'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Unterwegs | Oktober 2015
Melwin, der Meisterdieb
von Ingo Pietsch

Melwin rannte, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten. Die Tasche mit der Beute fest an seine Brust gepresst, immer darauf bedacht, sie nicht zu sehr durchzuschütteln.
Völlig außer Atem hielt er kurz inne und blickte zurück, ob er nicht verfolgt würde.
Der Meisterdieb setzte zur weiteren Flucht an, als er unvermittelt gegen etwas prallte, das nicht existierte. Er tastete die unsichtbare Wand vor sich ab und stellte mit Entsetzen fest, dass er sich besser nicht mit einem Zauberer hätte einlassen sollen.

Eine halbe Nacht zuvor
Das Gasthaus, welches Melwin betreten hatten, unterschied sich in nichts von den vorherigen, die er besucht hatte: Schmuddelig, voller angetrunkener Waldarbeiter und der Wirt trocknete rissige Gläser mit seiner vor Dreck stehenden Schürze ab.
Melwin zog sich in eine dunkle Ecke zurück. Dort schüttete er den kläglichen Inhalt aus einem Lederbeutel in seine Hand: Ein paar Kupfermünzen und ein Silberling.
Das würde gerade für eine warme Mahlzeit und die Übernachtung reichen.
Eigentlich müsste er als Meisterdieb in Geld schwimmen. Aber die Dienste seinesgleichen waren in diesen Tagen nicht sonderlich gefragt.
Dank seines Kleinwuchses passte er fast durch jeden Fensterspalt und konnte selbst die dünnste Regenrinne erklimmen. Und wurde er tatsächlich einmal erwischt, hielt man ihn meist für ein Kind und er kam mit einem Stiefeltritt davon.
Er leistete gute Arbeit. Nur wenn es ans Bezahlen ging, tauchten meist die Soldaten des Königs auf, weil irgendjemand ihn auf Grund seines Steckbriefs verpfiffen hatte.
Und die Summe stieg von Mal zu Mal.
Jetzt hielt Melwin sich in den Grenzlanden nahe dem Wald auf, um schnell untertauchen zu können.
Melwin seufzte. Wenn er nicht bald ein paar Goldmünzen auftreiben konnte, würde er etwas zum Essen stehlen müssen. Und das war weit unter seinem Niveau.
Eine dralle Bedienung kam an seinen Tisch und fragte freundlich: „Was darf es sein, junger Herr?“
Manieren hatte sie. „Ein Abendessen und eine Unterkunft für die Nacht, wären genehm.“
Er winkte sie mit dem Finger näher zu sich heran: „Und vielleicht hättet ihr eine Beschäftigung für mich.“
Sie beäugte ihn und sagte verschmitzt: „Was zeichnet euch denn aus?“
„Ich bin ein Meisterdieb!“, flüsterte Melwin.
Schlagartig war es still im Schankraum.
„Wir alle hier gehen ehrlichen Arbeit nach“, kommentierte ein vollbärtiger, wettergegerbter Mann mit einer Augenklappe und hieb dabei ein Beil in den Tisch vor sich.
Der Wirt quittierte dies mit einem ärgerlichen Blick.
„Aber möglicherweise hätten wir ja was für euch“, der Bärtige lachte auf.
Als allen anderen klar wurde, was er meinte, stimmten sie mit ein.
„Seid ihr denn gut in eurem Können?“, wollte die Bedienung wissen.
Melwin zog eine Kette aus seinem Ärmel, an der ein glänzender Ring hing. „Ist das euer Verlobungsring?“
Die Bedienung fasste sich suchend an den Hals, wurde rot dabei, entriss ihm die Kette und rannte wütend Richtung Küche.
„Sie ist jemandem versprochen. Das wussten wir ja gar nicht!“, rief einer der Waldarbeiter empört in Runde. Mehrere bekundeten ihren Unmut.
„Um was für einen Auftrag geht es denn?“, Melwin war ganz gespannt.
„Lass lieber die Finger davon, Kleiner.“ Der Wirt wandte sich ab.
Melwin hatte die Neugier gepackt. „Für ein Säckchen voll Gold ist mir nichts zu schwierig!“
„Hört, hört!“, der Bärtige hob seinen Humpen. „Es gibt hier einen Zauberer, der uns tyrannisiert. Selbst der König lässt ihn gewähren, weil er Angst vor ihm hat oder warum, glaubst du, gibt es hier keine Soldaten?“
Melwin dachte nach: „Und was soll ich für euch stehlen?“
Der Bärtige nippte erneut an seinem Bier: „Angeblich bezieht der Zauberer seine magischen Kräfte aus einem Drachenei.“
Melwins Augen wurden groß. Drachen gehörten ins Reich der Legenden. Seit Jahrhunderten war keiner mehr gesichtet worden. Aber wer wusste das schon so genau?
Melwins Gegenüber schüttelte ein Säckchen wie eine Glocke, als könne er dessen Gedanken lesen.
„Als Anzahlung erwarte ich eine warme Mahlzeit!“
Der Wirt schüttelte den Kopf – noch nie war jemand vom Turm des Zauberers zurückgekehrt.

Der Turm ragte weit über die Baumwipfel hinaus und war dank des Mondes gut zu erkennen.
Melwin stapfte schon eine gute Viertelstunde durch Morast und sank immer wieder bis zu den Knöcheln in die Matsche ein. Mit Pferd oder Fuhrwagen war hier kein Durchkommen.
Sein Atem schwebte in Dunstwölkchen vor seinem Gesicht und ihm froren die Füße.
Endlich gelangte er auf eine Lichtung. Rund um den Turm war der Boden gerodet worden. Baumskelette und Felsen lagen verstreut in der Gegend herum.
Etwas knackte unter Melwins Füßen. Er sah hinunter und erblickte die verkohlten Knochen eines Menschen. Und eines weiteren.
Es war ein Schlachtfeld: Verbrannte Leichen, zerschmetterte Schilde, geschmolzene Rüstungen so weit das Auge reichte.
Es musste ein wahrhaft grausamer Zauberer sein.
Melwin erreichte den Turm. Er war riesig und unbezwingbar.
Der Meisterdieb umrundete den Turm, fand aber weder Tor noch Tür.
In ungefähr zwanzig Meter Höhe befanden sich Schießscharten, da, so hoffte er, müsse er durchpassen.
Er befühlte die unregelmäßige Wand des Turms und begann zu klettern.
Der Wind zerrte an seiner Kleidung und trocknete seine schweißnasse Stirn.
Unter Schmerzen zwängte er sich durch eine Scharte.
Melwin fand sich auf einer Wendeltreppe wieder. Immer wieder sickerte Licht in den Gang, sodass er sehen konnte, wohin er lief.
Er gelangte an eine Tür und öffnete sie.
Vor ihm lag ein kreisrunder Saal, erhellt von Fackeln. In der Mitte, auf einem Podest und unter einer Glaskuppel, thronte das Drachen-Ei. Es maß ungefähr die Länge seines Unterarms.
Melwin sah sich um. Dann ging er vorsichtig zu der Kuppel und versuchte sie öffnen. Aber sie war wie festgewachsen.
Er kramte in seiner Tasche und fischte einen Stab hervor, an dessen Ende sich ein Diamant befand. Der einzige wertvolle Gegenstand, den er noch besaß.
Mit einem lauten Kratzen zog er den Stab über das Glas, bis ein Dreieck in Größe des Eis entstanden war. Mit etwas Kraft drückte er das Glasstück nach Innen und nahm das Ei heraus.
Es war über und über mit Panzerschuppen bedeckt.
Melwin steckte es in seine Tasche, als ein Horn geblasen wurde. Man hatte ihn entdeckt.
Er sah eine weitere Tür und flüchtete so schnell er konnte, die Treppe nach oben.
Der Meisterdieb gelangte auf das Dach, stürzte zum Rand und blickte nach unten. Springen konnte er nicht, klettern würde zu lange dauern.
Er entdeckte einen Flaschenzug mit einem Eimer daran. Er warf ihn über die Brüstung und der Eimer sauste an einem Seil nach unten.
Melwin versteckte sich im Schatten der Brüstung, hielt die Luft an und wartete.
Da wurde auch schon die Tür aufgerissen und ein junger Mann in leichter Rüstung betrat die Plattform.
Melwin hatte sich den Zauberer als alten Mann mit langem Bart und wehendem Umhang vorgestellt, doch dieser sah ganz anders aus.
Er stürmte zur Brüstung und sah ebenfalls hinunter. Er formte mit seinen Händen aus dem Nichts einen Feuerball und schleuderte ihn nach unten. Dann noch einen. Schließlich zog er eine Pfeife aus dem Ärmel und blies sie ein Mal.
Der Ton war so hoch, dass Melwin ihn gerade noch hören konnte.
Ein riesiger Adler flog heran und der Zauberer schwang sich auf dessen Rücken.
Mit einem mächtigen Flügelschlag hob der Adler ab und segelte davon.
Melwin sah seine Chance gekommen. Er ergriff das Seil und kletterte zum Fuß des Turmes.
Immer wieder fielen Feuerbälle zu Boden und erhellten die Lichtung.
Melwin rannte, stürzte und rannte wieder weiter. Gelegentlich duckte er sich hinter einen Felsen.
„Gib mir das Ei zurück! Du hast keine Ahnung, in welcher Gefahr du schwebst!“, rief der Zauberer. Ein weiterer Feuerball jagte auf die Erde zu.
Der Meisterdieb ignorierte das Geschrei und flüchtete.

Hier also war Melwins Reise zu Ende. Vor einer magischen Wand.
Der Meisterdieb tastete den Boden ab und fand einen Stein. Er kramte das Ei aus seiner Tasche und richtete sich auf.
Vor ihm war gerade der Zauberer von seinem Adler gesprungen, der davonflog.
Etliche Feuer loderten überall.
Zorn sprühte aus des Zauberers Augen: „Gib mir das Ei und ich lasse dich gehen!“ Ein Feuerball bildete sich in seiner Handfläche.
Melwin hielt Ei und Stein hoch und drohte das Ei zu zerstören. „Ich gehe, mit dem Ei, sonst …“.
Die Flamme erlosch. Der Zauberer senkte resigniert beide Hände. „Bitte! Ich will dir nichts tun. Aber gib mir das Ei!“
Melwin ging einen Schritt rückwärts und traf auf kein Hindernis. Er machte Anstalten zu gehen.
„Warte! Das Drachen-Ei ist gefährlich. Ich beschütze es!“
Melwin zögerte: „Ja, weil du dann deine Macht verlierst.“
Der Zauberer schüttelte den Kopf: „Was du da in den Händen hältst, ist ein Mutter-Drachen. Jedes Mal, wenn die Drachen vor ihrer Ausrottung stehen, wird ein Mutter-Drachen geboren. Nahezu unsterblich, kann er sich auch ohne Drachenpartner fortpflanzen. Du kannst dir nicht vorstellen, was passiert, wenn der Mutter-Drachen schlüpft. Ich bewache das Ei schon seit so langer Zeit. Gib es mir einfach zurück und ich werde dich dafür entlohnen.“
Melwin stellte sich eine verbrannte Welt in Angst und Schrecken vor. Und er sah vor seinem geistigen Auge, wie seine Belohnung sich auflöste.
„Warum hast du das Ei nicht zerstört, wenn es so gefährlich ist?“, wollte der Meisterdieb wissen.
„Wir haben den Mutter-Drachen erst kurz vor seinem Schlüpfen gefunden. Es war zu spät. Und jetzt nach all den Jahrhunderten, wenn er sich befreien könnte, würde er sofort zu seiner vollen Größe heranwachsen. Nur durch Magie konnten wir ihn bannen.“
Melwin war hin- und hergerissen. Sollte er diese verrückte Geschichte glauben? Immerhin gab es ja eine Belohnung.
Er ließ den Stein fallen und reichte das Ei dem Zauberer.
„Nein, nein, nein!“, rief der Zauberer entsetzt. „Das Ei hat einen Riss!“
Melwin schluckte. Als er gestürzt war, musste es beschädigt worden sein.
Das Ei knackte so laut, dass es von überall widerschallte …

Letzte Aktualisierung: 18.10.2015 - 22.09 Uhr
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