Diese Seite jetzt drucken!

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt | September 2015

Der Mann neben mir
von Sarina Stützer

Ich bin ein bisschen aufgeregt. Es ist ein sonniger Frühlingstag im Mai 1985 und heute habe ich meine Fahrprüfung. Mit dreiundzwanzig Fahrstunden habe ich zwar mehr auf dem Konto als die meisten meiner Klassenkameraden, bei denen man schon als Loser gilt, wenn man mehr als zehn braucht, aber die haben auch alle große Brüder, die mit ihnen auf Parkplätzen und Verkehrsübungsplätzen üben. Ich schaff das auch so. Ich will diesen Lappen! Unbedingt!
„Hi Manu, bist du auch so nervös?“ Sabine, meine Leidensgenossin, steht schon am Treffpunkt und hält Ausschau nach dem weißen Golf Diesel, den wir in den letzten Monaten malträtiert haben.
„Ach, geht so“, sage ich lässig. „Oh ... da ...!“
Der Fahrschul-Golf biegt um die Ecke und hält neben uns am Bordstein. Zwei Männer steigen aus, einer unser Fahrlehrer, Hände werden geschüttelt, Namen genannt, aber ich weiß für alles Geld der Welt keine Details mehr. Gerade dass ich den Namen meines Fahrlehrers noch aussprechen kann. Ist bei „König“ ja auch nicht besonders schwer, so mache ich mich zumindest nicht komplett zur Idiotin.
„Wer möchte denn zuerst?“ Herr König schaut von einer zur anderen. Der andere Typ, also der Prüfer, von dem ich den Namen nicht mitbekommen habe, sagt nichts.
Ich melde mich. Ich hatte mit Sabine vereinbart, dass ich Unangenehmes lieber schnell hinter mich bringen möchte, und sie lässt mir den Vortritt.
Okay, also einsteigen, anschnallen nicht vergessen, durchatmen. Herr König sitzt neben mir, Sabine und der Prüfer hinten. Ich versuche mir einzubilden, das sei eine ganz normale Fahrstunde. Blinker setzen, Rückspiegel, Schulterblick, Handbremse lösen, anfahren ... geht doch. Alles easy. Ab und zu ein Kommando von hinten.
„Nächste Möglichkeit links, bitte.“
Ha, ältester Fahrschultrick der Welt! Nächste Möglichkeit sagen sie nur, wenn die nächste eine Einbahnstraße in falscher Richtung ist. Außerdem sind wir diese Straße in den Fahrstunden ungefähr zweihundertdreiundachtzigmal langgefahren. Diese Klippe habe ich also schon mal ganz locker umschifft. Kuppeln, schalten, Gas geben, klappt alles. Ich bin die geborene Autofahrerin.
„So, und hier parken Sie bitte mal in die Lücke ein.“
Hey, keine halbe Stunde gefahren. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Jetzt noch das Auto in die Lücke bugsieren. Mist, ich muss einmal zurücksetzen und korrigieren. Aber einmal darf man, haben die anderen gesagt. Handbremse anziehen, abschnallen. Wir steigen aus.
Prüfend sehe ich den Prüfer an, aber ich kann seinen Blick nicht deuten. Zumal er mich auch überhaupt nicht anguckt. Sabine drückt mir die Schulter, als wir aneinander vorbeigehen, und ich flüstere ihr „Viel Glück!“ zu. Hat sie mich nicht etwas mitleidig angesehen? Und haben die anderen nicht erzählt, dass der Prüfer sofort nach der Fahrt gratuliert, wenn man bestanden hat?
Wir steigen wieder ein, diesmal Sabine auf dem Fahrersitz und ich hinter ihr. Rechts neben mir der Prüfer. Der würdigt mich keines Blickes geschweige denn Wortes. Ja, ganz sicher hatten die anderen erzählt, dass der Prüfer sofort gratuliert, und wenn er nichts sagt, dann ist es scheiße gelaufen. Haben sie gesagt. Ich bin mir sicher, dass ich mich ganz deutlich erinnere. Glaube ich.
Das heißt, ich bin durchgefallen.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Was hab ich denn falsch gemacht? Wegen einmal Korrigieren beim Einparken lässt der mich durchfallen? Was anderes kann es doch nicht gewesen sein! Dieser ... dieser ...
Ich sehe aus dem Augenwinkel zur Seite. Da sitzt dieser widerliche Typ auf seinem breiten Arsch, gibt Sabine Anweisungen und kritzelt zwischendurch mit seinen schmierigen Fingern auf einem Klemmbrett herum. Meine Finger wollen sich um seinen Hals legen. Ich beiße die Zähne zusammen, meine Kiefermuskeln verkrampfen sich. Dieser Idiot! Dieser Schwachkopf! Wie der schon aussieht! Brille Marke Kassengestell und Klamotten von Woolworth.
Ich könnte ihn an seiner hässlichen Krawatte erwürgen. Und ihm dabei mein Knie in den Unterleib rammen. Ich merke, wie sich eine dunkle Wolke über meinem Kopf zusammenballt. Ich stelle mir vor, sie ist hochtoxisch und schicke sie zum Prüfer rüber. Der lässt sich davon nicht beeindrucken. Sogar dafür ist der zu blöd. Bestimmt hat den noch nie im Leben eine Frau angeguckt, und ich muss jetzt dafür büßen. Wie ungerecht! Dieser frustrierte Trottel bringt mich um meinen Führerschein! Die 1000 DM, die ich mir dafür zusammengespart habe, sind so gut wie aufgebraucht, für noch mehr Fahrstunden und noch eine Prüfung reichen die nicht. Ich möchte jemanden schlagen, vorzugsweise die Kreatur neben mir. Ausgiebig.
Jetzt lässt er auch Sabine einparken, vor der Fahrschule. Das heißt, wir sind durch. Wie gerne würde ich die Tür aufreißen und weglaufen. Leider ist das hier ein Dreitürer und ich sitze hinten.
Der Prüfer holt die vorbereiteten grauen Lappen aus seiner Mappe und setzt seine Unterschrift drunter. Moment mal ... das sieht aus wie mein Name. Und das sind zwei Pappen. Das kann doch nicht sein! Oder doch? Mein Augenwinkel kriecht fast bis auf die Schläfe, so sehr versuche ich unauffällig zu erkennen, was der da macht. Sieht immer noch aus wie mein Name. Immer noch. Und jetzt auch immer noch.
Das IST mein Name! Und er unterschreibt! Meinen! Führerschein!
Yeah, yeah, yeah, hipphipphurrawhatabeautifuldayandwhatagreatmandanebenmir!
Meine Mundwinkel wickeln sich dreimal um meine Ohren, weil mein Gesicht für mein Grinsen zu schmal ist. Ich habe das dringende Bedürfnis, diese wunderbar glatt rasierte, dezent nach Rasierwasser duftende Wange des freundlichen Herrn neben mir zu küssen. Oder ihm durch sein herrlich braunes, volles Haar zu wuscheln. Und ihn abzuknutschen, diesen göttlichsten aller Männer! Mit Zunge!
Seine gepflegte Hand reicht Sabine ihren Führerschein nach vorn und schüttelt ihre. Jetzt bin ich dran. Was für weiche Haut! Welch ein überaus sympathischer Händedruck, genau richtig im Maß, nicht zu schlaff, nicht zu fest.
Unter Aufbietung aller mir verbliebenen Selbstbeherrschung reiße ich ihm meinen Führerschein nicht aus der Hand, sondern nehme ihn gesittet und lächelnd wie ein Honigkuchenpferd auf Hasch entgegen. Grinsend, das Wort, das meinen Gesichtsausdruck beschreibt, ist „grinsend“, nicht „lächelnd“. Ich werfe noch einen Blick in die schönsten braunen Augen der Welt und steige dann aus.
Herr König gratuliert uns und geht mit dem Prüfer, diesem attraktiven, kernigen, geschmackvoll gekleideten Mann, in die Fahrschule hinein. Männergespräche vermutlich. Ich blicke den beiden verständnisvoll nach.
Sobald die Tür sich hinter den beiden schließt, fallen Sabine und ich uns um den Hals.
„Wir haben’s tatsächlich geschafft!“ Sie hakt sich bei mir ein. „Sektfrühstück im Extrablatt?“
„War eh klar“, sage ich lässig. Meinen nigelnagelneuen, schönsten aller Führerscheine ans Herz gedrückt, gehe ich mit ihr los Richtung Innenstadt.

Letzte Aktualisierung: 09.09.2015 - 20.48 Uhr
Dieser Text enthält 7012 Zeichen.


www.schreib-lust.de