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Hier spukt's | November 2015
Erschreckend
von Marcel Porta

„Ich möchte doch zu gerne wissen, wie es ist, wenn man erschrickt. Du nicht auch, Charity?“
Der junge Mann, der diese fĂŒr unsere Geschichte bedeutungsschweren SĂ€tze von sich gibt, scheint etwa siebzehn zu sein, und seine strahlend blauen Augen lassen ihn hellwach wirken. Lediglich die Tatsache, dass er einige Zentimeter ĂŒber dem Erdboden schwebt, deutet darauf hin, dass er keineswegs so konzentriert ist, wie er wirkt.
„Doch, Andy, das treibt mich auch schon lange um“, erwidert ihm die junge Frau, die vor ihm steht. Sie ist grĂ¶ĂŸer als der junge Mann und nach herkömmlichen MaßstĂ€ben eine perfekte Schönheit.
„Wir könnten doch mal probieren, uns gegenseitig zu erschrecken. Gehört doch unbedingt zu unserem Metier“, schlĂ€gt Andy vor, und Charity klatscht begeistert in die HĂ€nde. Zwar ist kein Laut zu hören, aber die Geste sieht gekonnt aus.

„Fang du an“, fordert Charity ihr GegenĂŒber heraus.
„Moment, ich probier‘s erst mal mit was Harmlosem. Nicht, dass du gleich zu Tode erschrickst.“ Beide brechen ĂŒber diese lustige Formulierung in Lachen aus.
„Soll ich die Augen zumachen?“, fragt Charity und erntet ein belustigtes Gesicht ihres Freundes.
„Im Gegenteil, schau nur genau hin.“
Schon wĂ€hrend dieser Worte beginnt der Kopf des Sprechers zu wachsen, verliert mehr und mehr seine Konturen, wird zu einem Luftballon, der hochsteigt und direkt unter der Decke zerplatzt. Als ein Konfettiregen einsetzt, bricht Charity in BegeisterungsstĂŒrme aus.
„Oh, wie schön!“, kreischt sie und begreift zu spĂ€t, dass ihre Reaktion fĂŒr Andy alles andere als befriedigend ist.
„Sorry“, lĂ€sst sie sich kleinlaut vernehmen, „aber deine Performance hat mich regelrecht mitgerissen.“
„Du solltest aber erschrecken!“, beklagt sich der inzwischen wieder am Rumpf befestigte Kopf ihres Partners.
„Wie machen die Menschen das bloß? Es muss da ein Geheimnis geben. Warte, jetzt probiere ich es mal.“

Charity ist nicht zimperlich und lĂ€sst ihre Gesichtshaut verschwinden, sodass Andy einem rohen Fleischkloß gegenĂŒbersteht. Er zuckt zusammen und schlĂ€gt die HĂ€nde vors Gesicht. Das Schluchzen, das er ausstĂ¶ĂŸt, könnte einen Stein erweichen.
„Mein Gott, du bist ein begnadeter Schauspieler“, grinst ihn das inzwischen wieder behĂ€utete Gesicht des jungen MĂ€dchens an. „Das sah echt echt aus.“
„Aber natĂŒrlich war es das nicht. Ich finde es total blöd, dass wir das nicht hinbekommen mit dem Erschrecken. Aber komm, so schnell geben wir nicht auf!“

In der Folge gehen einige Metamorphosen mit den zwei Schreckgespenstern vor sich. Doch weder rasselnde Skelette, noch ohrenbetĂ€ubendes Schiffssirenengeheul, weder plötzlich auftauchende Ungeheuer mit spitzen ZĂ€hnen im Maul, noch die kleine Maus mit der Spinne auf dem RĂŒcken, mit der Andy bei Charity einen gewagten Versuch startet, fruchten das Geringste. Erschrecken ist nicht.

„So langsam habe ich die Schnauze voll!“ Andy gibt als Erster auf. „Das wird nichts mehr. Komm, lass uns einen trinken gehen.“
„Okay, von mir aus. Ich hab mein Pulver auch verschossen. Bei mir reicht es jetzt nicht mal mehr, ein kleines Kind zu erschrecken. HĂ€tte auch gar keine Lust mehr dazu, die ist mir grĂŒndlich vergangen.“

***

„Schmeckt gut, dieses Zeug, das sie Bier nennen, aber jetzt hab ich genug davon. Lass uns nach Hause gehen.“
Charity hat lÀngst bemerkt, dass Andy melancholisch geworden ist. Ob das immer noch mit seiner UnfÀhigkeit zu erschrecken zusammenhÀngt, fragt sie sich. Sie selbst ist da pragmatischer. Was nicht geht, geht eben nicht.
„Wollt ihr schon gehen?“, fragt ein junger Mann die beiden, als sie aufbrechen.
„Ja, wir haben noch einen weiten Weg zu Fuß“, meint Andy und hakt seinen Arm bei Charity unter.
„Ich gehe auch bald, ich kann euch nach Hause fahren“, erklĂ€rt Rusty, wie er sich gleich darauf vorstellt. Charity und Andy kommunizieren kurz miteinander, ohne dass sich ihre Lippen bewegen, dann nehmen sie das Angebot an. Es passiert nicht oft, dass sie mit Menschen so nahen Kontakt haben, ohne dass sie in ihrer Eigenschaft als Schreckgespenst unterwegs sind. Heute jedoch ist ein besonderer Tag, an dem sie sich eine Auszeit gönnen. Die Selbstversuche haben sie doch ziemlich mitgenommen.

„Also brechen wir auf!“, schlĂ€gt Rusty nach einem weiteren gemeinsamen Bier und einer angeregten Unterhaltung ĂŒber Boliden und die Formel 1 vor. „Wo soll ich euch hinbringen?“
Die beiden Schreckgespenster schauen sich etwas verlegen an, darĂŒber haben sie sich noch keine Gedanken gemacht. Doch da nimmt Rusty ihnen mit einem Vorschlag die Entscheidung ab.
„Zum Asylantenwohnheim? Sorry, aber ihr seht so aus und sprecht auch so. Und wer lĂ€uft heutzutage noch zu Fuß?“
„Genau“, sagen Charity und Andy wie aus einem Mund und grinsen sich an. Das Asylantenwohnheim ist so gut wie jede andere Adresse. Eigentlich hat Charity sich die schwarze Hautfarbe nur deshalb ausgesucht, weil sie besser zu dem Kleid passt, das sie sich ausgedacht hat. Nun scheint sie noch einem anderen Zweck zu dienen.
Mit Autos kennen sich die beiden ĂŒberhaupt nicht aus, deshalb wundern sie sich nicht, als sie in einen zitronengelben Lamborghini einsteigen.
Kaum sind die TĂŒren geschlossen, legt Rusty los. Die beiden GĂ€ste werden durchgeschĂŒttelt, als er nach der kurzen Fahrt rĂŒckwĂ€rts erst die Bremsen, dann den VorwĂ€rtsgang reinhaut. Die Beschleunigung ist so groß, dass die beiden Gespenster zum ersten Mal in ihrer Existenz eine Vorstellung davon bekommen, was Schwerkraft bedeutet. Mit quietschenden Reifen schießt der Wagen um die nĂ€chste Kurve und beschleunigt stetig weiter. UnabhĂ€ngig voneinander beschließen Charity und Andy, sich in diesem Moment ganz ihren Manifestationen hinzugeben. Etwas, das sie noch nie getan haben, denn bisher waren immer sie es gewesen, die agieren wollten. Nicht jedoch an diesem ereignis- und lehrreichen Tag.

Je weiter sie fahren, desto unwohler fĂŒhlt sich Charity. Ihr wird schwindlig und alles dreht sich vor ihrem inneren Auge. Die schwungvolle Fahrweise Rustys und die engen Kurven, die er mit einer die FliehkrĂ€fte strapazierenden Geschwindigkeit durchfĂ€hrt, heben ihr den Magen.
„Nur nicht kotzen!“, meint Rusty, der erkennt, wie es um Charity steht, „wir sind gleich da.“
Mit qualmenden Reifen bringt er den Lamborghini nach einer Vollbremsung zum Stehen und die Beifahrer taumeln aus dem Auto.
„Danke“, murmelt Andy, bevor er sich am Straßenrand erbricht. Kleine Steinchen spritzen ihm ins Gesicht, als er dem davonpreschenden gelben GefĂ€hrt hinterherschaut.
„Was war denn das?“, fragt Charity, die sich neben ihren Kumpan gestellt hat. „Noch niemals hatte eine meiner Manifestationen solche GefĂŒhle. In so ein GefĂ€hrt steige ich nie wieder ein.“
„Siehst du, was ich hier tue?“, fragt Andy.
„Ja, kenne ich. Das haben schon einige gemacht, wenn ich besonders eklige Gestalten angenommen habe.“
„Und hast du auch gesehen, was mit Rusty in wenigen Minuten geschehen wird?“
„Ja, die Eiche wird ihm nicht aus dem Weg gehen. Es tut mir leid um ihn, er war nett zu uns. Doch wir können nichts fĂŒr ihn tun. Schade.“

Weiter kommen sie in ihrem GesprÀch nicht, denn plötzlich werden sie von einer Horde jugendlicher Krakeeler umringt.
„Was haben wir denn da? Eine Negerfotze und einen Judenbengel.“ Der Schlaukopf trĂ€gt Glatze und Springerstiefel.
„Wusste doch, dass wir hier welche finden. In der NĂ€he von diesen Scheißheimen treiben sich immer welche rum.“ Auch dieser Ausbund der Weisheit ist haarlos und hat ein aufgedunsenes Gesicht.
„Schau dir nur die Hackfresse von diesem Itzig an!“ Der Sprecher stĂ¶ĂŸt Andy so fest vor die Brust, dass dieser umfĂ€llt. Gerade noch rechtzeitig hat Andy seine Konsistenz wieder erhöht, sonst wĂ€re der Schlag ins Leere gegangen.
„FrĂŒher hat man solche Typen aufgehĂ€ngt! Oder vergast, das war effektiver.“
„Klar, Mann, fĂŒr diesen Ausschuss der Evolution gibt es keine andere Lösung! Heil Hitler!“
„Schlag ihm die Nase breit! Dann sieht er fast wie ein Mensch aus.“
Andy liegt auf dem Boden und einige der Glatzköpfe treten auf ihn ein. Andere wenden sich Charity zu.
„Na TĂ€ubchen, hast du Lust auf einen harten MĂ€nnerschwanz? Nicht so ein abgeschnittenes WĂŒrstchen wie bei dem da“, bedrĂ€ngte ein großer Dicker mit langem Ledermantel die Ă€ngstlich dreinschauende Charity.

„Ich glaube, mir reicht’s jetzt“, signalisiert Charity ihrem Freund nonverbal.
„Lass uns verschwinden“, gibt der zurĂŒck.
Über die plötzlich verschwundenen Opfer rĂ€sonieren die Glatzen noch lange und schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Wie konnten sie die nur entkommen lassen. Zu blöd, wo sie doch gerade erst angefangen hatten!

***

„Wir taugen gerade mal dazu, kleine Kinder zu erschrecken“, eröffnet Andy das GesprĂ€ch. „Ich war mental noch vollkommen in meiner Manifestation befangen, als die aufgetaucht sind.“
„Ja, ich ebenfalls“, antwortet Charity. „Diese GefĂŒhle werde ich nie mehr vergessen.“
„Meinst du, die Menschen empfinden so, wenn wir unsere Show abziehen? Dann gebe ich meinen Beruf auf und werde lieber eine gute Fee. Obwohl das stinklangweilig ist.“
„Nein, mein Lieber, gegen dieses Gesindel sind wir harmlos. Homo homini lupus! Gelesen habe ich das schon mal, jetzt weiß ich endlich, was damit gemeint ist.“
„Komm, wir schlafen ein paar JĂ€hrchen. Von langer Dauer kann so was nicht sein, es ist doch zu dumm und widersinnig.“
„Gut, schauen wir in fĂŒnfzig Jahren noch mal rein und geben diesen Kanaillen bis dahin die Chance auszusterben.“
„Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“


© Marcel Porta, 2015
Version 2

Letzte Aktualisierung: 05.11.2015 - 14.03 Uhr
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