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Hier spukt's | November 2015

Wilhelms Stimme
von Anne Zeisig

Wie die Wilden sind sie in Hildegards Haus eingefallen:
Skelette mit schneeweißen Knochen und Gelenken, Zombies mit blutunterlaufenen Augen und abstoßenden eiternden Narben in den Gesichtern, die Kleidung schmutzig und zerfetzt, ein Chirurg mit blutverspritztem Kittel, an seiner Säge angetrocknetes Fleisch.
“Huhhhaaaahhhh!”
“Buuuhhhhh!”
“Grrrrrr!”
Und eine Hexe mit lückenhaftem Gebiss und großer Warze auf der Nase, die ihre zwei kleinen Hexenschüler vor sich her scheuchte. Alle waren von Spinnfäden eingehüllt.
“Hexentanz und Mausespeck!
Krötenbein und Spinnendreck!
Hex! Hex! Hex!”
Sie hielt Hildegard ein Glas mit einer giftgrünen Flüssigkeit vor das Gesicht und ihr dreckiges Lachen ließ das Gebälk des alten Hauses erzittern.
“Hmmm! Hexengebräu!”, kreischte die Hexe und ihre roten Pupillen blitzten Hildegard an.
Die Kleinen umkreisten sie: “Gebräu der Hex, trink es auf Ex!”
Und eh sie sich versah, floss der Glasinhalt bitter über ihre Zunge und entfaltete in der Kehle eine unangenehme Schärfe.
Hildegard würgte und sank in ihren Fernsehsessel.
Der Chirurg hielt ihr die Säge an den Hals. “Süßes oder Saures!”
“Süüüüüßes!”, flöteten die beiden Hexenlehrlinge.
Die Hausherrin zeigte zur Schrankschublade, auf die sich die Horde mit Gebrüll stürzte.
Sie schmatzen und rülpsten, als sie die Schokolade in sich hineinstopften.
“Huiiiii!” Das Skelett legte den Totenkopf, welchen es bisher unter dem Arm getragen hatte, in Hildegards Schoß.
Diese warf ihn im hohen Bogen derart auf das Parkett, dass er zerschellte. Die Horde stob zur Haustür.
Hildegard stand auf und schloss die Haustür ab.
Sie schlurfte zum Schrank und richtete das Foto ihres verstorbenen Mannes. Es musste in einem bestimmten Winkel zum Sessel stehen, damit Hildegard ihn sehen und auch hören konnte. Den Rahmen hatte Wilhelm selber geschnitzt und ihr zum Siebzigsten geschenkt. Sie fuhr zärtlich mit den Händen über die erhabenen Ornamente, welche ihr Mann mit Blattgold veredelt hatte. Dann schloss sie die Schublade.
Der Spuk war vorbei. Das Grummeln in ihrem Magen blieb.
Sie sank in den Sessel und sah sich den zerschmetterten Schädel an.
“Das Trauerjahr ist noch nicht vorbei, da kommen sie mit ihren Spukereien und finden es lustig”, sagte sie zu dem Bild und dann zu sich selbst, “naja, sie erinnern sich daran, wie viel Spaß du stets an diesem Schabernack hattest.”
Wilhelm, ihr Mann, zwinkerte ihr mit einem Auge zu und nickte zustimmend.
“Schön, dass die Kinder und Enkel diesen Brauch fortführen.”
“Ja”, seufzte sie, “aber nun ist nichts mehr so, wie im letzten Jahr, als du noch gelebt hast.”
Sie lächelte bitter und griff nach der Likörflasche, trank zwei Gläschen hintereinander.
“Hilde, Liebste, du sollst nicht so viel trinken.”
“Nur für den Magen”, sagte sie entschuldigend und genehmigte sich zwei weitere Gläschen.
“Das mit dem Totenschädel fand ich aber wirklich geschmacklos.”
“Hilde, Hilde, lass ihnen doch den Spaß. Sie sind jung und bestimmt wollten sie dich aufheitern.”
Das schrille Läuten der Türklingel ließ sie aus dem Sessel hochfahren.
Die Kinder hatten doch einen Schlüssel.
“Komme!”, rief sie und ging mit schweren Schritten zur Tür, um aufzuschließen. “Habt ihr etwa den Schlüssel verloren?”, wollte sie nach dem Öffnen sagen, aber da waren die bösen Geister längst an ihr vorbei geeilt und machten sich im Wohnzimmer zu schaffen, einer lief die Holztreppe hinauf. Auch oben in den Schlafräumen hörte sie ein Rumoren.
Der Letzte schloss die Tür und drückte sie in die Küche. Er trug einen schwarzen Umhang und eine weiße Totenkopfmaske. “Pssssst”, zischte er sehr leise.
Es polterte im gesamten Haus.
“Dirk, bist du es? Deine Eltern und die kleinen Schwestern waren schon hier. Warum habt ihr euch nicht abgesprochen?”
Er zuckte mit den Schultern und blickte fahrig umher.
“Wehe, wenn deine Freunde mir Schuhpaste, Zahnpasta oder so ein Glibbergel irgendwo hin schmieren! Dann müsst ihr das morgen aber abwaschen.”
Er schüttelte den Kopf, sagte abermals “Pssst”, warf ihr einen Handkuss zu und verschwand.
Sie hörte, wie die Terrassentür geöffnet wurde, denn die quietschte seit einiger Zeit.
“Wollt ihr den nichts Süßes?”, rief sie noch, aber es war bereits ruhig.
Hildegard schüttele den Kopf und ging in den Flur. Sie sah hier keine Schmierereien an den Wänden, setzte sich auf das Telefonbänkchen und rief ihre Tochter an. Erzählte, dass Dirk mit Freunden bei ihr gewesen sei, sie hätten sich als Poltergeister ausgegeben.
“Aber Dirk ist mit seiner Freundin nach Berlin gefahren!”

* * *

Egal, was diese Diebesleute gestohlen und es durch den Garten abtransportiert haben, all das konnte Hildegard verschmerzen, denn Reichtümer besaß sie eh nicht.
Aber warum sie das Foto ihres Mannes mitgenommen hatten, blieb ihr ein Rätsel.
Nun stand ein anderes Bild, das Wilhelm zeigte, mit einem Rahmen aus dem Kaufhaus im Regal. Aber das war natürlich kein Ersatz für den handgeschnitzten. .
Das Schlimmste aber war, dass Wilhelm nun nicht mehr mit ihr redete.
Dabei sie hatte doch so große Angst, seine Stimme zu vergessen.

Version ZWEI

Letzte Aktualisierung: 10.11.2015 - 18.27 Uhr
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