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Hier spukt's | November 2015

Die letzte Kerze
von Klaus Freise

Scheriff James Brody stand mit seinem Streifenwagen am Randstreifen der Interstate 55. Das kleine Kaff Winona mit seinen knapp eintausendfünfhundert Einwohnern lag 5 Meilen östlich. Sein Revier. In einer Stunde war seine Schicht zu Ende. Es fuhren nur noch vereinzelt ein paar Trucks nach Memphis. Gerade als er sich seine letzte Marlboro anstecken wollte, knisterte das Funkgerät.
„Chief Brody? Sind Sie da? Ich habe hier noch was für Sie.“ Die Stimme von Rosie aus der Zentrale klang auch noch um Mittnacht frisch und fröhlich. Der einzige Lichtblick bei seiner Tour.
Brody seufzte: „Lass mich raten, Rosie. Die alte Mrs. Corbet sieht wieder Gespenster?“
„Äh, ja, genau Chief. Sie sagt, hinter einem Fenster im oberen Stock der Forbes Villa brennt wieder eine Kerze.“
Brody rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel. Er starrte in die Dunkelheit.
Mrs. Corbet wohnte gegenüber des Anwesens, sie hatte noch Kontakt zu den Enkeln des Zeitungsmoguls Roger Forbes gehabt. Das Gebäude stand seit den Siebzigern leer. Eigentlich.
Irgendwann hatte er die Geschichte über die Forbes Villa verdrängt.
„Chief, sind Sie noch da?“
„Ja, ich bin noch da, Rosie. Wie oft hat sie jetzt angerufen?“
„Äh, in dieser Woche? Fünfmal, immer so um Mitternacht, denke ich.“
„Meine Güte, wie alt muss die jetzt sein? Über neunzig?“
„Tja, Chief, ich denke, die hat schon drei Weltkriege überlebt. Siebenundneunzig ist sie jetzt.“
„Rosie?“
„Ja, Chief.“
„Zwei.“
„Was zwei, Chief?“
„Es waren zwei Weltkriege, Rosie.“
„Vietnam war kein Weltkrieg?“
„Nein, Vietnam war kein Weltkrieg.“
„Oh, na wie auch immer, fahren Sie jetzt vorbei?“
„Kann Tobey nicht fahren? Ich bin noch am Highway.“
„Deputy Tobey ist auf der Farm vom alten Topper Boyd. Lissy hat sich entschieden heute Nacht zu kalben. Außerdem hat Mrs.Corbet ausdrücklich nach Ihnen verlangt. Sie ist wohl sehr durcheinander, seit die Abrisspläne bekannt sind und Sie wissen ja wie sehr die alte Dame an dem Gemäuer hängt.“
Brody ließ die Sprechtaste los und knallte die flache Hand aufs Armaturenbrett. Scheiße.
„Falls Sie nochmal anruft, sag ihr ich bin unterwegs, und Sie soll keinen Kaffee kochen oder irgendwelche Plätzchen backen.“
„Sie ist halt einsam, Chief“
Brody startete den Wagen und murmelte:
„Sind wir das nicht alle.“

Er verzichtete darauf, das Blaulicht einzuschalten. Kurz vor der Ausfahrt nach Winona kam ihm ein Lastwagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen. Fluchend blendete er auch auf. Aber der Truck, ein Tanklastwagen, reagierte nicht. Brody war geblendet und bremste scharf. Eine Sekunde später fand er sich auf dem Seitenstreifen wieder. Zitternd rieb er sich über das Gesicht. In seinem Kopf breitete sich ein ungewohnter Summton aus.
Verdammt, dachte er. Was war das denn. Er sah in den Rückspiegel, keine Rücklichter.
Von dem Truck fehlte jede Spur. Der Motor seines Streifenwagens war abgestorben. Kein Licht, kein Funkgerät. Es war völlig still, bis auf den Ton in seinem Kopf.
Nach einer Weile öffnete er seine Tür und stieg mit wackeligen Beinen aus. Mit der Stablampe ging er um seinen Wagen. Kein Kratzer, keine Beule. Nichts.
Ich bin übermüdet und allmählich zu alt für diese Scheiße. Erschöpf ließ er sich auf den Sitz fallen, startete und fuhr langsam davon. Dabei klopfte er sich wiederholt gegen das Ohr, aber der Summton blieb.

Es war der Moment, als er hart auf die Bremse trat und der Kaffeebecher aus dem Cupholder gerissen wurde. Der Moment, als er vor dem Anwesen ankam. Der Moment, in dem ihm klar wurde, dass er heute Nacht die Forbes Villa betreten würde.
Er sah die brennende Kerze.
Ganz deutlich, hinter einem Fenster, unter dem Giebel.
Brody ließ sich im Sitz zurücksinken. Also hatte die alte Mrs. Corbet doch recht.
Er schaltete den Suchscheinwerfer an und schwenkte ihn ruckartig auf ihr Haus.
Nichts. Keine wackelnde Gardine. Kein Licht, weder im Wohnzimmer noch oben im Schlafzimmer. Nichts rührte sich. Dunkelheit.
Langsam drehte er den Lichtkegel auf die Forbes Villa. Durch das schmiedeeiserne Tor konnte er das graue Gebäude sehen. Die Farbe abgeblättert, die unteren Fenster mit verwitterten Brettern vernagelt. Dann kniff er die Augen zusammen. Die Hollywoodschaukel auf der Veranda schaukelte leicht im Wind. Er sog tief die Luft ein und sah alles wieder vor sich:

Halloween 1970. Die Mutprobe. Wer hat keine Angst in der alten Villa? Vier Kinder.
Die kleine Becky Thomas mit ihren blonden Zöpfen. Sie stürzte die morsche Kellertreppe hinab.
Sie rannten in Panik aus der Villa, allen voran: James Brody.
Nur eine kam nicht wieder. Becky Thomas, zwölf Jahre alt. Und James wurde Scheriff, wie sein Vater.

Mit einem kräftigen Ruck stieß er die Fahrertür auf. Der Ton in seinem Kopf wurde stärker, bekam er jetzt einen Tinitus? Den Scheinwerfer ließ er auf das Haus gerichtet, zog seine Stablampe und ging zum Tor. Erst nachdem er sich mit der Schulter gegen das verrostete Metall stemmte, gab das Tor nach. Es quietschte, dass er dachte, die Seele würde ihm aus dem Leib gepresst. Keuchend ging er durch den verwilderten Vorgarten. Der Plattenweg war längst unter kniehohem Gras verschwunden. Der Wind fuhr vor ihm durch die Halme wie die Flosse eines Hais durch die Wellen.
Er leuchtete zur Hollywoodschaukel. Sie bewegte sich nicht mehr. Auf ihr lag ein zerschlissenes Sitzkissen. In der Mitte war eine leichte Delle, so als habe dort jemand …
Unsinn, dachte er. Jetzt konzentrier dich, James. Er streckte die flache Hand aus und legte sie neben die eingedrückte Stelle.
Kalt.
Dann verharrte seine Hand über der Delle. Er senkte die Hand.
Warm.
Hektisch richtete er sich auf und atmete aus. So ein Unfug, du siehst nur was du sehen willst. Reiß dich zusammen.
Wütend über sich selbst trat er gegen die Schaukel. Sie rührte sich keinen Millimeter. Verdutzt beleuchtete er die Drehgelenke. Sie waren von einer dicken Rostschicht überzogen.
Die konnten sich nicht mehr drehen, schon seit Jahren nicht mehr.
„Aber sie hat sich doch bewegt, verdammt.“ Erschrocken über seine eigene Stimme leuchtete er die Umgebung ab.
Keine Fußabdrücke, weder auf der Veranda, noch im Gras. Außer seinen eigenen.
Alles okay, beruhige dich wieder.
Dann trat er vor die große Doppeltür. Sie hatte keine Farbe mehr und ein Flügel hing nur noch an einem Scharnier.
Trotz großer Vorsicht konnte er beim Öffnen nicht verhindern, dass der Türflügel krachend zu Boden stürzte.
Er bekam feuchte Hände, als er ins Innere leuchtete. Der Summton wurde lauter. Im Lichtkegel seiner Lampe sah er Dreck, Staub, ein Vogelnest und Kot von Nagetieren. Langsam ging er weiter. Die große Eingangshalle war mit losen Mosaikfließen übersät. Putz und Stuckreste lagen in den Ecken. Fast alle Türen waren aus den Angeln gerissen und lagen am Boden. Die breite geschwungene Treppe führte nach oben, deren brauner Läufer sich fast aufgelöst hatte.
Unter der Treppe gähnte ein rechteckiges Loch. Die Kellertreppe oder was davon übrig war.
Brody atmete tief durch. Auf seiner Stirn und auf der Oberlippe hatten sich Schweißperlen gebildet. Über ihm knarrte ein Balken. Er blieb stehen und lauschte.
War da oben jemand? Wer? Mrs. Corbet?
Verdammt nochmal, er war immerhin der Scheriff. Er straffte sich, leuchtete zur Treppe nach oben.
„Hallo, ist da jemand. Ich bin Scheriff Brody.“
Der Wind wehte durch die Halle, und ihm war, als hörte er in seinem Kopf ein leises Säuseln. Nur der Hauch einer Stimme:
„Ich … weiß …“
Über ihm knarrte wieder eine Diele. Auf dem oberen Treppenabsatz spiegelte sich ein flackernder Lichtschein an den kahlen Wänden.
Er rief erneut:
„Hallo, wer immer da oben ist, hier ist der Sheriff.“ Dabei umfasste er mit einer Hand den Griff seines Revolvers.
Oben wurde der Lichtschein größer und eine Hand, die eine Kerze hielt, wurde sichtbar. Eine alte Frau im Morgenmantel blieb an der Treppe stehen.
Brody seufzte und lies die Waffe los.
„Meine Güte, Mrs. Corbet, was tun Sie denn hier? Sie haben mich zu Tode erschreckt.“
Die Alte stellte die Kerze auf das Geländer und hob flehend die Hände.
„Oh, Scheriff Brody, es tut mir so leid, Sie sollten nicht hier sein. Es tut mir so schrecklich leid.“
Brody stemmte die Hände in die Hüften und starrte zu ihr hinauf.
„Ich verstehe nicht, Sie haben doch angerufen … was ist hier eigentlich los?“
„Oh, es ist so schrecklich, sie hat mich dazu gezwungen. Sie sollten nicht hier sein. Gehen Sie, schnell.“
„Was … wie? Aber wer hat Sie gezwungen? Wozu gezwungen?“
Gerade als Mrs. Corbet antworten wollte, schlug sie sich die Hand vor den Mund und starrte entsetzt an Brody vorbei auf eine Stelle hinter ihm.
Er wirbelte erschreckt herum. Beinahe wäre ihm die Taschenlampe zu Boden gefallen.
Der zitternde Lichtkegel erfasste ein Mädchen mit blonden Zöpfen. In Latzhose und Snoopy T-Shirt. Ungefähr zwölf Jahre alt.
„Ich war das. Ich habe dich gerufen, James.“ Ihre Stimme klang glockenhell und klar.
Brody wurde schlecht, seine Knie schienen aus Gummi. Mühsam räusperte er sich.
„Becky? Bist du das? Mein Gott … wie …?
„Hallo James. Endlich bist du gekommen. Ich hatte schon Sorge, dir könnte etwas zugestoßen sein, dass du nicht mehr kommen würdest.“ Sie drehte mit den Fingern verspielt in ihren Zöpfen.
„Aber ich habe dich beschützt, weißt du, James. Du erinnerst dich? Der LKW auf dem Highway? Oder als der alte Mr. Burke in der Kneipe eine Flasche nach dir geworfen hat? Aber jetzt bist du da. Endlich.“ Inzwischen war Mrs. Corbet, der Ohnmacht nahe, an der Wand zusammengesunken und saß schluchzend auf der Treppe.
Becky bewegte sich auf Brody zu und streckte die Hände aus.
„Komm James, lass uns Verstecken spielen, du weißt doch noch, wie früher? Wie war das Wort doch gleich, mit dem du mich erschreckt hast, James? Als du im Dunkeln hinter mir standest?“ Sie hatte den zurückweichenden Scheriff beinahe berührt.
Brody schrie auf und machte noch einen Schritt nach hinten.
Seinen letzten Schritt. Er stürzte krachend in das Kellerloch.
Becky Thomas sah nach unten und legte den Kopf schief.
„Buh, das Wort war Buh, James.“

Letzte Aktualisierung: 21.11.2015 - 09.55 Uhr
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