Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Unterwegs | Oktober 2015
Shipwreck
von Klaus Eylmann

Schaufensterpuppen träumten mit leerem Blick. Teens liefen an ihnen vorbei. Mütter schoben Kinderwagen. Münder plapperten. Hausfrauen entluden ihr Gehirn im Gespräch. Ein Mann der Wachgesellschaft schlenderte verschlafen umher, und als Karl Hammer taumelig wurde, rettete er sich auf die nächste Bank. ‘Mein Innenohr’, ‘der Lärm der Rockband’. Heute früh, gegen vier Uhr, als er noch high war, hatte er sich vorgenommen bei Wilson eine schwarze Lederjacke zu kaufen. Jetzt, um fünf Uhr nachmittags, saß er neben ein paar Rentnern im Einkaufszentrum und fühlte sich so alt wie sie. Sollte er ihnen was von seiner Ohrenoperation von vor zehn Jahren erzählen? Rentner hörten so was gern, oder?

Einen Tag vorher hatte es gehupt. Karl lag in seinem Fernsehsessel, dann saß er in Lauries altem Chevy. Eine Riesenliebesschaukel. Laurie und Mandy hatten ihn entführt. Karl saß im Fond wie auf einer Couch, und sie waren auf dem Weg nach Bay City. In dieser Stadt in Michigan, die nach den Bay City Rollers benannt worden war, oder war es umgekehrt?, lag das ‘Ship Wreck’.
"Karl", hatte Mandy gesagt. "Wir fahren zum ‘Ship Wreck’. Sie haben da ne Rhythm n’ Blues Band."
Er sah aus dem Seitenfenster. Hatte keinen Sinn nach vorn zu sehen. Dort war nur Straße. Schnurgerade. Hin und wieder zogen Häuser, eine Scheune, einige Bäume, Strom- und Telefonmasten vorbei. Es war ein Freitag im Oktober. Auf den Feldern lag Schnee.
"Viel Gegend hier", hatte sein Freund Fritz gesagt, als er Karl am Flughafen abholte. Sie beide hatten einen Zeitvertrag als Programmierer im ansässigen Chemie-Unternehmen.
Das ‘Ship Wreck’ liegt am Saginaw River. Fährst du in der Dunkelheit über den Parkplatz hinaus oder mit einem Boot zum Angeln, dann wartet der Fluss auf dich.
Im Lokal fetzte, dröhnte es. Metal Rock, kein Rhythm n’ Blues. Karl war nicht begeistert. Er war um die Fünfzig. Im Lokal war die Musik. Zu laut. Und draußen war es dunkel und kalt. Karl stand an der Wand, wärmte seine Hände an einem kalten Bier. Laurie und Mandy tanzten selbstvergessen zwischen Lederjacken. Rocker. Verlorene Seelen griffen nach dem Strohhalm der Euphorie. Gitarrentöne fraßen sich in Trommelfelle. Der Sänger sprang auf einen Tisch, röhrte ins Mikrofon. Karl schmerzten die Ohren. Lauries und Mandys Arme schlenkerten. Hüften schwangen, Beine stampften. Die Mädchen lachten. Der Alltag war weit weg. Flatternde Arme. Laurie, die tanzende Fledermaus. Mandy, der quirlende Malkasten. Eine Kunstfigur. Fast zeitlos, zwischen zwanzig und vierzig. Wo fing die Schminke an, wo hörte sie auf? Mandy war grafische Designerin, trug einen scharfen Hosenanzug. Laurie hingegen dunkelgraue Bürokluft: kurzer Rock, weiße Bluse mit einer Jacke darüber, Stilettos. Eine Schlafwandlerin. Jeder will vergessen, dass er in einem Kokon steckt, dachte Karl und sprang ins Gewühl.

Pause. Dort, wo man vorher getanzt hatte, standen zwei Stühle. Zwei junge Mädchen saßen darauf und dann gab es Eddie. Muskulös, gedrungen, dunkelhaarig, Male Stripper. Hemden und Hose flogen. Frauen johlten, quietschten, kreischten, schoben Zehn-Dollarscheine in Eddys Slip. Einige machten einen schüchternen Schritt nach vorn, wedelten mit dem Geld, trauten sich nicht, andere stießen sie unter Gelächter weiter und Karl dachte, `zum Glück ist die Musik leiser und ich brauch nicht zu fahren`. Er bestellte ein weiteres Bier. Lauries und Mandys Augen glänzten. ‘Das wird ´ne lange Nacht’, fand Karl. Dann, als er nach drei weiteren Bieren und einer heftigen Dosis Metal Rock den Entschluss gefasst hatte, sich am nächsten Morgen eine schwarze Lederjacke zu kaufen, stand plötzlich ein dünner Mann mit einem noch dünneren Mädchen an der Theke und schlug ihr ins Gesicht. Nicht das erste Mal, sah Karl. Der Anblick der Blutergüsse auf ihrem Gesicht und ihren Armen verlangsamte die Zeit. Dann stand sie still. Die Tanzenden hatten sich zu ihnen hingedreht. Der Wirt hinter der Theke hielt einen Baseballschläger in der Hand, die Töne der Gitarren standen im Raum. Dann lief die Zeit wieder los. Das dünne Mädchen griff nach dem Autoschlüssel des Mannes, der auf dem Tresen lag, rannte aus dem Lokal. Und der Mann lief hinter ihr her. Sie waren weg. Auch die Stimmung, wie Luft aus einem Ballon. Aus der Tanzfläche wurden Bretter.
"Karl, wir gehen!", rief Laurie über das Gemurmel der Leute hinweg. Jemand brüllte etwas in den Saal. Lederjacken stürzten aus dem Lokal.
"Da ist jemand in den Fluss gefahren!" Karl ging vor die Tür. Es war kalt. Rocker liefen zum Wasser hin. Zombies unter gelbem Licht von Natriumlampen. Trügerisch die Ruhe des Saginaw Rivers.
"Sie sind da drin!", rief jemand. "Mit Karacho reingefahren!"
"Ruf jemand Polizei und Krankenwagen!", brüllte ein anderer.
Karl sah Reifenspuren. Sie endeten im Nichts. Jemand rannte an ihm vorbei und sprang kopfüber in den Fluss.
"Eddie!", kreischten zwei Frauen und stürzten zum Ufer. Karl erkannte, sie hatten vor Eddie auf den Stühlen gesessen.
"Eddie!", schrien die Frauen, als ein Kopf auftauchte, dann das dünne Mädchen. Männer warfen sich auf den Asphalt, streckten Arme nach ihnen aus. Eddie und das dünne Mädchen lagen da, schnappten nach Luft. Wie Fische auf dem Trockenen. Das Mädchen hustete und spuckte, Eddie richtete sich keuchend auf, fiel auf den Boden zurück und rührte sich nicht mehr.
Sirenen, Hupen, blau, gelb, rot flackernde Lichter. Frauen kreischten. Sanitäter hantierten mit einem Defibrillator. In Karls Kopf zischte und rauschte es. ‘Der Lärm’, dachte er, setzte sich auf eine Tonne und starrte ins Leere. Frauen schluchzten. Karl dachte an seine letzte Angeltour.
"Karl, da bist du ja. Wir wollen los." Grausame Wirklichkeit. Im Dunkeln sah man nicht, wie er schwankte. Der Lärm, dachte Karl, dann saß er in Lauries Chevvy. Eine Weile fuhren sie so dahin und sagten nichts.
"Die armen Mädchen. Laurie, mach mal Licht." Mandy klappte den Spiegel runter und zog ihre Lippen nach. "Das eine war Eddies Schwester, das andere seine Freundin."
"Was ist mit Eddie?", fragte Karl. Er ahnte die Antwort.
"Ein College-Kid, das sich was zuverdient hatte, und nun ist Eddie tot."
"Und das Mädchen?"
"Lebt. Aber der Mann neben ihr im Wagen hat es auch nicht geschafft."
"Sie haben ihn zu spät rausgezogen," meinte Laurie, "das ist vielleicht ganz gut, so wie er sie verprügelt hat," dann sagte sie plötzlich: "Oh, shit, die Bullen."
Ein Fahrzeug schoss an ihnen vorbei. Auf dem Dach blinkte es blau und rot, als es vor ihnen hielt. Laurie stoppte den Wagen und ließ die Scheibe runter. Wagenpapiere. Das reichte nicht.
"Gleich fliegt sie weg," sagte Karl, als er sah, wie Laurie mit ausgebreiteten Armen auf dem weißen Seitenstrich der Straße balancierte.
"Oh, Mann." Mandy hielt sich die Hand vor die Augen. "Wenn das nur gut geht. Danach muss sie von hundert an rückwärts zählen." Sie sahen, wie Laurie mit Handschellen in den Polizeiwagen gestopft wurde. Dann waren Mandy und Karl allein auf der Straße.
"Fahr du, Karl," sagte Mandy. "Ich kann mir keinen Tag Knast leisten. Muss heute arbeiten. Hab nicht mal genug Geld auf der Bank, um Laurie auszulösen."
Karl, setzte sich auf den Fahrersitz und dachte: ‘Bei den Klamotten, die Mandy jeden Monat kauft, bleibt sicher nur noch Geld für ein paar Dosensuppen übrig’.

Morgens um acht, seine Ohren dröhnten, fuhr er mit Lauries Wagen Richtung Gefängnis. Die Holzbuden drum herum waren Bail-Bond Agenturen.
"Ich brauch nen Bail-Bond für Trunkenheit am Steuer." Karl gab der Agentur Lauries Namen und schrieb einen Scheck aus.

"Manche fallen ins Scheißhaus und kommen nach Rosen duftend wieder raus. Nur ich nicht," quetschte Laurie aus sich heraus, dann fuhr sie Karl nach Hause.

Nun saß er auf der Bank im Einkaufszentrum und überlegte, schaffte er es in einem Anlauf bis zum Pizza Stand? Lisa war wieder da. Er fühlte, sie mochte ihn. Vielleicht, weil er so verhungert aussah? Sie gab ihm immer das größte Stück. Ob er sie mal zum Tanzen einlud? Vielleicht sollte er sie vorher erst mal fragen, welche Musik sie mochte.

Am nächsten Freitag hupte es. Karl lag in seinem Fernsehsessel, dann saß er in Lauries altem Chevy.
"Karl", sagte Mandy. "Wir fahren zu ‘Molly McGuire’s‘ nach Saginaw. Sie haben da ne Rhythm n’ Blues Band."

Version 2

Letzte Aktualisierung: 17.10.2015 - 19.38 Uhr
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