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Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt | September 2015

Verbittert
von Ingo Pietsch

Ich saß Wohnzimmer und las gerade die Tageszeitung, als mir die Todesanzeige von Irmgard Dreier ins Auge stach.
Ich atmete tief durch. Vor zwei Tagen war ihre Beerdigung gewesen.
Irmgard war meine ehemalige Nachbarin im Haus gegenüber.
Ich legte die Zeitung zur Seite und stand auf.
Beerdigungen waren etwas, was ich zu meiden versuchte. Das hatte auch all die Jahre gut geklappt, da in meinem Bekanntenkreis bis jetzt kaum jemand verstorben war.
Das letzte Mal war vor über zwanzig Jahren gewesen, als meine Eltern zu Grabe getragen wurden. Ein Verkehrsunfall.
Ich wäre vielleicht sogar auch gar nicht hingegangen, wenn ich sie nicht so ins Herz geschlossen hätte.
Auf einem Sideboard standen eine Menge Fotos von mir, Susanne, unseren Zwillingen und Irmgard.
Ich mit Susanne und dem Doppelkinderwagen.
Kurz nach unserem Einzug in die Straße, gingen wir mit dem Kinderwagen spazieren. Das war unsere erste persönliche Begegnung mit Irmgard Dreier.
Die ersten paar Monate war sie für uns nur die Frau, die die ganze Straße ausspionierte und über jeden tratschte. Sie beugte sich aus dem Küchenfenster ihrer Wohnung im ersten Stock und machte es sich auf einem Kissen gemütlich, dass auf dem Rahmen lag.
Sie ließ es sich auch nicht nehmen, Mitbewohner und Nachbarn zu kritisieren und zurechtzuweisen: „Sie stehen mit ihrem Auto gegen die Fahrtrichtung!“, „Der Mantel hat aber eine grässliche Farbe!“ oder „Sie sind aber spät dran!“.
Sie rief dann mit ihrer kratzigen Stimme so laut, dass es die ganze Straße rauf und runter schallte.
Rein zufällig ging sie auf der gleichen Straßenseite wie wir mit ihrem Rollator spazieren und passte uns ab.
„Ach, die Neuen!“, sprach sie uns freundlich mit ihrer rauen Stimme an und blickte in den Kinderwagen.
Die Mädels fingen prompt an zu schreien.
Susanne war schon im Begriff weiterzugehen und machte ein verkniffenes Gesicht.
Ich stellte uns vor und schüttelte ihr die Hand. Auf merkwürdige Art und Weise musterte sie mich dabei, dass ich mich seltsam fühlte.
Susanne versuchte die Zwillinge zu beruhigen, doch sie wurden nur noch lauter.
„Furchtbar, diese Bälger. Ich habe selber eins groß gezogen. Manchmal können sie auch aber ganz lieb sein. Schönen Tag noch!“
Meine Frau und ich sahen der Dreier ungläubig hinterher.
Wann immer wir die Möglichkeit fanden, mieden wir seitdem ihre Anwesenheit.
Irmgard musste damals ungefähr fünfzig gewesen sein, aber wegen eines Hüftleidens war sie auf einen Rollator angewiesen.
Treppen schienen allerdings kein Problem: Manchmal sah sie aus dem Fenster, nur um gefühlte 10 Sekunden später am Hauseingang zu stehen.
Immer wenn sie mich traf, blickte sie mich so unheimlich wie bei unserem Kennenlernen an.
Ich dachte mir aber nichts weiter dabei, denn alle in der Straße hielten sie für verschroben und ein bisschen durchgeknallt.
Es gab einmal eine Situation, als die Mädels Irmgard mit ihren Rollern eingekesselt hatten.
Sie war ganz schroff zu ihnen gewesen und hatte sie zum Weinen gebracht.
Als wir sie am nächsten Tag auf dem Weg zur Schule trafen, fragte eins meiner Kinder: „Stirbst du bald?“
„Ne, den Gefallen tue ich euch nicht!“, antwortete sie schnippisch.
Ich musste grinsen.
So war sie gewesen.
Ständig lobte sie alles möglich zum Himmel, um gleich darauf wieder herüberzuziehen.
„Ich vermisse meinen lieben Mann, den ollen Trottel!“ Sie hatte ihn geliebt und er war viel zu früh gestorben. Herzinfarkt.
Ich nahm mein Hochzeitsfoto in die Hand. Auch meine Lebenspartnerin war nicht mehr hier.
Susanne war mit Anfang zwanzig schwanger geworden, als wir beide noch studierten. Ich beendete das Studium und sie blieb widerwillig zu Hause, was sie mich bei jeder Gelegenheit spüren ließ. Aber ich war ihr nicht böse.
Kurz nach der Einschulung der Mädels hatte sie uns verlassen.
In einem Abschiedsbrief hatte sie alles erklären wollen. Den Brief hatte ich hinter das Foto geklemmt. Ich wünschte sie hätte ihn nicht verfasst, da sie mir die meiste Schuld gab, womit sie vielleicht gar nicht so Unrecht hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Alle paar Monate meldete sie sich telefonisch. Sie deutete immer wieder einen Neuanfang an, aber daran glaubte ich nach all den Jahren nicht mehr.
Ein weiteres Bild zeigte uns zusammen mit Irmgard und ihrem Sohn und seiner Familie. Michael hatte ebenfalls zwei Kinder, eines älter und eines jünger.
Sie wohnten in Süddeutschland und kamen sie immer an Feiertagen oder in den Ferien besuchen.
Nachdem Susanne gegangen war, kümmerte sich Irmgard um uns. Aus irgendeinem Grund wurde aus der alten Hexe die liebe Oma Irmgard.
Sie half mir die Zwillinge großzuziehen, kümmerte sich mit um den Haushalt und unterstützte und sogar finanziell.
Irgendwann lud sie uns sogar zu einem ihrer Familientreffen ein. Von da an gehörten wir wirklich zu ihrer Familie.
Irmgard war keine einfache Nachbarin gewesen, wenn man sie nicht näher kannte.
Ihr Wesen hatte sich auch gegenüber den Nachbarn geändert.
War sie noch am Anfang die verhasste Schreckschraube gewesen, kam zur ihrer Beerdigung fast die gesamte Straße.
Es hatte in der Kapelle keinen einzigen freien Platz mehr gegeben.
Bei der Trauerfeier wurde das Lied Ultraleicht von Andreas Bourani gespielt, eines ihrer Lieblingslieder, das sie auch selber gern gesungen hatte.
Sie hatte trotz ihrer rauen Stimme wunderbar singen können.
Ihr Gesang wehte oft aus dem Küchenfenster, wenn es offen stand.
Auch die, die sie nicht gemocht hatten, bestätigten dies.
Ihre heisere Stimme war vom Kettenrauchen gekommen und mit dem Rauchen der Lungenkrebs.
So lange ich sie kannte, hatte sie nie eine Zigarette in der Hand gehabt, geschweige denn, dass sie nach Qualm roch. Aber das lag wohl eher am Echt Köllnisch Wasser.
Bis zuletzt hatte ich vom Krebs nichts mitbekommen, sogar ihr Sohn wusste nichts davon.
Ich weiß nicht, mit welchen Mitteln sie dagegen ankämpfte, doch in nur einer Woche ging es ihr auf ein Mal so schlecht, dass sie schließlich verstarb. 65 war sie geworden.
Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und wollte in mein Homeoffice gehen, um mich mit der Arbeit auf andere Gedanken zu bringen.
Es klingelte an der Tür. Für die Post war es zu früh am Morgen. Ich putzte meine Nase und öffnete.
Michael stand dort und hielt einen Karton im Arm. „Darf ich rein kommen?“
„Klar“, sagte ich und ließ ihn ein.
Wir setzten uns ins Wohnzimmer.
Michael nahm ein Foto aus der Kiste und reichte es mir.
„Weißt du, wer das ist?“ fragte er.
Es war so ein leicht verwaschenes Polaroid. Rechts konnte man Irmgard erkennen. Sie mochte so Anfang Mitte zwanzig sein. Links stand ein junger Mann. Ich schätzte ihn auf das gleiche Alter - Und er war mir wie aus dem Gesicht geschnitten.
Ich sah Michael fragend an.
„Ich habe in Irmgards Nachlass Fotos und Tagebücher gefunden. Die sind alle hier drinnen.“ Michael klopfte auf den Karton. „Ich war neugierig und habe ein bisschen nachgeforscht. Aus den Büchern geht hervor, dass dein Vater ihr Halbbruder gewesen war. Es hat damals, als der Fehltritt unseres Großvaters bekannt wurde, die ganze Familie auseinander gerissen. Sie hat deinen Vater indirekt dafür verantwortlich gemacht und ihn aus ihrem Leben gestrichen. Niemand wusste mehr davon, denn sie hatte jeglichen Kontakt abgebrochen. Es muss schon mehr als Zufall gewesen sein, dass ihr in der gleichen Straße gewohnt habt. Schicksal eben.“
Ungläubig starrte ich Michael an. Wir standen auf und umarmten uns.
„Ich bin noch ein paar Tage hier, um noch einige Dinge zu regeln. Ich komme euch noch Mal besuchen. Und meine Nummer hast du ja auch.“
Ich begleitete ihn zu Tür und winkte ihm nach.
Dann kam ich wieder an den Fotos vorbei und erblickte Susanne.
Nach all dem, was ich heute erfahren hatte, wie wahrscheinlich wäre es, wieder mit ihr zusammen zukommen?

Letzte Aktualisierung: 18.09.2015 - 07.11 Uhr
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