Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Unterwegs | Oktober 2015
Die Urlauberin
von Monika Heil

Wie kam dieses Bild in die Zeitung? Er starrte auf die lachenden Gesichter der beiden, als seien es Fremde. Das Foto war vor zwei Wochen aufgenommen worden. Kurz nach Karins Ankunft. Er erinnerte sich genau. Es war ein sonniger Herbsttag und der letzte glückliche Tag in seinem Leben. Antonio schloss die Augen.

Karin hatte sein Herz bereits während ihrer ersten Ferien erobert. Sie war ein fröhliches und aufgewecktes Kind. In den Anfangsjahren kam sie mit ihren Eltern, meist im Herbst, wenn die Toskana ihre ganze Schönheit ausbreitete. Antonio nahm sie dann mit in die Weinberge oder zur Olivenernte. Selten stand das kleine Mundwerk still. Die Fragen gingen ihr nie aus. Ihre flinken Beine und die sonnengebräunten Arme waren ständig in Bewegung.
„Kleine Hexe“ hatte er sie einmal genannt.

Später kam sie allein. Sie war eine hübsche, junge Frau geworden, die er gern als Stammgast auf seinem kleinen Weingut begrüßte. Ihre unbefangene Art, ihr offenes Interesse an allen Dingen des täglichen Lebens bezauberte jeden, der mit ihr sprach. In den letzten zwei Jahren erschien sie mehrfach zu kurzen überraschenden Besuchen. Sie sprühte vor Energie und verbreitete eine Fröhlichkeit, die Antonio in seiner Familie seit langem vermisste. Selbst Leon, sein schweigsamer Sohn taute auf. In ihrem Beisein wurde er lebhaft und zugänglich. Wann hatte sie auch ihn verhext?

Antonio kehrte mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. Er riss sich von dem Foto mit den lachenden Gesichtern los und starrte auf die zweite Aufnahme dieser Seite. Das Unfallauto.
Eine Familientragödie, schrieben die Zeitungen. Was wussten denn diese Schreiberlinge?

Der Unfall hatte eine Scheinwelt aufgedeckt, der sich Antonio stellen musste, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Unzählige Male ließ er den folgenschweren Tag an sich vorüberziehen. Karin war wieder einmal zu einem Kurzbesuch gekommen. Sie hatte Leons alten Motorroller ausgeliehen und sich für einen Tagesausflug verabschiedet. Leon war mit dem Bus nach Florenz gefahren.
„Muss was Geschäftliches erledigen“, erklärte er seinem Vater knapp und lapidar. Warum steckte er den Schlüssel zum Gartenhaus ein? Es lag eine halbe Stunde entfernt in den Weinbergen. Wozu brauchte er in Florenz diesen Schlüssel? Antonio beobachtete es, stellte - wie üblich - keine Fragen. Auch als keiner der beiden zum Abendessen erschien, schwieg er. Verstohlen sah er zu seiner Schwiegertochter Louisa, die wortkarg am Tisch saß. Sie aß kaum etwas. Stattdessen trank sie – wie so häufig in letzter Zeit - hastig und viel zu viel vom roten Tischwein. Mehr als ihr guttun konnte. Antonio sagte nichts. Er tat, als bemerke er ihre zitternden Hände nicht. Er reagierte nicht auf ihre verschlossene Miene.

Als sie den Tisch abdeckte und danach das Kind zu Bett brachte, zog er sich erleichtert in sein Zimmer zurück. Gewohnheitsmäßig schaltete er den Fernsehapparat ein – laut, viel zu laut, wie jeden Abend. So konnte er die Stimmen im Stockwerk über ihm aussperren. Zum Schweigen brachte er sie nicht. Heute war Louisa allein dort oben. Es gab keine streitenden Stimmen, weder die metallisch harte seiner Schwiegertochter, noch die verbitterte seines Sohnes.

Bisher hatte es in dem kleinen Dorf keine Sünde gegeben, die nicht mit ein paar Rosenkränzen aus der Welt zu schaffen gewesen wäre. Wo blieb Leon? Wo war Karin?

Antonio versuchte, sich auf die Nachrichtensendung zu konzentrieren. Dabei lauschte er immer wieder nach draußen. Weder das Geknatter des Motorrollers war zu hören, noch die vertrauten Schritte seines Sohnes. Er erschrak, als die Haustür mit lautem Knall zuschlug. Er zuckte zusammen, als Louisa ihren kleinen Wagen startete und mit aufheulendem Motor vom Hof raste. Er verschloss sein Herz und reagierte nicht.

Noch einmal besah sich Antonio das Unfallfoto, ein Gewirr aus verbogenem Blech. Der Weg zum Gartenhaus stieg nur ganz allmählich an. Es gab zwei scharfe Kurven. In der ersten war es passiert. Warum? Warum waren sich Louisas Auto und Leons Motorroller genau in dieser Kurve begegnet? Antonio legte die Hände über das Unfallfoto, als wollte er es verstecken. Er starrte auf das zweite Foto in der Zeitung. Die Wiedergabe lachender Gesichter, wie er sie vor zwei Wochen fotografiert hatte.

Ihr Lächeln war beim Splittern von Glas und Bersten von Metall erloschen. Seines erstarb, als die Carabinieri ihm die Nachricht brachten. Ein Erdbeben wäre nicht annähernd so schlimm gewesen. Es hätte nur sein Haus einstürzen lassen. Dieser Unfall legte seine Welt in Trümmer.

Karin war bereits nach Deutschland überführt, Leon und Louisa auf dem kleinen Dorffriedhof beigesetzt worden.
Draußen atmete die Welt weiter. Hier in diesem Zimmer war sie vor Tagen zum Stillstand gekommen.

Version 2

Letzte Aktualisierung: 22.10.2015 - 09.03 Uhr
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