Auf Schatzsuche | August 2015
| In meinen anderen Händen | von Manuel Fiammetta
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„Warum…?“
Sebastian stand wie erstarrt und mit weit geöffnetem Mund vor seinem Kleiderschrank. Erst vorgestern hatte er eine große Menge Frauenklamotten in den Altkleidercontainer geworfen. Nun befanden sich erneut weibliche Kleidungsstücke im Schrank.
„Wie kann das sein? Wo kommen die her?“
Als erstes, nahm er seine Ex-Freundin ins Visier. Gerade, als er das Telefon in die Hand nehmen wollte, entdeckte Sebastian ein gelbes Post-it auf seinem Schreibtisch:
Diane nicht mehr wegen der Frauensachen anrufen!!
Darunter stand eine Nummer. Es war nicht die von Diane. Kurz nachdem er sie eingab, erklärte ihm eine männliche Stimme, dass er außerhalb der Sprechzeiten anrufe.
„Dr. Wrobel“, dachte Sebastian und ein wohlig-warmes Gefühl umschmeichelte ihn. Zuordnen konnte er es aber nicht.
Langsam legte er das Telefon wieder auf die Ladestation. Zurück am Kleiderschrank, holte Sebastian die Stücke einzeln raus und begutachtete sie: eine schwarze Hose, eine hellblaue Bluse sowie Tops und Unterwäsche – alle fein säuberlich gewaschen und gebügelt.
„Das ist auch gar nicht Dianes Style“, murmelte er vor sich hin.
Auf dem Weg zur Abstellkammer, worin sich die Tüten befanden in welche er die Klamotten stecken wollte, erblickte er im Flur ein Paar Damenschuhe.
„Größe 42… Nicht Dianes Größe. Und nicht ihr Style.“
Sebastian öffnete die Kammertür. Ein rotes Post-it fiel ihm direkt ins Auge:
Bitte schmeiß nicht wieder meine ganzen Sachen weg. Wird mir auf die Dauer zu teuer.
Wie angewurzelt stand Sebastian da und blickte auf den Zettel. Nur sein Brustkorb bewegte sich im Rhythmus seiner Atmung.
Das Klingeln des Telefons erlöste ihn schließlich aus der Starre.
„Sebastian Schröder.“
„Guten Tag Herr Schröder, Dr. Wrobel am Apparat. Sie hatten mir auf den Anrufbeantworter gesprochen und um Rückruf gebeten….“
Sebastian, noch immer geschockt von der Mitteilung an seiner Kammertür, brachte zunächst kein Wort heraus.
„Herr Schröder, sind sie noch dran?“
„Ja. Ja, ich bin noch dran.“
Mit der linken Hand strich er sich die Schweißperlen von der Stirn. „Ich habe Ihre Telefonnummer auf einem Zettel gefunden. Normalerweise wollte ich meine Ex anrufen. Ich dachte, sie hätte noch Klamotten bei mir…“ Sebastian war hörbar verwirrt.
„Herr Schröder, kommen Sie bitte heute noch in meine Praxis. Passt Ihnen 15:00 Uhr?“
„15:00 Uhr? Ähm… Ja, müsste gehen.“
„Sie wissen, wo meine Praxis ist?“
Sebastian hielt den Zettel mit der Nummer des Therapeuten in der linken Hand und drehte ihn um. Auf der anderen Seite befand sich eine Adresse.
„Äh, die ist in der Hochstraße.“ Er war sich nicht sicher, versuchte aber, sicher zu wirken.
„Genau. Super, dann sehen wir uns später.“
„Ist gut. Bis später. Und vielen Dank für Ihren schnellen Rückruf.“
Ein angeekelter Blick, nach dem Prüfen des Achselgeruchs, ließ keine Zweifel aufkommen – Sebastian musste duschen. So konnte er nicht unter Leute.
Im Badezimmer erwartete ihn eine Armee roter Post-it´s. Auf den meisten stand einfach nur:
Nicht wegwerfen.
Sie befanden sich auf sämtlichen Schminkutensilien, dem Duschgel mit weiblichem Duft und dem Shampoo für stark strapaziertes Haar.
„Wie kommt das ganze Zeug hier her?“
Sebastian wusste es nicht, auch wenn er sich noch so sehr das Hirn zermarterte.
„Hallo Herr Schröder. Schön, dass Sie gekommen sind.“
Sebastian setzte sich auf einen der großen, bequemen Stühle. Zwischen ihm und Dr. Wrobel stand ein kleiner, runder Glastisch.
„Wie geht es Ihnen?“, wollte Dr. Wrobel wissen, nachdem auch er Platz genommen hatte.
Der Raum machte auf Sebastian einen friedlichen und beschützenden Eindruck. Er fühlte sich hier wohl und seine Zunge wurde locker.
„Eigentlich fühlte ich mich gut. Ich bin heute Morgen voller Begeisterung aufgestanden. Als ich aber dann die Frauenkleidung im Schrank sah, war es vorbei mit der Freude.“
„Was war Ihr erster Gedanke?“
„Ganz ehrlich? Ich dachte: Diane du Schlampe, du hast schon wieder etwas hier vergessen. Deswegen bin ich auch zum Telefon gestürmt und wollte sie anrufen. Doch ich fand diesen Zettel.“
Sebastian gab Dr. Wrobel den gelben Post-it.
„Sehr schön Herr Schröder. Sie haben das, was wir in der letzten Sitzung besprochen hatten, umgesetzt.“
Sebastian wusste nicht, wovon Dr. Wrobel sprach. Dieser spürte dies und versuchte Licht in Sebastians Dunkelheit zu bringen.
„Als Sie das letzte Mal Ihre Ex-Freundin wegen der Frauenkleider in Ihrem Schrank anriefen, gab es wieder einen großen Streit. Daraufhin habe ich Ihnen den Rat gegeben, sich kurze Notizen zu machen und bedeutende Dinge aufzuschreiben. Sie dürfen nicht mehr bei Diane anrufen. Zumindest nicht wegen den Kleidern. Es bringt Ihnen nichts. Wichtig war, dass Sie sich meine Nummer notiert haben. Das haben Sie sehr gut gemacht und wie Sie sehen, hat es geklappt.“
Allmählich kam Sebastian die Erinnerung zurück.
„Aber was ist dann mit diesen Zetteln??“
Er gab Dr. Wrobel die roten Post-it´s.
„Die sind von Anne. Sie hat das geschrieben. Sehen Sie, es ist definitiv eine andere, eine weibliche, Schrift.“
„Anne?? Wer ist Anne?“
„Anne ist ein Teil von Ihnen. Der Teil, der die unschönen Dinge erledigt.“
Dr. Wrobel nahm seine Brille ab und rieb mit seinen Fingern an den Bügeln. „Sie hat vermutlich ihren gelben Zettel entdeckt und die Idee kopiert. Sie dachte sich wohl, dies sei eine gute Möglichkeit, Ihnen Nachrichten zu hinterlassen.
„Ein Teil von mir? Woher wissen Sie das?“
„Ich durfte Anne kennenlernen. Sie hat mir viel von sich…“, Dr. Wrobel machte eine kurze Pause, „…und Ihnen erzählt.“
„Ach ja“, sagte Sebastian in leicht angesäuertem Tonfall. „Was hat sie denn alles gesagt?“
„Nun Herr Schröder, Anne erzählte mir zum Beispiel, wie gut Sie kochen könnten und das Sie ein guter Mensch seien.“ Die negativen Dinge, erwähnte er nicht.
Sebastian freute sich über die Komplimente, wenngleich sie ihn ein wenig verlegen machten.
„Können Sie sich noch daran erinnern, was ich Ihnen bezüglich ihrer Erkrankung gesagt habe?“
Sebastians Gedanken ratterten und kleine Bruchteile fielen ihm ein. Es war wie ein großes Puzzle, bei dem aber noch viele Teile fehlten.
„Ich weiß noch, dass Sie mir sagten, ich hätte eine Persönlichkeitsstörung.“
„Genau. Prima. Vielleicht sollten Sie sich auch das aufschreiben.“
Dr. Wrobel gab Sebastian einen kleinen Zettel und einen Stift.
„Schreiben Sie bitte: Ich habe eine dissoziative Identitätsstörung.“
„Kann ich mich deswegen so schwer an Dinge erinnern?“
„Nein. Diese Problematik trat erst später auf. Anne war in einen…“, Dr. Wrobel machte erneut eine kurze Pause, nahm einen der Brillenbügel in den Mund und grübelte nach einer passenden Formulierung, „…sagen wir mal - Unfall verwickelt. Dabei erlitt sie ein Schädel-Hirn Trauma.“
Sebastian konnte es nicht fassen, schossen ihm doch gerade blitzartig die Bilder des, wie Dr. Wrobel meinte, Unfalls, in den Kopf. Tränen kullerten ihm über die Wangen. Er war unschuldig und doch der Leidtragende.
„Ich möchte mit Anne nichts zu tun haben. Machen Sie, dass sie weg bleibt! Bitte!“
Dr. Wrobel stand von seinem Stuhl auf und tat etwas, was er sonst nicht machte: Er nahm Sebastian in den Arm. „Ich werde Ihnen helfen. Vertrauen Sie mir. Aber Sie müssen mich auch unterstützen und gut mitarbeiten. Den heutigen Tag sehe ich als großen Fortschritt.“
Sebastian lag in den Armen seines Therapeuten und war für einen Moment so sehr er selbst, dass er sich mit Leib und Seele fallen lassen konnte.
„Ich danke Ihnen für ihre Hilfe.“
Dr. Wrobel packte Sebastian an seinen Oberarmen und gab Ihm zum Abschluss der Sitzung noch etwas mit auf den Weg:
„Ich kann Ihnen nur so gut helfen, wie Sie es zulassen. Von daher: Danken Sie auch sich selbst.“
Dann ging er an einen der rustikalen Schränke. Diese waren im ganzen Raum verteilt. Von dort brachte er Sebastian eine kleine Kiste mit.
„Dies ist von nun an unsere Schatzkiste. Zu jeder Sitzung, werden wir sie auf den Tisch legen und wichtige, schöne sowie hilfreiche Erinnerungen und Notizen in sie hineinlegen. Wenn es Ihnen mal nicht so gut geht, holen Sie einen der Zettel raus und lesen, was auf ihm geschrieben steht. Das wird Ihnen Kraft und Halt geben.“
Sebastian wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er spürte, dass er auf dem richtigen Weg war.
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Letzte Aktualisierung: 16.08.2015 - 17.05 Uhr Dieser Text enthält 8420 Zeichen. www.schreib-lust.de |