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Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt | September 2015

Das Leben ist kein Wunschkonzert
von Anne Zeisig

November:

Ich schließe verfroren die WohnungstĂŒr auf.
Kann mich endlich auf das Sofa fallenlassen und hemmungslos weinen. Habe eine Stunde vor Feierabend bemerkt, dass die dritte In-Vitro-Fertilisation wieder vergebens war.
Kein Mediziner!
Keiner kann sagen, warum wir, Volker und ich, keinen Nachwuchs zeugen können.
Wir sind diese SprĂŒche so leid.
Von Ärzten: “Fahren Sie doch unbeschwert in den Urlaub.” “Kochen Sie ihrem Mann heute Abend doch ein tolles Essen. Kerzen auf den Tisch.” Und Augenzwinkern.
Von Arbeitskollegen: “Soll ich mal vorbei kommen? Dann klappt das auch.” “Ey! Nur Luft im Sack?”
Von meiner Mutter: “Ich habe fĂŒnf großgezogen! Glaube mir! Ich beneide dich. Hast einen tollen Beruf, verdienst dein eigenes Geld. Mit einem Kind kannst du keine Karriere machen.”
Meine Freundin: “Es soll halt nicht sein. So ist das, wenn man zu lange wartet.”
Seit vier Jahren fahren wir unbeschwert in den Urlaub und wie oft wir ‘romantisch’ gegessen haben, kann ich nicht mehr zĂ€hlen. Fremdgehen mag ich nicht, weil die Luft bei uns noch lange nicht raus ist, obwohl wir zehn Jahre verheiratet sind.
Und meine Mutter hat immer noch nicht kapiert, dass ich Karriere gemacht habe, darin aber keinen Sinn mehr sehen kann. Außerdem will ich nicht fĂŒnf, nein, ich will nur ein Kind.
Ein einziges!
Obwohl ich immer zwei wollte. Einen Jungen und ein MĂ€del.
Bin bescheiden geworden.
Und demĂŒtig.
Das Leben ist kein Wunschkonzert.
Trotzdem muss ich wieder heulen. Ich heule seit vier Jahren, jeden Monat.
Jeden Monat!
Seit achtzehn Monaten ‘fahren wir zweigleisig’.
Haben das gesamte Jugendamts-Prozedere ĂŒberstanden mit dem Ergebnis, dass die Aussicht auf einen SĂ€ugling gering ist, weil mein Mann zehn Jahre Ă€lter ist als ich.
Ob wir uns ein behindertes, oder auch Àlteres Kind vorstellen könnten?
Wir besuchen Kurse, machen uns sachkundig. Können uns vorstellen, ein unperfektes Kind zu lieben, ins Leben zu begleiten.
Fahren in den Urlaub und essen ‘schön zu zweit’.
Ich fĂŒhle mich wie eine ‘Eierproduzentin’.
Der Reproduktionsmediziner: “Toll! Wir haben fĂŒnf Eier zur VerfĂŒgung!”
Ich bin dreißig. Im Moment fĂŒhle ich mich wie sechzig. Die Hormonbomben machen mich fertig, mir wird oft ĂŒbel und ich leide unter Stimmungsschwankungen.
Volker, mein Mann, hat ein dickes Fell. Den haut so schnell nichts um.
Sonst wÀre diese Ehe wohl lÀngst gescheitert.

Ich gehe nur widerwillig ans Telefon. Ein GesprĂ€ch mit meiner Freundin oder meiner Mutter kann ich nun ĂŒberhaupt nicht gebrauchen.
“KrĂ€mershagen.”, melde ich mich und schnĂ€uze ins Taschentuch.
“Jugendamt. Adoptionsvermittlung.”
Sie haben ein Kind fĂŒr uns!
In der KĂŒrze keine weiteren Fragen! Jedenfalls ein Junge und er hat ‘was an den Augen’, mehr beim Termin in einer Woche.
Klick!
Ich verfalle in eine Schockstarre. Meine Mundhöhle ist trocken.
Ein blinder Junge? Das wÀre egal. Einfach ein Kind.
Wie alt eigentlich? Die spinnen! Termin erst nÀchste Woche!!!
Die sind offenbar sadistisch veranlagt.
Wut und Groll steigt in mir hoch, ich stehe auf, hebe die schwere Bodenvase hoch und zerschmettere sie auf dem Parkett.
Ruuuummmmssss!
Und plötzlich ist es so ruhig hier im Haus.
Ich ziehe meine Joggingschuhe an und renne los.
Ist er blond wie Volker? BrĂŒnett wie ich?
Quatsch.
Das ist doch scheißegal.
Anstatt hier herumzulaufen, sollte ich lieber in die Stadt fahren und eine Modelleisenbahn kaufen.
Und wenn er uns nicht mag?
Habe den Eindruck, dass meine TrÀnen sofort auf meinen Wangen gefrieren.
Plötzlich gibt es da ein Kind fĂŒr uns!
Er hat sich lÀngst in meinem Kopf und in meinem Herzen eingenistet.
Das ist total verrĂŒckt.
Ich kenne ihn doch ĂŒberhaupt noch nicht.

* * *

Dezember:

Um fĂŒnfzehn Uhr sitzen wir endlich im Esszimmer des Kinderheims.
Jean-Pierre ist drei Jahre und er schielt auf dem linken Auge. Das haben wir bereits beim Jugendamtstermin erfahren.
Meine HĂ€nde sind feucht, ich kralle mich in Volkers Arm fest und mein Herzschlag pocht in den Ohren.
Jean-Pierre stolpert in den Raum hinein, steuert auf ‘seine’ Erzieherin zu und plappert munter drauf los, was er im Kindergarten erlebt hat. StĂŒrzt sich zeitgleich auf den Keksteller, der vor mir und Volker auf dem Tisch steht, blickt uns kurz an, beißt in das PlĂ€tzchen, lĂ€chelt uns zu und dabei fallen ihm ein paar KrĂŒmel aus dem Mund.
Diese Szene spielt sich vor meinen Augen wie in Zeitlupe ab.
Der Kleine trÀgt eine blaue Latzhose, hat mittelbraunes Haar, kleine ZÀhnchen und einzigartige Ohren.
SĂŒĂŸe, kleine Specköhrchen.
Mein Herz hĂŒpft vor Freude. Er ist so klein, so zierlich.
Uns erzÀhlt er auch was, aber ich verstehe nicht ein einziges Wort.
“Seit Jean-Pierre bei uns ist, in diesem halben Jahr hat er bereits enorme Sprachfortschritte gemacht”, erklĂ€rt die Erzieherin. Die Heimleiterin nickt zustimmend und schlĂ€gt vor, dass wir mit dem Kleinen in den Park gehen könnten, wenn wir uns vorstellen könnten . . .
Die WĂŒrfel sind lĂ€ngst gefallen.
Was sagt man in so einem Moment?
Ich schaue Volker an. Er schweigt und lĂ€chelt, nickt mir zu. DrĂŒckt sanft meine Hand, die ich verkrampft zur Faust geballt habe.
Nur nicht sentimental werden.
Nicht jetzt. Kann doch sein, dass er uns nicht mag.
Jean-Pierre! Niemals hÀtten wir unserem Kind so einen französischen Namen gegeben.
“Werden wir ihn lieben können wie ein leibliches Kind?”, frage ich meinen Mann leise, als wir uns zum Spaziergang aufmachen.
“Wir hĂ€tten ihn selber nicht besser machen können.” Volker lacht. FĂŒr ihn ist immer alles so einfach.
Haben wir ĂŒberwunden, dass wir kein ‘eigenes’ Kind haben werden? Keinen SĂ€ugling? Bei dem kleinen Mann fehlen uns drei Jahre, auch wenn wir sehr gut ĂŒber seine Familiengeschichte informiert worden sind. Wird man nur Mutter mit dem Kind im Bauch, oder auch mit dem Kind im Kopf, im Herzen?
Jean-Pierre lacht und will uns den Weg zum Spielplatz zeigen, lÀuft voraus und erklimmt ein Hoppelpferdchen.
Volker wird Papa! Mein Mann wird Papa sein. Ich kann mir das nicht mehr vorstellen.
Beklemmung und Angst steigen in mir hoch.
Volker singt: “Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fĂ€llt, dann schreit er.”
“Woher kennst du dieses Kinderlied?”, frage ich ihn.
“Von meiner Mutter. Hat sie mir immer vorgesungen.”
“Aha.”
Meine Furcht ist wie weggeblasen. Ich drĂŒcke ein paar TrĂ€nen weg.
“Bist du traurig?”, fragt mich der kleine Kerl.
Ich drĂŒcke ihn an mich. “Neeee. Nur ‘n Schnupfen.”
Jean-Pierre fragt uns Löcher in den Bauch.
Warum ist Wiese blau? Er kann Blau und GrĂŒn nicht auseinanderhalten.
Warum fahren Autos? Warum ist es heute so kalt? Wo wachsen Cornflakes?
Er lĂ€uft quirlig um uns herum und plappert drauflos, ich verstehe, ehrlich gesagt, wenig von seinem Kauderwelsch, bin fasziniert von diesen sĂŒĂŸen Specköhrchen, er will keine MĂŒtze tragen. “Aber es ist so kalt.”
Zum Abschied haucht er mir ein KĂŒsschen auf die Wange und tĂ€tschelt die von Volker.

Unser Haus ist ĂŒberhaupt nicht kindgerecht!
Die Treppe ist zu steil, der Garten ist zu klein, und wir mĂŒssen unbedingt das Schlafzimmer gegen das Kinderzimmer tauschen, weil das grĂ¶ĂŸer ist.
Die Anspannung fĂ€llt von mir ab, ich hocke auf dem Boden, drĂŒcke einen Teddy an mich und heule mal wieder.
“Heulsuse”, frotzelt Volker, “unser Sohn wird eine Heulsusenmami bekommen.”
Unser Sohn!

* * *

Januar:

“Ich bleibe bei euch fĂŒr immer und ewig!”
Jean-Pierre spielt Baby. Ich muss ihm die Flasche geben, ich muss ihn in meinen Armen wiegen und wir bewundern einen Regenbogen, den seine verstorbene Mutter in den Himmel gemalt hat.
Volker hat recht. Ich bin ‘ne Heulsusenmami.
Und eine Lachmami!
Weil unser Sohn voller Inbrunst singt, wenn er badet und mich morgens um Sechs mit seinen ‘Witzen’ aufweckt, die er sich selber ausdenkt.
Ich bin auch eine besorgte Mami, die abends erschöpft alle Viere von sich streckt, wenn das lebenslustige Kerlchen endlich in einen tiefen Schlaf gefallen ist, weil er mit seinem RÀdchen viel zu schnell vorne wegfÀhrt und ich hinterher hechele.
Weil er wagemutig ist und vom viel zu hohen KlettergerĂŒst hinunterspringt und sich im Schwimmbad ohne Zögern ins tiefe Wasser stĂŒrzt.
Volker ist gelassen. “So sind Jungs eben.”

Februar:

Die Großeltern waren da und meine Freundin. Am Ende hatte unser Familienzuwachs versehentlich einen Zipfel der Tischdecke heruntergezogen und sĂ€mliches Geschirr samt der Torte war auf dem Parkett gelandet.
Scherben bringen GlĂŒck!
Volker runzelt die Stirn. “Wir mĂŒssen ihn aber auch erziehen. Er muss lernen, dass ... “
“Ja”, antworte ich, “aber nicht mehr heute”, und setze den verschwitzten Jean-Pierre in die Badewanne mit einer gelben Gießkanne, wĂ€hrend ich unsere GĂ€ste verabschiede, die unseren Sohn durchgĂ€ngig sĂŒĂŒĂŒĂŒĂŸ finden.
In dieser kurzen Zeit hat der Wonneproppen das Bad unter Wasser gesetzt.
“Hab alles abgespritzt, alles ist sauber.” Jean-Pierre strahlt mich an.
Die Idee mit der Gießkanne war wohl nicht so gut. Naja, ich lerne dazu.
“La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu.”
Ich falle hundemĂŒde ins Bett. Mache kein Auge zu. Lausche zum Kinderzimmer. Stehe immer wieder auf, weil mir kotzĂŒbel ist.
Setze mich ans Bett des Kleinen. Streife sanft ĂŒber sein seidiges Haar.
Ich liebe dieses Kind!
Wirklich? Ja.
Und weine und lÀchele.

* * *

MĂ€rz:

“GlĂŒckwunsch! Sie sind bereits im vierten Monat!”
Was?
“Das kann nicht sein”, stottere ich.
Volker heult.
“Heulpapi?”, flĂŒstere ich. Bloß nicht sentimental werden.
“Ich will ‘ne Schwester!”, ruft Jean-Pierre.
“Das Leben ist kein Wunschkonzert”, sage ich, “‘n Fußballbruder ist doch auch was Tolles.”
Er stampft mit den FĂŒĂŸen auf den Boden auf. “Ich will aber eine Schwester!”
Ich ziehe meine Joggingschuhe an und renne los.
Ob es ein MĂ€dchen wird?
Blond wie Volker oder braun wie ich?
Hoffentlich ist sie gesund.
Quatsch!
Es könnte ja auch ein Er sein.


Anne Z. ENDversion

Letzte Aktualisierung: 23.09.2015 - 13.27 Uhr
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