Diese Seite jetzt drucken!

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt | September 2015

Unbefestigte Randstreifen
von Monika Heil

Die Nacht war ruhig. Ungewöhnlich ruhig. In der Morgendämmerung lief ich wieder los. Rasch ließ ich das Dorf hinter mir, rannte die Ausfallstraße entlang. Atemlos. Wollte die vergangenen Monate ungeschehen machen, wollte sie aus meinem Gedächtnis löschen. Vergebens. Mein Herz raste, wenn ein Auto an mir vorbeifuhr. Ich hatte Angst. Scheißangst. Ich dachte, sie wollten mich wieder einfangen und zurückbringen. Ich will nicht zurück. Nie mehr in dieses schreckliche Haus, dessen Gänge einem Labyrinth gleichen. Mein ganzes Leben gleicht einem Labyrinth.

Ich habe immer noch Angst.

Die Sonne geht auf. Ein neuer Tag. Ich lebe. Lieber Gott, ich lebe. Noch. Wieder? Ich kann reagieren. Ich habe eine Chance. Vielleicht meine letzte. ´Nutze sie`, fordert die eine Stimme in mir. Sie klingt wie Lenas Stimme. ´Ich bin dein Freund`, raunt eine andere. ´Folge mir`, lockt sie. ´Das nächste Dorf hat eine Tankstelle. Dort kann man alles kaufen`, verspricht sie. Ich habe Durst. Nicht einmal eine Spur von Speichel ist noch da. Die Trockenheit scheint meine Kehle zu verbrennen.

Ich setze mich am Wegrand nieder, hebe den Kopf. Ich blinzele in die Sonne. Ihre Strahlen wärmen mich. Sie tun mir gut. Ich genieße diesen Augenblick und weiß, ich werde auch diesen Tag überstehen, weil ich es will. Unbedingt will. Und dann noch einen und noch einen. Ich will wieder Halt unter meinen Füßen spüren. Mir ist klar, dafür benötige ich viel Mut. Und brauche ich dich, Lena. Ich brauche Hilfe. Echte Hilfe. Hilfe!!!

Hinter mir liegt der absolute Horror. Scheinfreundlichkeit, Scheingeborgenheit. Verlogenheit. Warum hast du mich dorthin gebracht, Lena? Du hast gesagt, du wolltest mir helfen. Du hast gesagt, du magst mich.

Ich sehe den Weg, der geradlinig zum Horizont führt. Wartest du auf mich, Lena? Dort, wo der Himmel scheinbar die Erde berührt? Ich will diesen Weg gehen, den Weg aus der Falle, den Weg in deine Arme. Seine Randstreifen sind uneben, rutschig, voller Gefahren. Ich bewege mich auf die Mitte zu und dann geradeaus. Gelingt mir nicht immer, Lena. Ab und zu schwanke ich auf die unbefestigten Randstreifen zu, stolpere. Es gibt so viele Stolpersteine auf meinem Weg.

Ich suchte Trost bei falschen Tröstern und stürzte ab. Bisher schaffte ich es immer wieder aufzustehen. Ich will nicht mehr stürzen, stürzen ... Jeder Fall war tiefer als der vorige. Jedes Aufstehen fiel schwerer als beim letzten Mal. Zuerst fühlte es sich gut an, sich fallen zu lassen, mit den Kumpels zu lachen, zu saufen, zu sinken. Himmelhoch jauchzend ... Am nächsten Tag das Entsetzen. Übelkeit, Kopfschmerzen, Ekel. Verstrickt im Labyrinth auswegloser Gefühle. Zu viele falsche Freunde warteten auf den Randstreifen.

Ich muss weiter. Für immer auf die Mitte des Weges. Und dann geradeaus. Lena, warte auf mich! Bitte!
***
Auch die zweite Nacht war ruhig. Ich schaffte es, alle Stolpersteine zu umgehen. Die hell erleuchteten Fenster der Kneipen gaukelten mir Wärme vor. Ich ging ihnen nicht in die Falle. Es war kalt letzte Nacht. Die Stadt hieß mich nicht willkommen. Anonym und fremd gab sie sich. Feindselig. Kein Freund, kein Kumpel. Gut so. Einsamkeit. Die Kellertreppe im Warenhaus war mein Schlafzimmer. Ich träumte von dir, Lena.

Ich erwachte. Schweißgebadet. Nüchtern. Ernüchtert. Kein Geld für einen heißen Tee. Am Kiosk gibt es Schnaps. Ich kann ihn nicht bezahlen. Der Typ sieht aus wie ich. Ein Kumpel eben. Er gibt einen aus. Will mein Freund sein. Unbefestigte Randstreifen.

Lena, wo bist du?
***
Nächsten Monat wird er achtzehn. Ich habe ihm versprochen, dass wir das feiern. Mit seiner Volljährigkeit kann er raus. Das heißt, wenn alles so läuft, wie wir es uns vorstellen. Er darf dann wieder bei mir wohnen. Das habe ich ihm mit auf den Weg gegeben. Damals, als ich ihn in Sicherheit brachte. Weg von seinen falschen Freunden, weg von den unbefestigten Randstreifen rechts und links seiner Lebensstraße. Er musste mir auch ein Versprechen geben. Wenn er es hält, darf er wieder bei mir wohnen. Vorübergehend. Oder für immer. Er soll es selbst entscheiden.

Ich könnte seine Mutter sein. Bin es aber nicht. Seine Freundin. Das ganz sicher. Lange Zeit die einzige. Oh ja, er hatte viele Freunde, vermeintliche Freunde. Sie liebten das Leben und warfen es gleichzeitig weg. Es war Zufall, dass wir uns begegneten. Er sah so jung und verwundbar aus und wirkte so allein auf der Bank an der Bushaltestelle. Es war sehr früh am Morgen. Ich trug meine Zeitungen aus. Er fror. Er stank. Ich konnte nicht anders. Wie ein kleiner Hund folgte er mir, blieb eine Weile. Meine Wohnung war sein schützender Raum. Seine Freunde entrissen ihn mir, immer und immer wieder. Irgendwann wusste ich mir nicht anders zu helfen.

Ein Jahr! Die Zeit vergeht schnell, habe ich ihm gesagt. Ich darf ihn nicht besuchen. Ich habe ihm geschrieben. Er hat mir nie geantwortet. ´Die Therapie schlägt an`, sagte man mir bei einem meiner Anrufe. ´Er macht Fortschritte`, freute sich sein behandelnder Psychologe letzte Woche.

Ich habe versucht, Kontakt mit seiner Mutter aufzunehmen. Erfolglos. Immerhin bekam ich das Sorgerecht, nachdem man es ihr schon vor Jahren entzogen hatte. Ich will nicht für ihn sorgen. Ich will für ihn da sein. Nächsten Monat wird er volljährig. Dann kann er allein entscheiden.
***
Der Anruf kam vor einer Stunde. Die Polizei hat ihn aufgegriffen. Zwei komma acht Promille. Meine Telefonnummer hat er noch gewusst. Und meinen Namen. ´Lena`, habe er fast ununterbrochen gelallt, sagte die Polizistin. ´Warum hat er mich nicht angerufen`, fragte ich. ´Er hat kein Geld bei sich`, gab sie zur Antwort. Ihre Stimme klang jung und sehr traurig. Ich habe ihr versprochen, ihn abzuholen. Ich bin schon unterwegs.

Version 2

Letzte Aktualisierung: 20.09.2015 - 11.47 Uhr
Dieser Text enthält 5758 Zeichen.


www.schreib-lust.de