Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Unterwegs | Oktober 2015
Spielball
von Helga Rougui

Ginduka weiß nicht, wo er hin will.
Ginduka weiß nur, er muß rennen.
Den Zug erwischen.
Den Bus nehmen.
Vielleicht auch einfach nur stehenbleiben.
Endlich Ruhe. Nicht mehr weiter müssen, nicht mehr weiter wollen, denn anders lassen sie einem das ja nicht durchgehen, das Stehenbleiben.
Man soll es wollen.
Was du mußt, das hast du zu wollen.
Also weiter.

Ginduka hat den Film mit dem Rennfahrer gesehen.
Der war sein Leben lang ein Fahrrad.
Und sprachlos.
Ginduka ist nicht sprachlos und kein Fahrrad.
Das Huhn fliegt mit dem Sturm. Blindlings.
Die Rakete, gezündet, rast durch den Weltraum. Ungezielt.
Der Lemming, getrieben, schafft es, seine Klippe zu verpassen.

Ginduka träumt On the Road und ist seßhaft wie nie.
Gewöhnt sich an die Bequemlichkeit. An die Unbeweglichkeit,
An die Macht, die er ausübt im Haus der Eltern, in dem er endlich das Sagen hat nach der Flucht.
Er wartet sehnsüchtig darauf, daß dieses abbrenne, damit er sich endlich von seinem Leben trennen kann.

Er hat lange gewartet, daß irgendetwas passiere.
Wann nahm er die Fäden in die Hand?
Mit zweitausendundzwanzig Jahren dachte er, daß endlich irgendetwas etwas bewirken müsse, daß er auserwählt sei, daß ein Schicksal warte, daß alles komme, wie es unbedingt sich zu fügen habe, genau so! – genau so! denkt er noch heute, daß die Dinge sich fügen mögen dergestalt, daß er nicht mehr da sein muß, wo er ist.

Unterwegs in der Unbeweglichkeit.

Immer schaut er in die falsche Richtung,
Falsch deshalb, weil es nicht die ist, aus der jemand kommen wird.
Er begreift langsam, daß es die ist, in die er gehen soll, - nein, will.
Aber er unterwirft sich dem Verharren.
Er gibt klein bei, obwohl keiner das von ihm verlangt.
Er vergißt seine Qualitäten, seine Individualität, seine Freiheit, seine Rechte, seinen Raum, den er um sich zum Atmen und Leben braucht.

Um eines Duftes willen.

Niemand verlangt das von ihm.

Aber da ist dieser Duft.
Und er weiß, daß alle Ewigkeiten jenseits der Meere ihm diesen Duft nicht aufwiegen können.
Den Duft schieren Lebens.
Denn eigentlich lebt er gern.
Gibt er es zu?

***

Wann fängt die Geschichte seines Lebens an?
Ist es überflüssig, sie zu erzählen? - es ist keiner da, der sie hören wird, der sie hören will, und er weiß das.
Ist das ein Grund, sie nicht zu erzählen?
Er überlegt – und erzählt sich selbst alle Geschichten, die jemals möglich sein werden.
Jede Geschichte verrückt ihn.
Mit jeder Geschichte wird er verrückt.

***

Ginduka, sechzehn Jahre alt.
Er wäre gern Tänzerin.
Er wäre gern auch Pilot oder Rennfahrer.
Teile von ihm wären gern hin und wieder tot.
Aber er weiß, daß er sich das für später aufheben muß.
Er will nicht feige sein. Daß die Welt sich über Selbstmörder aufregt, weiß er.
Warum eigentlich muß er warten?
Das Ergebnis wird letztlich das gleiche sein.
Irgendwann fällt ihm auf, daß, wenn man tot ist, einem niemand mehr irgendetwas befehlen kann.
Ein ungeheurer Vorteil, der einen Tod nach kurzer Lebenszeit attraktiv erscheinen läßt.
Man findet Ginduka.
Erhängt im Gartenhaus seiner Eltern, die ihn erst nach drei Tagen vermissen.

***

Weiterziehen, ein Traum.
Dein Traum, Ginduka, zerbricht jede Minute tausendmal.
Ersatzweise – brav jeden Sommer in ein Land deiner Wahl fahren.
Womöglich mit deinen Eltern.
Dann lieber tot.
Besser als das gezielte Sterben aller Sehnsüchte, weil geplant taugt alles Erleben nur wenig.
Es braucht Mut, auszubrechen - egal, wie.

Einmal mußt du deine Geschichte beginnen, Ginduka.
Du kannst nicht warten bis in alle Ewigkeit.
Denn du hast keine Ewigkeit.
Du hast allerdings jedes Recht, dein Leben hinauszuzögern, bis es dir fast zu spät erscheint, was eine nette Entschuldigung dafür wäre, gar nicht erst anzufangen.
Das ist dein gutes Recht.
Aber was wäre, wenn du sehr spät doch noch erwachst – und es dir nicht reicht, was du dir bisher auf dem goldenen Teller der verschlafenen Träume hin- und hergeschoben hast?

Dann hast du vielleicht das erste Mal in deinem Leben ein Problem.
Probleme hast du bisher elegant umgangen.
Jetzt geht das plötzlich nicht.
Das Seil schneidet tief in deinen Hals.

***

Ginduka verläßt seine Eltern, als er zweitausendundzwanzig ist.
Er weiß nicht, warum.
Sie waren nett, sie waren liebevoll, sie waren zum Kotzen.
Kein Mißbrauch, keine Gewalt.
So wird es später in der Zeitung stehen, und Zeitungen lügen nicht. In diesem Fall ist es die Wahrheit.
Die Eltern – inzwischen uralt – und zum Glück oder Unglück für sie sind noch beide am Leben – sind zu Tränen gerührt, daß ihr überaus geliebtes Kind endlich gefunden wurde, daß es sich auf der Seite der Lebenden befindet.
Das steht im Vordergrund eines jeden Berichts.
Über aller Rührung wird vergessen, warum Ginduka vor dreitausendunddreißig Jahren verschwand.

Und seitdem nie mehr aufgetaucht ist.

Auch wenn das die Zeitungen schreiben.




Letzte Aktualisierung: 25.10.2015 - 09.13 Uhr
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