Unterwegs | Oktober 2015
| Rose Neu | von Marcel Porta
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Die Einsamkeit der zwölfjährigen Rose Neu endete, als ihr Cousin Günther aus der Kriegsgefangenschaft in England zurückkehrte. Trotz seiner zweiundzwanzig Jahre erwies er sich als verschlossener und schüchterner junger Mann. Vielleicht gerade deshalb beeindruckte er Rose von Anfang an. Gleich am ersten Abend schlich er sich in ihr Herz.
Rose weigerte sich seit ihrem fünften Lebensjahr mit mehr oder weniger Erfolg, Fleisch zu essen, nachdem sie der auf dem Dorf üblichen Schlachtung einer Kuh beigewohnt hatte. Günther zu Ehren gab es an diesem denkwürdigen Abend Hühnersuppe. Rose rührte nur in ihrem Teller herum.
„Du musst das nicht essen.“
Dieser kurze Satz Günthers, mit dem er sie gegen ihre Mutter in Schutz nahm, war schicksalsträchtig. Sie himmelte ihn mit großen Augen an. Von diesem Moment an ruhten alle ihre Hoffnungen auf ihm.
Roses Vater galt als vermisst und es verging kein Tag, an dem sie nicht um ihn weinte. Was lag näher, als die Liebe, die sie ihm nicht zuwenden konnte, auf ihren Cousin zu übertragen. Er war der Held, der sie gegen ihre ungeliebte Mutter verteidigte.
Roses Familie, die Mutter mit ihren drei Kindern, war beim Bruder des vermissten Vaters untergeschlüpft. In dem Dorf, aus dem sie stammten, konnten sie wegen der Nazivergangenheit von Roses Vater nicht mehr bleiben.
Je mehr die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Vaters schwand, desto verzweifelter wandte sich Roses Liebe dem großen Beschützer zu. Sie bewunderte ihn grenzenlos und jedes seiner Worte erhob sie zum Gesetz.
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An Roses sechzehntem Geburtstag gratulierten alle Freunde und Verwandten. Nur Günther war den ganzen Tag nicht zu Hause, er studierte in der nahen Stadt Physik und Biologie auf Lehramt. Er kam erst am späten Abend.
Er gratulierte ihr herzlich und überreichte als Geschenk einen Strauß roter Rosen, die er unterwegs gekauft hatte.
„Oh, sind die schön! Noch nie hat mir jemand Rosen geschenkt.“
Ob er sie liebte? Wenn er Rosen verschenkte?! Sie wünschte es sich so sehr. Obwohl sie sich seit einiger Zeit körperlich nähergekommen waren, erhoffte sie sich mehr. Eins mit ihm zu sein, vereint gegen die Welt.
Als Rose im Bett lag, dachte sie voll Sehnsucht an ihren Cousin. Wenn er doch nur zu ihr käme! Da öffnete sich lautlos die Tür ihrer Kammer und jemand tastete sich im Dunkeln zu ihrem Bett. Atemlos verfolgte Rose die Annäherung. Sie hoffte mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie das nicht träumte. Dass ihre große Liebe den Weg zu ihr gefunden hatte.
Ohne ein Wort zu sprechen, legte sich Günther neben sie und nahm sie in den Arm. Bei seiner ersten Berührung versteifte sie sich, doch als er sie am ganzen Körper zu streicheln begann, löste sich die Verkrampfung allmählich.
In dieser Nacht fanden sie zum ersten Mal zueinander. Sofort nach der Vereinigung verschwand Günther, ohne einen Satz gesprochen zu haben. Rose wusch heimlich das Laken auf der Toilette aus.
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Seit nunmehr zwei Jahren schliefen sie miteinander. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Wobei die eher selten waren, zu viele Leute befanden sich infolge der herrschenden Wohnungsnot im Haus. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war groß, und so mussten wenige Minuten zwischen Tür und Angel reichen. Zärtlichkeit kam dabei meist zu kurz.
Roses Mutter ahnte längst, dass die beiden ein Geheimnis hatten, und schließlich erwischte sie die Liebenden in flagranti.
„Du musst mir versprechen, sie nicht mehr anzufassen, Günther! Sonst musst du gehen!“ Roses Mutter ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte.
An das absolute Verbot weiterer sexueller Kontakte hielten sich die beiden sogar eine Zeit lang, doch Rose war es, die schließlich auf ein weiteres Stelldichein drängte.
„Wenn du nicht zu mir kommst, sterbe ich vor Sehnsucht.“ Sie ertrug die mit der sexuellen Abstinenz einhergehende Vereinsamung nicht länger.
Immer wieder drängte sie Günther, sich zu ihr zu bekennen, und für klare Verhältnisse zu sorgen. „Wenn wir heiraten, kann Mama nichts mehr gegen uns unternehmen!“
Doch ihr Liebhaber wiegelte ab: „Ich werde niemals eine Frau nehmen, die keine Kinder bekommen kann. Von dir weiß ich das noch nicht.“
Und dann kam der Tag, der alles veränderte.
„Wenn wir es jetzt tun“, versuchte Rose, ihn an diesem Abend abzuhalten, „werde ich schwanger.“
„Sei still“, sagte er herrisch und hielt ihr den Mund zu. Dann drang er in sie ein.
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Rose war bereits dreißig, als sie erfuhr, dass Frauen einen Orgasmus haben können. Diese ungeheure Wahrheit las sie in der Zeitschrift Jasmin, die sie abonniert hatte. Genauer aus dem Innenteil, den man separat aufschneiden musste und der Tipps und Ratschläge zur Ehehygiene enthielt.
Sie experimentierte mit ihrem Körper und schaffte es, sich selber zu beglücken. Und diesen Hochgenuss der Sinne wollte sie auch mit ihrem Mann erreichen. Doch mit Günther konnte sie darüber nicht reden, sofort wiegelte er ab und wurde grob und grantig, wenn sie dieses Thema anschnitt. „Was du immer in deinen blöden Frauenzeitschriften liest! Das ist hirnrissiger Blödsinn!“
So blieb alles beim Alten. Der Sex fand im Dunkeln statt und nach gefühlten zwei Minuten war es vorbei.
Kurz nach diesen ersten vergeblichen Versuchen, sexuelle Erfüllung mit ihrem Mann zu erleben, kam sie für etliche Wochen in eine psychiatrische Klinik in der Schweiz, da sie in tiefe Depressionen verfallen war. Ihre Töchter Ria und Delia waren damals 11 und 6 Jahre alt, und es fiel ihr unendlich schwer, sie zurückzulassen.
Auch nach diesem Aufenthalt gelang es ihr nicht, die Sexualität in der Ehe auf neue Füße zu stellen. Im Bett wurde Zärtlichkeit nur zweckgebunden ausgetauscht und danach gab es keine weiteren Berührungen. Das entsprach in keiner Weise ihren Vorstellungen oder den Schilderungen in ihren einschlägigen Zeitschriften.
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Das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Nähe nahm stetig zu. Doch auch in ihrem vierunddreißigsten Lebensjahr blieb ihr dies verwehrt. So reifte in ihr der brennende Wunsch, aus der Ehe auszubrechen. Mindestens einmal wollte sie erfahren, wie es sich anfühlte, mit einem Mann die sexuelle Erfüllung zu erleben.
„Wenn du auch nur ein einziges Mal fremdgehst, sind wir geschiedene Leute“, warnte sie ihr Mann, der die Unzufriedenheit wohl registriert hatte. „Und bilde dir nur nicht ein, dass die Kinder dir zugesprochen werden. Manisch Depressive haben vor Gericht keine Chance.“
Dasselbe sagte sie sich auch, und so fand sie nie den Mut, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen. Weder sah sie sich imstande, ihr Leben alleine zu meistern, noch wollte sie es riskieren, ihre Kinder zu verlieren.
Als attraktive Frau hatte sie Gelegenheiten genug, es gab immer wieder Annäherungsversuche einsamer Männer, doch außer einigen Fummeleien im dunklen Kino ließ sie nichts zu. Die Sehnsucht allerdings blieb.
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Kurz nach Roses 78. Geburtstag starb ihr Mann Günther nach dreimonatiger Bettlägerigkeit. Trauer und die Wut über ihre Unfähigkeit, allein zurechtzukommen, ließen sie verzweifeln und sie verfiel in tiefe Depressionen. Nur durch die Medikamente, die sie seit vierzig Jahren nahm, konnte sie die Krankheit ihres Gemüts einigermaßen ertragen. Sie war sich selbst nur noch Last. Der Tod trat mehr und mehr in den Mittelpunkt ihres Denkens. Lediglich die Rücksicht auf ihre Töchter hielt sie zurück, den Freitod zu wählen.
Nach dem von ihrem neuen Arzt vorgeschlagenen Medikamentenwechsel fiel sie in ein noch tieferes Loch und unternahm nun doch den zweiten Selbstmordversuch ihres Lebens. Auch dieser ging schief, wie alles, was sie anpackte.
In einer psychiatrischen Klinik sollte sie sich erholen und lernte dort einen Mann kennen, der ihr großes Interesse entgegenbrachte.
Wundervolle Gespräche konnte sie mit ihm führen, er gab ihr das Gefühl, wieder lebendig zu sein. Unverhofft lebte ihre langjährige Sehnsucht nach körperlicher Erfüllung erneut auf. Lange rang sie mit sich, ob sie diesen Wünschen eine Chance einräumen sollte.
Doch das Leben hatte ihr längst den Schneid abgekauft. Diesmal begrub sie ihre Hoffnungen selbst. Sie brachte den Mut zu einer befreienden Tat nicht mehr auf. Die Todessehnsucht hatte alle anderen Sehnsüchte endgültig überlagert. Kampflos gab sie auf und versank in Resignation. Womit sie die Tür für neue Depressionen weit öffnete - doch lieber wollte sie die alten Übel tragen, als fliehen zu neuen, die sie nicht kannte.
© Marcel Porta, 2015
Version 1
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Letzte Aktualisierung: 14.10.2015 - 06.19 Uhr Dieser Text enthält 8481 Zeichen. www.schreib-lust.de |