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Unterwegs | Oktober 2015
Zufrieden in die Sonne schauen
von Anne Zeisig

Ich sauge die kĂŒhle Landluft tief in mich ein, bevor ich mich in den Wagen setze und in aller HerrgottsfrĂŒhe zur ersten Patientin fahre. Frau Ederer mag es, wenn sie sehr frĂŒh versorgt wird. Ich biege auf den Zubringer ein und genieße den goldenen Sonnenaufgang hinter den Feldern, die sich leicht hĂŒgelig in die Landschaft schmiegen und deren Ähren sich sachte im Sommerwind wiegen.
Zwar habe ich im lĂ€ndlichen Bereich von einem PflegebedĂŒrftigen zum nĂ€chsten lĂ€nger zu fahren, aber es gibt nicht diesen starken Verkehr wie in der Stadt und ich schĂ€tze das Persönliche in den Dörfern, wo einer den anderen kennt.
Außerdem vertraut man mir hier in der Pflegestadion, es gibt weder Misstrauen, noch Intrigen unter den Kolleginnen und Kollegen. Zudem sitzt meine Arbeitgeberin mir nicht mit der Stoppuhr im RĂŒcken.
Ich bin eine gestandene Frau im mittleren Alter und lange im Pflegeberuf tĂ€tig. Wer so viel Erfahrungen gesammelt hat, der lĂ€sst sich nicht gerne von einer jĂŒngeren Vorgesetzten dreinreden.
Meine Chefin, Frau Meier, will bald in Rente gehen, da war ich ihr GlĂŒcksfall, weil sie die Station nicht gerne an eine Junge ĂŒbergeben will. Andererseits zieht es die Leute beruflich nichts aufs Land.
Wie wohl ich mich fĂŒhle! Und wenn es mir gut geht, geht es meinen Schutzbefohlenen auch gut. Ich weiß, was sie brauchen, kann es von den Augen ablesen, die meisten sind ĂŒber neunzig und dankbar fĂŒr jede Kleinigkeit.
Frau Ederer zum Beispiel mag es, wenn ich ihr aus der Kreisstadt TrĂŒffelpralinen mitbringe. Zwar ist sie Diabetikerin, aber will man bei einer Dame in dem Alter pĂ€pstlicher sein als der Papst? Sie kann ihr Bett nicht mehr verlassen und bei den Angehörigen auf dem Hof habe ich auch den Eindruck, dass sie regelrecht auf das Ableben der Uroma warten.
Nach der Körperhygiene bekommt sie ihr Insulin gespritzt und eine Leckerei in den Mund. Danach leuchten ihre Augen und sie sinkt selig in ihr Kissen zurĂŒck, drĂŒckt schwach meine Hand.

“Die Oma wird zusehends schwĂ€cher, gell?”
“So ist das im Alter”, antwortet ich der Urenkelin, die den Hof ĂŒbernommen hat. “Ein alter Traktor ist halt kein Rennauto.”
Ich bekomme von ihr meinen morgendlichen Kaffee und mache mich nach ein paar Schlucken auf den Weg ins Unterdorf, zu Herrn Baumgartner, der ohne Familie in einer Einsiedelei mitten im Wald lebt. Versuche, ihn in einem Heim unterzubringen, sind stets fehlt geschlagen.
Ich hieve ihn mit der Hebevorrichtung aus dem Bett.
“Wieder ein Weibsbild”, grummelt er und fleht, wann ihn der Herrgott endlich holen möge. “Kannst mir nit was geb’n?”
“Die Zeit wird ‘s bringen”, beruhige ich ihn und erklĂ€re abermals, dass sich auf die Stellenanzeige kein Mann gemeldet habe, er mĂŒsse mit mir Vorlieb nehmen. Dass er noch mehr abgemagert ist, werde ich der Gemeindeschwester melden, die sich auch um ihn kĂŒmmert.
“Hast die Zigarillos mitgebracht?”
Ich stecke ihm eine zwischen seine blĂ€ulichen Lippen und zĂŒnde sie an. Er zieht genĂŒsslich daran und ich kann ihn in Ruhe waschen. Inzwischen hat er beide Beine amputiert. Raucherbeine, Diabetes, das hat seinen Körper gebeutelt.
“Bist ‘ne Gute”, flĂŒstert er, als ich ihm das Insulin spritze und sein FrĂŒhstĂŒck hinstelle, was er eh nicht anrĂŒhren wird. Er fĂŒhlt sich wohl in seiner Einsamkeit, gibt mir aber immer wieder zu verstehen, dass er des Lebens ĂŒberdrĂŒssig ist.
Im Auto teile ich ĂŒbers Handy Schwester Erika vom GemeindebĂŒro mit, dass ich nun fahre. Sie wird in einer Stunde nach ihm schauen.
Inzwischen hat sich ein leichter Sommerregen den Weg durch die Baumwipfel gebahnt und bringt den Asphalt zum Dampfen.
Es ist schön, einen Beruf zu haben, wo man den Menschen Gutes tut. Ich pfeife vor mich hin,
als ich den dĂŒsteren Waldweg verlasse und endlich wieder auf der sonnengefluteten Landstraße ins Oberdorf fahre.

Die Nichte von Frau Habinger kommt mir bereits auf dem Parkplatz entgegen.
“Die Tante pfeift und röchelt so komisch. I glaub, sie stirbt.”
Die Wangen meiner Patientin sind eingefallen, ihre Augen
liegen geschlossen in dunklen Höhlen, ich messe den Blutdruck.
“Schaun S’ ”, flĂŒstert ihre Nichte, “sie lĂ€chelt.”
“Ich rufe den Arzt, der kann ihr ein Beruhigungsmittel geben, damit sie leichter atmet. Ich habe schon viele Menschen beim Sterbeprozess begleitet. Ja, Ihre Tante gleitet bereits hinĂŒber.”
Ich streife ĂŒber die zerfurchten HĂ€nde der Alten. “Das hat sie sich so lange gewĂŒnscht.”
“Ja”, antwortet die Nichte, “sie wollte lĂ€ngst zu ihrem Wilhelm.”
Im Bad bereite ich einen Brustwickel mit Eukalyptusöl und lege ihn meiner Patientin auf. Sie mochte es immer, wenn man ein paar Tropfen auf ihr Kopfkissen getrÀufelt hat.
“Das ist der Duft des Alters”, hat sie dann immer gesagt.

Mein Handy holt mich aus meinen Gedanken.
Meine Chefin teilt mir mit, dass ich bei Herrn Wirtsgasser nicht mehr vorbei fahren muss, er sei heute Nacht verstorben.
Und die Gemeindeschwester habe Herrn Baumgartner ins Krankenhaus einweisen lassen, er habe wieder Nahrung und GetrĂ€nke verweigert, die Abendtour zu ihm wĂŒrde also auch entfallen. Zudem wĂ€re Frau Ederer ins Koma gefallen.
“‘s gschaut fast so aus, als haben sich die Alten zum Sterben verabred.”
Sie will gleich morgen frĂŒh mit mir meinen neuen Tourenplan ausarbeiten.
Ich wĂŒrde gerne wie jeden Nachmittag zufrieden in die glutrote Sonne schauen, die verlĂ€sslich im Westen steht, wenn da nicht dieser misstrauische Satz meiner Chefin gekommen wĂ€re.
“Außerdem mĂŒssen wir der Sache auf den Grund gehen, warum unser Insulinvorrat unstimmig ist.”


anne zeisig ENDversion

Letzte Aktualisierung: 22.10.2015 - 21.35 Uhr
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