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Unterwegs | Oktober 2015
Isolde auf dem Rückflug
von Gerhard Fritsch

Eine angenehme laue Brise wehte an jenem sonnigen Spätseptembernachmittag und ließ die ersten herabfallenden bunten Blätter lustig in der Sonne torkeln. Singend hüpfte Isolde über den kurzgeschnittenen Rasen im Garten des Gutshofes der von Reichenbachs. Onkel Peterheiner saß wie so oft auf einer der Parkbänke und winkte ihr freundlich lächelnd zu. Oft hatte er zu dieser Jahreszeit einen Korb voller reifer Früchte bei sich, von denen er gerne an vorbeikommende Kinder austeilte. Besonders die saftigen, goldgelben Birnen hatten es Isolde angetan. Sie hätte davon nie genug bekommen können.
Noch im Halbschlaf erinnerte sich Isolde, dass damals alle Kinder im Ort den alten Peterheiner Onkel nannten. Erst später hatte sie erfahren, dass er früher der Gärtner des Gutsherrn von Reichenbach war und sich selbst im Ruhestand noch um dieses und jenes in den Gärten des fürstlichen Besitzes kümmerte.
***
Pünktlich um 8:30 Uhr fand sich Isolde Biedermann im orthopädischen Trainingsraum ein. Sie nahm auf der Liege Platz, alles andere erledigte die Maschine. Bestmögliches Training des menschlichen Bewegungsapparates hieß es, mit besonderem Schwerpunkt Erhaltung belastungsintensiver Muskel- und Gelenkfunktionen. Täglich durchzuführen. Eine computergesteuerte Vorrichtung bewegte ihr dabei Beine, Arme, Rücken- und Halswirbel. Jeden Tag eine Stunde.

10:00 Uhr: Zwei Stunden Arbeitsprogramm. In Anführungszeichen, dachte Isolde immer, denn es hätte besser Beschäftigungsprogramm heißen sollen. Der Computer stellte Aufgaben, die sogleich beantwortet bzw. bearbeitet werden mussten. Die Qualität der Antworten bestimmte, ob zusätzliche Trainings notwendig wurden. Geistige Belastungsfähigkeit war unabdingbar bei solchen Reisen.
12:30 bis 14:00 Uhr: Mittagspause. Die vollautomatisierte Küche hatte bereits dafür gesorgt, dass das fertige Essen auf dem Tisch stand. Es sah aus wie Hackbraten mit dunkler Soße, Kartoffeln und Gemüsebeilage. Es roch auch so. Man durfte nur nicht daran denken, dass es – wie auch alle anderen Gerichte, die auf dem Speiseplan standen – zum überwiegenden Teil immer wieder aus den selben recycelten Abfällen zubereitet wurde. Dann schmeckte es auch. Früher, als Karl und Marianne noch dabei waren, störte es nicht so, denn die Gespräche mit ihnen lenkten ab. Aber in den letzten Jahren saß Isolde nur noch da und würgte das Essen lustlos in sich hinein. Da nützten auch die sehnsüchtigen Gedanken an Omas Erbsen und Möhrchen in Mehlschwitze nichts, die sie in ihrer Kindheit so gerne zu Hause gegessen hatte. Anfangs dachte Isolde, wenn sie vom Essen überließe, wäre das nächste Mal nicht alles nur wiederaufbereitet; aber die Elektronik ließ sich nicht täuschen. Als Reaktion auf zu wenig aufgenommene Kalorien wurden medizinische und – was noch schlimmer war – psychologische Tests und Therapien angeordnet, denen man sich, wie man es auch anstellte, auf Dauer nicht entziehen konnte.
Sie aß also brav auf und lehnte sich danach erschöpft zurück. Wehmütig dachte sie an die Zeit, in der sie im Sommer oft ihre Cousine Gerlinde in deren Kunstgalerie in Helston/Cornwall besuchte, wo sie dann nachmittags Tee tranken und vom vorzüglichen selbstgebackenen Kirschkuchen Tante Eusebias kosteten. Ob sie wohl die Galerie noch betreibt, fragte sich Isolde in Gedanken. Und Dorothee ihren Blumenladen? Eine Träne rollte ihr über die Wange herab. Nur nicht weiter daran denken, beschloss sie.
Zur Mittagspause gehörte auch die Mittagsruhe. Das hieß: ein Nickerchen machen, eine der wenigen Empfehlungen, die Isoldes uneingeschränkte Zustimmung fand.
***
Die Sonne, man konnte ihr schon ins Gesicht sehen. Wellen mit weißen Schaumkronen brandeten gegen den pastellfarbenen Sandstrand. Möven kamen kreischend landeinwärts geflogen. Den Kopf an Ernst-Augusts Schulter gelehnt watete Isolde barfuß im seichten Wasser. Noch träumend lachte sie glücklich in die Abendsonne. Doch im nächsten Moment schreckte sie hoch und schluchzte in traurigen Gedanken versunken.
***
Um 14:10 Uhr kam Isolde in die Pilotenkanzel. Die Anzeige auf dem Service-Monitor wies bereits alle Geräte und Systeme auf, die an diesem Tag überprüft werden mussten. Das machte zwar auch die Elektronik von sich aus, aber zum einen wollte man immer auf Nummer sicher gehen, zum anderen war es eine Aufgabe, die Isolde das Gefühl vermittelte, etwas Verantwortungsvolles zu tun. Die Arbeit zog sich manchmal über mehrere Stunden hin, vor allem dann, wenn die Elektronik beim Abgleich des Prüfberichtes Abweichungen zu ihren eigenen Messergebnissen feststellte.
16:00 Uhr: Kraft- und Ausdauertraining im Fitnessraum. Anschließend Duschen.
Unter der Dusche wollte Isolde ein Lied singen, was ihr aber wegen des über das Gesicht herablaufenden Wassers Schwierigkeiten bereitete. Sie musste kurz herzhaft auflachen, denn es erinnerte sie an Onkel Robert, der immer, wenn er lustig sein wollte, einen Sprachfehler imitierte. Isolde fand das früher überhaupt nicht witzig und sagte dann immer, man müsse schon selbst sehr dumm sein, wenn man über so etwas Dummes lachen könne.
17:20 Uhr: Gesellschaftsraum. Einspielung der Nachrichten von der Erde, mittlerweile nur noch 2 Jahre alt. Nichts Dramatisches. Ein paar Wahlen, Erdbeben, neue Chemiefabrik auf der Venus eingeweiht und Ähnliches. Globale Wetterkapriolen. Waldbrände und Überschwemmungen. Was schon interessanter war: Heftiger Streit zwischen zwei Königstöchtern (das Land hatte sie nicht verstanden), weil die eine Erbprinzessin war und die andere nicht.
Anschließend ein Film über Forstwirtschaft in Amerika. Wunderschöne Bilder, wunderschönes Grün. Plätschern von Gebirgsbächen, Tosen von Wasserfällen.
Im Anschluss daran interaktives Sozialisationstraining. Schwierigkeitsgrad, Situation und Charakter der Gegenspieler bestimmte die Computersteuerung nach den Wesenstests der jeweils vorangegangenen Übungen. Isolde gab sich redliche Mühe, aber sie hatte das Gefühl, dass das Training von Woche zu Woche härter wurde. Der Psychocontroller war so programmiert, dass er nur in Notfällen eingriff. Anfangs, bei drei Besatzungsmitgliedern, die gut miteinander auskamen, hatte er sich ganz zurückgehalten. Nach dem Tod Mariannes, die bereits beim Hinflug trotz bester Gesundheit völlig überraschend an Herzversagen gestorben war, hatte er mit der Betreuung begonnen. Anfangs begnügte er sich mit Seelsorge und Psychostabilisierung. Vielleicht zu viel. Zumindest für Karl-Egon, der es bald nicht mehr ertragen konnte. Das musste er auch nicht. Er war einer von denen, die sich für den Verbleib auf dem Exoplaneten gemeldet hatten. Er würde die Erde wahrscheinlich nie wieder sehen.
Nach dem Abendbrot, also am Abend, d.h. in der Zeit, die die Borduhr zwischen 18:00 und 22:00 anzeigte, versuchte Isolde erst, E-Mails an ihre Freundinnen Elisabeth und Hannelore zu schreiben, was sie dann aber als sinnlos erachtete und abbrach. Dann versuchte sie, der Reihe nach drei E-Buch-Liebesromane zu lesen, gab es aber wieder auf, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Sie ließ sich dafür auf dem großen Bildschirm ein halbfertiges 500-Teile-Puzzle mit Blumenmotiv anzeigen, in das sie in einer Stunde sieben Teile einfügte. Wäre es ein echtes aus Pappe gewesen, hätte sie es am Schluss in die Ecke geworfen. Unwillkürlich musste sie daran denken, dass Ernst-August, wenn sie früher einmal von einer Reise heimkam, immer mit einem großen Strauß roter Rosen erwartete. Schluchzend gab sie sich ihren Erinnerungen hin.
Während das Raumschiff mit 120.000 Kilometern pro Sekunde durch das All raste, legte Isolde sich mit wachem Körper, aber müdem Geist schlafen.
Im Alter von 36 Jahren war Isolde ausgewählt worden, am Projekt Wachkind IV teilzunehmen. Nur überdurchschnittlich intelligente, charakterfeste, belastungsfähige und absolut gesunde Menschen hatten die Chance gehabt. Und ungebunden mussten sie sein, denn sie würden 25 Jahre unterwegs sein. Isolde glaubte damals, es Ernst-August schuldig zu sein, ihrem geliebten Gatten, der leider viel zu früh verstorben war. Ernst-August war selbst Raumpilot gewesen, aber nie weiter als bis zum Mars gekommen. Beim letzten Landeanflug auf der Erde kam es zu dem tragischen Unfall, der ihm das Leben kostete. Für eine der Reisen nach Wachkind hatte er sich sehr interessiert gehabt, das Vorhaben aber wegen der langen Trennung von Isolde aufgegeben. Aus Liebe zu ihr also – und das trieb ihr bis jetzt jedes Mal noch Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte.
Damals aber glaubte sie, er hätte es so gewollt gehabt. Und wenn er im Himmel ist, dachte sie, wäre er im Geiste immer bei ihr und könnte sich an der Reise genauso erfreuen, als wenn er sie selbst unternommen hätte.
Mittlerweile aber bereute Isolde insgeheim immer öfter, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Viele ihrer Vertrauten würden bei ihrer Heimkehr nicht mehr am Leben sein. An eine Life-Kommunikation war nicht zu denken. Am entferntesten Punkt war selbst ein Funkspruch vier Jahre unterwegs.
Wachkind war der nächstgelegene extrasolare Planet mit sauerstoffhaltiger Atmosphäre. Er umkreiste Alpha Centauri A, wobei er während der Hälfte seines Jahres von zwei Sonnen beschienen wurde. Eine phantastische Vorstellung, die die Reisestrapazen der ersten Jahre vergessen ließ. Isolde gehörte der vierten Expedition an, die in Abständen von jeweils einem Jahr aufbrachen und die Errichtung einer Station vorbereiten sollten. Nach sechs Jahren, als ihnen das erste zurückkehrende Raumschiff im Vorbeiflug einen Bericht übermittelte, erfuhren sie, dass Wachkind von einer dichten, nie aufreißenden Wolkendecke umgeben ist. Ewige Düsternis herrschte auf dem Planeten. Keine Sonne auf der Haut.
0:23 Uhr: Isolde wälzte sich schweißgebadet im Bett. Wieder hatte sie so einen trostlosen Traum, der sie nicht nur betroffen stimmte, sondern ihr auch ein schlechtes Gewissen machte. Ihre Eltern, die Geschwister, die besten Freundinnen, alle tot? Sollte sie sich noch auf die Erde freuen?

Letzte Aktualisierung: 01.10.2015 - 15.53 Uhr
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