âIch möchte doch zu gerne wissen, wie es ist, wenn man erschrickt. Du nicht auch, Charity?â
Der junge Mann, der diese fĂŒr unsere Geschichte bedeutungsschweren SĂ€tze von sich gibt, scheint etwa siebzehn zu sein, und seine strahlend blauen Augen lassen ihn hellwach wirken. Lediglich die Tatsache, dass er einige Zentimeter ĂŒber dem Erdboden schwebt, deutet darauf hin, dass er keineswegs so konzentriert ist, wie er wirkt.
âDoch, Andy, das treibt mich auch schon lange umâ, erwidert ihm die junge Frau, die vor ihm steht. Sie ist gröĂer als der junge Mann und nach herkömmlichen MaĂstĂ€ben eine perfekte Schönheit.
âWir könnten doch mal probieren, uns gegenseitig zu erschrecken. Gehört doch unbedingt zu unserem Metierâ, schlĂ€gt Andy vor, und Charity klatscht begeistert in die HĂ€nde. Zwar ist kein Laut zu hören, aber die Geste sieht gekonnt aus.
âFang du anâ, fordert Charity ihr GegenĂŒber heraus.
âMoment, ich probierâs erst mal mit was Harmlosem. Nicht, dass du gleich zu Tode erschrickst.â Beide brechen ĂŒber diese lustige Formulierung in Lachen aus.
âSoll ich die Augen zumachen?â, fragt Charity und erntet ein belustigtes Gesicht ihres Freundes.
âIm Gegenteil, schau nur genau hin.â
Schon wĂ€hrend dieser Worte beginnt der Kopf des Sprechers zu wachsen, verliert mehr und mehr seine Konturen, wird zu einem Luftballon, der hochsteigt und direkt unter der Decke zerplatzt. Als ein Konfettiregen einsetzt, bricht Charity in BegeisterungsstĂŒrme aus.
âOh, wie schön!â, kreischt sie und begreift zu spĂ€t, dass ihre Reaktion fĂŒr Andy alles andere als befriedigend ist.
âSorryâ, lĂ€sst sie sich kleinlaut vernehmen, âaber deine Performance hat mich regelrecht mitgerissen.â
âDu solltest aber erschrecken!â, beklagt sich der inzwischen wieder am Rumpf befestigte Kopf ihres Partners.
âWie machen die Menschen das bloĂ? Es muss da ein Geheimnis geben. Warte, jetzt probiere ich es mal.â
Charity ist nicht zimperlich und lĂ€sst ihre Gesichtshaut verschwinden, sodass Andy einem rohen FleischkloĂ gegenĂŒbersteht. Er zuckt zusammen und schlĂ€gt die HĂ€nde vors Gesicht. Das Schluchzen, das er ausstöĂt, könnte einen Stein erweichen.
âMein Gott, du bist ein begnadeter Schauspielerâ, grinst ihn das inzwischen wieder behĂ€utete Gesicht des jungen MĂ€dchens an. âDas sah echt echt aus.â
âAber natĂŒrlich war es das nicht. Ich finde es total blöd, dass wir das nicht hinbekommen mit dem Erschrecken. Aber komm, so schnell geben wir nicht auf!â
In der Folge gehen einige Metamorphosen mit den zwei Schreckgespenstern vor sich. Doch weder rasselnde Skelette, noch ohrenbetĂ€ubendes Schiffssirenengeheul, weder plötzlich auftauchende Ungeheuer mit spitzen ZĂ€hnen im Maul, noch die kleine Maus mit der Spinne auf dem RĂŒcken, mit der Andy bei Charity einen gewagten Versuch startet, fruchten das Geringste. Erschrecken ist nicht.
âSo langsam habe ich die Schnauze voll!â Andy gibt als Erster auf. âDas wird nichts mehr. Komm, lass uns einen trinken gehen.â
âOkay, von mir aus. Ich hab mein Pulver auch verschossen. Bei mir reicht es jetzt nicht mal mehr, ein kleines Kind zu erschrecken. HĂ€tte auch gar keine Lust mehr dazu, die ist mir grĂŒndlich vergangen.â
***
âSchmeckt gut, dieses Zeug, das sie Bier nennen, aber jetzt hab ich genug davon. Lass uns nach Hause gehen.â
Charity hat lÀngst bemerkt, dass Andy melancholisch geworden ist. Ob das immer noch mit seiner UnfÀhigkeit zu erschrecken zusammenhÀngt, fragt sie sich. Sie selbst ist da pragmatischer. Was nicht geht, geht eben nicht.
âWollt ihr schon gehen?â, fragt ein junger Mann die beiden, als sie aufbrechen.
âJa, wir haben noch einen weiten Weg zu FuĂâ, meint Andy und hakt seinen Arm bei Charity unter.
âIch gehe auch bald, ich kann euch nach Hause fahrenâ, erklĂ€rt Rusty, wie er sich gleich darauf vorstellt. Charity und Andy kommunizieren kurz miteinander, ohne dass sich ihre Lippen bewegen, dann nehmen sie das Angebot an. Es passiert nicht oft, dass sie mit Menschen so nahen Kontakt haben, ohne dass sie in ihrer Eigenschaft als Schreckgespenst unterwegs sind. Heute jedoch ist ein besonderer Tag, an dem sie sich eine Auszeit gönnen. Die Selbstversuche haben sie doch ziemlich mitgenommen.
âAlso brechen wir auf!â, schlĂ€gt Rusty nach einem weiteren gemeinsamen Bier und einer angeregten Unterhaltung ĂŒber Boliden und die Formel 1 vor. âWo soll ich euch hinbringen?â
Die beiden Schreckgespenster schauen sich etwas verlegen an, darĂŒber haben sie sich noch keine Gedanken gemacht. Doch da nimmt Rusty ihnen mit einem Vorschlag die Entscheidung ab.
âZum Asylantenwohnheim? Sorry, aber ihr seht so aus und sprecht auch so. Und wer lĂ€uft heutzutage noch zu FuĂ?â
âGenauâ, sagen Charity und Andy wie aus einem Mund und grinsen sich an. Das Asylantenwohnheim ist so gut wie jede andere Adresse. Eigentlich hat Charity sich die schwarze Hautfarbe nur deshalb ausgesucht, weil sie besser zu dem Kleid passt, das sie sich ausgedacht hat. Nun scheint sie noch einem anderen Zweck zu dienen.
Mit Autos kennen sich die beiden ĂŒberhaupt nicht aus, deshalb wundern sie sich nicht, als sie in einen zitronengelben Lamborghini einsteigen.
Kaum sind die TĂŒren geschlossen, legt Rusty los. Die beiden GĂ€ste werden durchgeschĂŒttelt, als er nach der kurzen Fahrt rĂŒckwĂ€rts erst die Bremsen, dann den VorwĂ€rtsgang reinhaut. Die Beschleunigung ist so groĂ, dass die beiden Gespenster zum ersten Mal in ihrer Existenz eine Vorstellung davon bekommen, was Schwerkraft bedeutet. Mit quietschenden Reifen schieĂt der Wagen um die nĂ€chste Kurve und beschleunigt stetig weiter. UnabhĂ€ngig voneinander beschlieĂen Charity und Andy, sich in diesem Moment ganz ihren Manifestationen hinzugeben. Etwas, das sie noch nie getan haben, denn bisher waren immer sie es gewesen, die agieren wollten. Nicht jedoch an diesem ereignis- und lehrreichen Tag.
Je weiter sie fahren, desto unwohler fĂŒhlt sich Charity. Ihr wird schwindlig und alles dreht sich vor ihrem inneren Auge. Die schwungvolle Fahrweise Rustys und die engen Kurven, die er mit einer die FliehkrĂ€fte strapazierenden Geschwindigkeit durchfĂ€hrt, heben ihr den Magen.
âNur nicht kotzen!â, meint Rusty, der erkennt, wie es um Charity steht, âwir sind gleich da.â
Mit qualmenden Reifen bringt er den Lamborghini nach einer Vollbremsung zum Stehen und die Beifahrer taumeln aus dem Auto.
âDankeâ, murmelt Andy, bevor er sich am StraĂenrand erbricht. Kleine Steinchen spritzen ihm ins Gesicht, als er dem davonpreschenden gelben GefĂ€hrt hinterherschaut.
âWas war denn das?â, fragt Charity, die sich neben ihren Kumpan gestellt hat. âNoch niemals hatte eine meiner Manifestationen solche GefĂŒhle. In so ein GefĂ€hrt steige ich nie wieder ein.â
âSiehst du, was ich hier tue?â, fragt Andy.
âJa, kenne ich. Das haben schon einige gemacht, wenn ich besonders eklige Gestalten angenommen habe.â
âUnd hast du auch gesehen, was mit Rusty in wenigen Minuten geschehen wird?â
âJa, die Eiche wird ihm nicht aus dem Weg gehen. Es tut mir leid um ihn, er war nett zu uns. Doch wir können nichts fĂŒr ihn tun. Schade.â
Weiter kommen sie in ihrem GesprÀch nicht, denn plötzlich werden sie von einer Horde jugendlicher Krakeeler umringt.
âWas haben wir denn da? Eine Negerfotze und einen Judenbengel.â Der Schlaukopf trĂ€gt Glatze und Springerstiefel.
âWusste doch, dass wir hier welche finden. In der NĂ€he von diesen ScheiĂheimen treiben sich immer welche rum.â Auch dieser Ausbund der Weisheit ist haarlos und hat ein aufgedunsenes Gesicht.
âSchau dir nur die Hackfresse von diesem Itzig an!â Der Sprecher stöĂt Andy so fest vor die Brust, dass dieser umfĂ€llt. Gerade noch rechtzeitig hat Andy seine Konsistenz wieder erhöht, sonst wĂ€re der Schlag ins Leere gegangen.
âFrĂŒher hat man solche Typen aufgehĂ€ngt! Oder vergast, das war effektiver.â
âKlar, Mann, fĂŒr diesen Ausschuss der Evolution gibt es keine andere Lösung! Heil Hitler!â
âSchlag ihm die Nase breit! Dann sieht er fast wie ein Mensch aus.â
Andy liegt auf dem Boden und einige der Glatzköpfe treten auf ihn ein. Andere wenden sich Charity zu.
âNa TĂ€ubchen, hast du Lust auf einen harten MĂ€nnerschwanz? Nicht so ein abgeschnittenes WĂŒrstchen wie bei dem daâ, bedrĂ€ngte ein groĂer Dicker mit langem Ledermantel die Ă€ngstlich dreinschauende Charity.
âIch glaube, mir reichtâs jetztâ, signalisiert Charity ihrem Freund nonverbal.
âLass uns verschwindenâ, gibt der zurĂŒck.
Ăber die plötzlich verschwundenen Opfer rĂ€sonieren die Glatzen noch lange und schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Wie konnten sie die nur entkommen lassen. Zu blöd, wo sie doch gerade erst angefangen hatten!
***
âWir taugen gerade mal dazu, kleine Kinder zu erschreckenâ, eröffnet Andy das GesprĂ€ch. âIch war mental noch vollkommen in meiner Manifestation befangen, als die aufgetaucht sind.â
âJa, ich ebenfallsâ, antwortet Charity. âDiese GefĂŒhle werde ich nie mehr vergessen.â
âMeinst du, die Menschen empfinden so, wenn wir unsere Show abziehen? Dann gebe ich meinen Beruf auf und werde lieber eine gute Fee. Obwohl das stinklangweilig ist.â
âNein, mein Lieber, gegen dieses Gesindel sind wir harmlos. Homo homini lupus! Gelesen habe ich das schon mal, jetzt weiĂ ich endlich, was damit gemeint ist.â
âKomm, wir schlafen ein paar JĂ€hrchen. Von langer Dauer kann so was nicht sein, es ist doch zu dumm und widersinnig.â
âGut, schauen wir in fĂŒnfzig Jahren noch mal rein und geben diesen Kanaillen bis dahin die Chance auszusterben.â
âGute Nacht!â
âGute Nacht!â