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Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt | September 2015

Krimskrams
von Klaus Eylmann

Zu laut! Der Mann auf dem Podium bellte seine Worte hinaus. Zu hell! Die Sonne warf grelles Licht auf Schneiders Unterlagen. Der, von Beruf Kriminalkommissar, hatte Mühe, dem Vortrag zu folgen. In seinem Kopf wütete ein Trommler-Pfeifer Chor. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete er, wie der Adamsapfel des vortragenden Psychologen auf und ab hüpfte. Am Abend zuvor hatten Kollegen und er nach einer Abteilungsfete noch ein paar Bier bei Lehmitz auf der Reeperbahn getrunken, von denen Schneiders Bürogefährte Udo Schmitz sich anscheinend noch nicht erholt hatte. Diesen Morgen war er nicht zum Dienst erschienen.
„Das Gebiet der Gefühle oder Emotionen ist unübersehbar und theoretisch psychologisch noch vollkommen unbewältigt. Das schrieb Charlotte Bühler in den sechziger Jahren.“ Dröhnende Wörter zogen wie feindliche Flugzeuge über Schneider hinweg. Er hatte sich in der letzten Reihe verschanzt und blickte unter halb geschlossenen Augenlidern durch das Fenster hinter dem Podium auf das gegenüberliegende Gebäude, schreckte hoch, als jemand neben ihm eine Seite der Dokumentation umblätterte.
„Inzwischen sind wir so weit, dass wir Emotionen durch gezielte Werbung hervorrufen, beeinflussen und verstärken können.“ Schneider nahm es teilnahmslos zur Kenntnis. Auch, dass ein Mann aus dem gegenüberliegenden Gebäude fiel. Rufe der Nachbarn fokussierten seine Sinne. Der Stuhl krachte auf den Boden, als er sich ungelenk erhob. Schneider griff nach den Papieren und verließ den Saal.
Wohltuende Stille, mattglänzendes Linoleum unter gedämpftem Licht. Schneider schlurfte über den Korridor, hielt sich die Treppe hinuntersteigend am Geländer fest, betrat sein Büro, stieß auf Udo, der von seinem Schreibtisch zu ihm herüberstarrte und stöhnte: „Ich bin immer noch knülle.“
„Gerade ist jemand auf der anderen Straßenseite aus dem Fenster gefallen. Sehen wir mal nach“, nuschelte Schneider.
„Du bist wohl auch noch nicht ganz da.“ Udo rieb sich die Augen.
„Komm schon“, brummte Schneider. Gemeinsam stolperten sie die Stufen hinab, bewegten sich aus dem Eingang des Polizeigebäudes und sahen einem Krankenwagen hinterher.
„Keine Sirene. Dann ist er tot“, konstatierte Udo. Es regnete. Wolken schoben sich über den Himmel.
Schneider blieb einen Augenblick stehen, blickte zum zerbrochenen Fenster hinauf und rieb sich den Hals. „Und jetzt da hoch.“
Oben im Treppenhaus standen junge Frauen und Männer in T-Shirts und Jeans, die durcheinander redeten und sich verstört ansahen.
Schneider zückte seinen Ausweis. „Kriminalpolizei. Was ist passiert?“
„Er hat sich als Testobjekt zur Verfügung gestellt“, stotterte einer der jungen Leute.
„Wer?“, fragte Udo.
„Doktor Heinemann. Unser Boss. Er hat sich die Oculos Rift aufgesetzt.“
„Die was?“ Schneider sah fragend auf Udo. Der schüttelte den Kopf.
„Na, die VR-Brille.“
„VR?“
„Virtual Reality. Wir versuchen, Werbung in 3-D Computer-Spielen unterzubringen, weil wir davon überzeugt sind, dass sie in dieser Art von Spielen einen höheren Wirkungsgrad besitzt.“
„Sie glauben gar nicht, wie sich das anfühlt, wenn Sie die Brille tragen“, bemerkte jemand. „Sie stecken mitten in der Handlung.“
„Und was hat das damit zu tun, dass der Doktor, wie heißt er noch gleich?“
„Heinemann“.
„Der Doktor Heinemann sich aus dem Fenster gestürzt hat?“
„Wir haben“, so meldete sich ein anderer. „ein Spiel entwickelt, in dem Verfolgungsjagden mit dem Motorrad stattfinden und die Werbung einer Fluggesellschaft mit dem Slogan eingebaut: ‚Nur Fliegen ist schöner‘. Und dazu eine Flugszene. Das hat Doktor Heinemann wohl zu wörtlich genommen.“
Eine junge Frau fügte hinzu: „Die Werbung wirkt über die Oculus und deren Programmierung direkt auf das Emotionszentrum des Spielers ein, jazzt Amygdala und Hippocampus hoch.“
„Das macht es ja für die Industrie so interessant“, warf ein Dritter ein.
„Soso“, meinte Schneider und zu Udo. „Ruf mal zwei Kollegen herbei, die diesen Ort absperren und nimm die Personalien auf.“
„Danach“, sagte er beim Weggehen, „können Sie nach Haus gehen. Sie werden von uns hören.“ Schneider ging ins Büro zurück, sah auf die Uhr. Mittagspause. Er machte sich auf den Heimweg.
Emma, Schneiders Frau, wartete schon mit dem Essen auf ihn.
„Bei uns war wieder was los“, meinte er, als er sich an den Tisch setzte und die Gläser füllte. „Und wie war´s bei dir?“
„Wenn du im Supermarkt an der Kasse sitzt, erlebst du nicht viel Aufregendes.“
„Hm“, meinte Schneider. „Hast du schon mal was vom Hippocampus und der Amygdala gehört?“
„Die kennt doch jedes Kind.“
„Was?“
„Klar doch. Aus Disney Filmen.“
Bevor Schneider ansetzen konnte, prustete sie los. „Schon gut. Sind Teile des Hirns, in denen Emotionen entstehen.“
„Und wieso weiß ich das nicht?“, fragte sich Schneider verblüfft.
„Ich arbeite nur halbtags. Das muss ich kompensieren.“ Emma sah zufrieden aus, als sie das sagte und hinzufügte: „Und du kommst anscheinend zu nichts anderem als Verbrecher zu jagen.“
Lag ein Vorwurf in Emmas Gesichtsausdruck? Nie und nimmer. Sie lächelte wie eine Cheshire Katze. Doch wie kam es, fragte sich Schneider, dass sie so zufrieden war? Vor wenigen Wochen noch hatte sie traurige Liebeslieder gesungen und sich auf der Ukulele begleitet. Und nun saß sie da wie ein in sich ruhender Buddha. Hatte sie etwa einen anderen? Schneider verscheuchte den Gedanken.
„Da ist was dran“, gab er zu. „Ich bin heute aus einem Vortrag ausgebüxt.“

Im Büro fand er: „Udo, wir sollten zwei Techniker nach drüben schicken, welche die Apparatur untersuchen.“
„Mir ist heute aufgefallen, wie ignorant wir doch sind“, meinte der. „Wenn wir unser Wissen über diesen technologischen Krimskrams nicht vertiefen, geraten wir ins Hintertreffen.“
Schneider verzog sein Gesicht. „Das ändert sich doch ständig. Wenn du heute eine Wurst kaufst, ist sie morgen schon von gestern. Da kommen wir doch gar nicht hinterher. Mit Ausnahme von Emma, die hat Zeit, sich für alles Mögliche zu interessieren.“
Udos Gesicht blieb ausdruckslos. „Übrigens fehlt ein Teil: der VR-Viewer.“
„Der was?“
„Das Sichtgerät ist mit dem Toten abtransportiert worden“, sagte Udo.
„Hat er das noch auf dem Kopf gehabt?“
„Klar doch, während des Fluges aus dem Fenster hat er das nicht abgenommen.“
„Hätten doch die Sanitäter später tun können.“
Udo griff nach dem Hörer. „Ich ruf mal an.“
„Sie schicken es morgen früh vorbei.“ Udo legte wieder auf.

Am nächsten Morgen gingen die Techniker in das gegenüberliegende Gebäude.
„Ich habe noch gar nicht in die Zeitung gesehen“, murmelte Udo und zog die „Bild“ aus der Aktentasche, überflog die Schlagzeilen, runzelte die Stirn, warf das Blatt über den Tisch und erhob sich.
„Ich gehe mal rüber und rufe die Techniker zurück. Heinemann hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.“
Version 2

Letzte Aktualisierung: 20.09.2015 - 18.24 Uhr
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