Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Unterwegs | Oktober 2015
Reiselust
von Barbara Hennermann

An dem Tag, als Marga L. ihre Entlassungsurkunde ausgehändigt bekam, beschloss sie, ihr Leben grundlegend zu verändern.
Weg von Terminen, Zwängen, Zeitnot. Freiheit. Selbstbestimmung. Kurzum: ein rosiges Rentnerdasein gestalten!

„Sag mal, Liebes, was hockst du eigentlich ständig am Rechner? Ich denke, du hast die Aktendeckel endgültig geschlossen?“ Wilfried L., Margas Ehegatte, schlürfte genüsslich einen Espresso und sah aus dem gemütlichen Ledersessel auf seine Frau, die mit hochgezogenen Augenbrauen auf den Bildschirm starrte. „Also Wilfried, so wie du seit deiner Pensionierung vor zwei Jahren hier herumhockst, kann das doch nicht weitergehen!“ Marga blies die Backen auf. „Jetzt haben wir Zeit zum Reisen und das will ich auch machen. Habe uns grade was Nettes gebucht!“ Wilfrieds skeptischer Blick entging ihr, da sie sich wieder dem Computer zuwandte. „Moment, hab´s gleich!“

„Romantischer Vier- Sterne- Schlossurlaub mitten im Spessart. Themenzimmer, Fünf-Gänge-Menu. Wellness- Badestube. Kaminzauber.“
Genau das Richtige für ein erholsames Herbstwochenende!

Wilfried kurvte über enge Straßen, die ein andauernder Nieselregen und Unmengen fallender Herbstblätter in glitschige Rutschbahnen verwandelten. Marga hatte darauf bestanden, den Urlaub dem Vorhaben angemessen zu beginnen und die Autobahn zu meiden. Der Gedanke an sein gemütliches Wohnzimmer und den geliebten Fernsehsessel war nicht dazu angetan, seine Laune zu verbessern. Angesichts Margas fast kindlicher Vorfreude verbiss er sich sarkastische Bemerkungen. Glücklicherweise erreichten sie ihr Ziel, bevor ihn sein knurrender Magen aus dieser freundlichen Stimmung reißen konnte.
Also, zumindest glaubten sie, ihr Ziel erreicht zu haben, denn das Navigationsgerät meldete „Ankunft am Zielort“. Zweifellos handelte es sich bei dem Gemäuer neben der Straße um ein Schloss. Nun ja, Schlösschen. Burganlage. So was in der Richtung. Alt auf jeden Fall. Leider war kein Parkplatz zu entdecken. Auch kein Eingang. Menschen schien hier es auch keine zu geben, die man fragen könnte.
Ächzend schälten sich beide aus dem Mercedes und drückten das Kreuz durch. „Der Mensch kann eben nicht alles haben“, kicherte Marga. „Entweder jung, fit und immer am Arbeiten, oder in Rente, auf Reisen und mit Kreuzschmerzen.“ Wilfried stakste bereits um das Bauwerk herum, absolut immun gegen witzig gemeinte Äußerungen seiner Frau. „Bist du sicher Marga, dass das hier sein soll?“ Ein heller Schrei verkündete ihre Freude: „Schatz, da unten ist der Schlosshof! Da geht´s garantiert rein!“ Jetzt sah er es auch – auf der anderen Seite des Bauwerks schien ein Parkplatz zu sein, offenbar nur über eine Seitenstraße zu erreichen. Unwillig zwängte er sich in den Mercedes zurück, Marga nahm voller Elan neben ihm Platz. „Sieht doch tatsächlich voll romantisch aus, oder?“
Auf einem geschotterten Platz parkte Wilfried das Auto, direkt neben einem Gatter mit Gänsen. Die begannen wild zu schnattern als sie ausstiegen, ansonsten blieb es ruhig. „Und wo geht´s nun rein?“, knurrte Wilfried in Konkurrenz zu seinem Magen. Er hievte das Gepäck aus dem Kofferraum. Die Rollen des Koffers quälten sich über den Schotter, zwei Taschen zerrten an seinem anderen Arm, den Rest schleppte Marga.
Ein schmaler Weg, Kopfsteinpflaster, dann eine alte steile Steintreppe, die zu einer verwitterten Tür führte – „Rezeption“ war da zu lesen. Wilfrieds Laune war am Nullpunkt angelangt. Keuchend gelangten sie in einem düsteren, kalten Raum an. Eine Theke war wohl da, aber kein Mensch. Sie betätigten eine Glocke, die unwillig und heiser einen Ton von sich gab. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien eine ältere Frau, die ihre Anmeldung aufnahm. „Sie müssen jetzt da hinten zu der Tür raus, über den Hof und dann links durch die nächste Tür, dort die Wendeltreppe rauf, links abbiegen, dann wieder rechts, ihre Zimmernummer ist 375. Schönen Aufenthalt!“ Damit blieben die beiden allein zurück.
Margas Blick war zwischenzeitlich auch um einiges skeptischer geworden, als sie hinter Wilfried die Treppe hinaufkeuchte. Zu Recht, wie sich beim Öffnen ihrer Zimmertür erwies.
Eilig versteckten sich Herden von Staubflocken unter dem von einem Baldachin beschatteten Doppelbett. An diesem empfahl es sich nicht zu rütteln, um dem Untergrund keine weiteren „Wollmäuse“ zuzuführen. Ein Thema war ansonsten in dem mit alten Möbeln vollgestellten Raum nicht zu erkennen. „Na, da haben wir ja noch die Überreste aus dem Mittelalter“, scherzte Marga mit Galgenhumor. Wilfried war nicht zum Spaßen zu Mute. „Vielleicht sollten wir gar nicht auspacken und gleich wieder fahren?“, brummte er. Im Badezimmer war ihm nämlich neben einigen fetten Spinnen auch eine tote Zecke auf der Ablage unter dem Spiegel begegnet. Offenbar war hier länger kein Gast mehr eingekehrt ...
„Nix da“, zwitscherte Marga, wild entschlossen, ihren Humor nicht zu verlieren. „Wir haben ordentlich viel bezahlt für unseren Urlaub, das lassen wir uns nicht vermiesen! Vielleicht ist ja das Essen super.“
Dies war Wilfrieds Stichwort.
Es war nicht ganz einfach, in dem verwinkelten Bau die Speiseräume zu finden, aber sie schafften es. Ein wirklich schöner Raum, bereits für den Abend eingedeckt. Der etwas angestrengt wirkende Kellner brachte ihnen einen Kaffee und sogar einen Kuchen, platzierte alles zwischen die schon stehenden Teller und Gläser und verschwand wieder. Immerhin war Wilfried nun leicht gesättigt und wieder eher bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen.

So schritten beide erwartungsvoll um achtzehn Uhr zum gebuchten Fünf-Gänge-Menü. Jetzt waren sie nicht mehr die einzigen Gäste und offenbar hatten alle das Gleiche geordert. (Wie sich im Nachhinein herausstellte, gab es auch nichts anderes ...) Wilfried bestellte einen fränkischen roten Bocksbeutel. Wenn man schon mal da war, in Franken ... Der Kellner – so er denn einer war, kurz vorher hatte er noch das Kaminfeuer bedient – stellte das Prachtstück auf den Tisch, entkorkt und mit einer Serviette um den Flaschenhals dekoriert, schenkte dann Wilfried einen Probierschluck ein ... „Der ist ja viel zu kalt für einen Rotwein!“, monierte der. Eilfertig erklärte der Kellner: „Wir lagern alle unsere Getränke im Gewölbekeller, da ist es recht kühl. Bier und Weißwein haben genau die richtige Temperatur!“ Aber er zeigte immerhin Verständnis für Wilfrieds Intervention, legte beide Hände liebevoll um den bauchigen Leib der Flasche wie um einen schönen Frauenkörper und säuselte: „Sehen Sie, jetzt wird er schon wärmer!“
Das Fünf-Gänge-Menü, das er dann servierte, entsprach den bisherigen Eindrücken, denn es entstammte zweifellos der Tiefkühltruhe.

Nach einer Nacht, in der Marga und Wilfried sich in ihren Betten möglichst wenig bewegten und kaum zu atmen wagten, um den Staubwolken im Zimmer keinen Grund für Ausflüge zu geben, erschienen sie mit sehr geringen Erwartungen am Frühstücksbuffet. Zu Recht, wie sich gleich herausstellte. Immerhin bot ihnen die Umgebung Grund zur Freude und sie bewegten sich ausgiebig an der frischen, staubfreien Luft. Nach ihren bisherigen Erfahrungen unterließen sie den Versuch, das über der Straße gelegene Badehaus auf seine Wellnesstauglichkeit hin zu überprüfen. Glücklicherweise, denn andere Gäste erzählten vom Schimmel, der nicht nur in den Ritzen dort nistete ...

„Marga, willst du wirklich noch eine zweite Nacht hier ausharren, nur weil du dafür bezahlt hast?“ Wilfried sah alles andere als glücklich aus. Marga suchte nach letzten Resten ihres an und für sich nie versiegenden Optimismus´ in ihrem Inneren. Allerdings erfolglos. Am Spätnachmittag warfen sie ihre Taschen und Koffer in den Mercedes und machten sich auf den Heimweg, diesmal ganz unromantisch die Autobahn benutzend.

....

„Marga, was zu Teufel machst du denn jetzt schon wieder?“ Wilfried, wohlig in seinen Lieblingssessel gekuschelt und einen wohl temperierten Roten schlürfend, beobachtete seine Angetraute nun schon eine ganze Zeit lang. Diese hing mit fast gierig zu nennenden Blicken am Bildschirm des Rechners fest. „Och Wilfried, wir wollen uns doch von diesem Fehlstart in unser gemeinsames Rentnerdasein nicht gleich ins Bockshorn jagen lassen! Moment mal ...“ Er hörte den Drucker rasseln. O Gott! Sie würde doch nicht ...? Wo sie erst vor zwei Stunden aus diesem vermaledeiten Schloss wieder in ihrem gemütlichen Heim angekommen waren?
Marga hielt ihm einen bunt bedruckten Bogen Papier unter die Nase. Wellnesstage in Bad Füssing Sie strahlte. „Hab ich gleich gebucht, Schatz. Wird uns gut tun. Nächstes Wochenende geht´s los!“

Vielleicht würde sie ja in absehbarer Zeit wenigstens einen ehrenamtlichen Job finden? Wilfried beschloss, dieses Ziel energisch zu verfolgen ...

hb 10/15 V2

Letzte Aktualisierung: 27.10.2015 - 16.43 Uhr
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