei euch beiden Hübschen so aus?“
„Bei uns?“ Phil sah ihn verwirrt an. Dann lachte er. „Ach, du meinst ...“
Ann warf einen kurzen Blick zu Phil hinüber.
„Nein, wir arbeiten nur zusammen.“
Ann schob ein paar Krümel auf ihrem Teller zur Seite.
Carl sah von Ann zu Phil und schüttelte den Kopf. „Wisst ihr, wie man euch in der Crew nennt? Das alte Ehepaar.“
Phil lachte laut auf. „Ausgerechnet! Ich, seit fünf Jahren Dauersingle, und Ann – wie lange bist du jetzt solo?“
Ann hatte noch einen Krümel auf dem Teller entdeckt, der auf die andere Seite geschoben werden wollte. „Ein Jahr. Ungefähr.“ Sie stand auf, streckte die Hand aus und nahm Phils leeren Teller entgegen. „Ich hole mir ein Eis. Möchte noch jemand eins?“
„Nein, danke.“ Carl und Phil sahen Ann nach, wie sie sich durch das Chaos schlängelte.
Carl schüttelte den Kopf. „Ihr arbeitet zusammen, ihr hängt in den Pausen zusammen rum, und nach Feierabend sieht man euch zusammen irgendwo ein Bier trinken. Ihr verbringt mehr Zeit miteinander als jedes Ehepaar, das ich kenne.“
Phil grinste. „Im Gegensatz zur Ehe dauert so ein Dreh aber nicht den ganzen Rest des Lebens – auch wenn es einem bei einem Jackson-Film schon mal so vorkommen kann“, sagte er. „Aber irgendwann ist der Job doch mal beendet und jeder geht seiner Wege.“
„Genau“, sagte Carl und stand auf. „Vielleicht solltest du dir darüber mal Gedanken machen.“
„Was? Warum? Was soll ich ...“
Doch Carl hatte sich bereits abgewandt und ging Richtung Shuttlebus.
Phil sah ihm lange nach. Dann stand er auf, um Ann zu suchen.

Letzte Aktualisierung: 09.08.2015 - 09.01 Uhr
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