Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt | September 2015
Note für Note
von Sheila Perez

Das Leben ist eine Leiter, der jede zweite Sprosse fehlt. Nach einer Überdosis Johanneskraut, Thyroxin und experimentellen Aufhellern zum Frühstück versuche ich es mit Beschäftigungstherapie, um den Kopf frei von kreisenden Gedanken zu bekommen. Ich entspanne die innerlichen Saiten als auch jene meiner mittelalterlichen Laute … und ziehe sie anschließend wieder auf.
Mit einsetzender Wirkung tanzen Dopa und Serotonin einen Reigen wie jungfräuliche Blumenkinder auf einer Schmetterlingswiese. Ich öffne die Fenster, lasse Sonne ins Herz – wohne im Parterre, wo mir nichts passieren kann, wenn neue Wolken mich zum Springen ermutigen. Von Fern rauscht das Meer, von nah das Blut in den Frequenzen kosmischer Hintergrundstrahlung, gleich Schönbergs Dissonanzen für Laien und Kunstverächter, deren Sinne nur einfache Strukturen akzeptieren. An der Wand hängt ein Foto von einem Ort, an dem sich einst zwei Stahlbeton-Finger gen Himmel streckten, und zu einem ebenerdigen Mahnmal der sinnbefreiten Gewalt wurden. An jenem Tag hätte für mich ein neues Leben beginnen können, doch jenes das begann, war nicht das erhoffte. Mein Debüt auf großer Bühne löste sich in Schutt und Staub auf. Ich könne von Glück reden, es unverletzt überstanden zu haben, sagten die Anderen, solle mich nicht so anstellen, rieten mir die Unbeteiligten in ihrer Ignoranz meiner seelischen Verfassung. Gut, ich gehörte nicht zu den tausenden Toten jenes Septembers, es ist jedoch eine individuelle Frage, wie man Tod definiert.
Regina omnium instrumentorum musicorum – Königin aller Instrumente, meine Gefährtin, beste Freundin und Einzige, die mich zu verstehen scheint. Ich beginne zur Aufwärmung mit einer Komposition von John Downland und Francesco da Milano und springe durch die Epochen bis hin zu einer instrumentalen Adaption von Mozarts Requiem. Tägliche Standards aus dem Handgelenk. Die Laute ist eine Leiter ohne klangliche Lücken. Mathematisch definierte und wohltemperierte Abstände zwischen den Bünden mit Därmen aus Schwein, die einen unverwechselbaren Ton entfalten. Im Grunde morbid, tote Tiere zum Singen zu bringen – allerdings passend zu meinem üblichen Gemütszustand. Irgendjemand hatte den Kelch an mir vorüberziehen lassen und bestrafte mich dennoch. Ich wechsle ins 21. Jahrhundert, in dem meine Regina mit ihren vielen Chören nur noch eine elitäre Reminiszenz an altvordere Meister verkörpert – lange bevor uns Maschinen das Musizieren aus den Fingern rissen. Bis zum Nachmittag improvisiere ich.
Am Abend bereite ich mich vor für einen letzten Versuch, eile mit schwarzem Kleid und Instrumentenkoffer zum Taxistand. Es ist dunkel – es ist gut, denn die Wirkung der Medikamente lässt nach, und die Dunkelheit beschützt ihre Kinder.
Am Ort der Katastrophe sind Stühle und eine kleine Bühne aufgebaut. Der Kreis schließt sich. Reginas Art hatte Jahrhunderte überstanden, die oft alles Andere als erhellend waren. Sie war Zeugin unsäglichen Leids gewesen, doch vermochte ebenso, die Menschen zu trösten. Sie war wie ich – sie ist wie ich. Mit diesem festen Gedanken betrete ich die Bühne. Ich habe keine Ansprache vorbereitet. Das überlasse ich lieber den Offiziellen und Politikern. Als maître du Luth kennt meine Sprache keine Worte. Sie ist international und zeitlos, vom Ohr ins Herz ohne Umwege. „Stehe mir bei, Regina, denn nun spiele ich um mein eigenes Leben“, beschwöre ich mein Instrument.
Das Schweigen nach dem Schlussakkord scheint bedrückend, doch diesmal verständlich. Aber langsam erhebt sich das Publikum, klatscht Beifall und fordert Da capo!
Sie alle waren Opfer oder hatten solche zu beklagen … und sie haben Recht: Da capo, denn das Leben muss weitergehen, mit oder ohne fehlende Sprossen.
Nach dem Konzert spüle ich die Medikamente, die nur betäubten, jedoch nichts lösten, in der Toilette hinunter. Heute Nacht werde ich schlafen wie lange nicht mehr, und morgen ist ein besserer Tag mit weit geöffneten Fenstern und einem Spaziergang am Meer für ausschließlich positive Inspirationen und einer inneren Welt bar jedweder Depression.
Danke, Regina – danke für dein Geleit zurück ins schöne Leben. Die Welt vermagst du vielleicht nicht zu heilen, aber mich, als Zentrum meines Ichs, welches nie verdiente, durch Fehler anderer zu leiden.

Letzte Aktualisierung: 21.09.2015 - 13.58 Uhr
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