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Hier spukt's | November 2015

Frau Haase und der Igel
von Sarina Stützer

Es war wieder mal spät geworden heute. Andrea hatte die Zeichnung für das Projekt unbedingt noch fertigstellen wollen und deshalb das Büro als Letzte verlassen. Genau betrachtet war sie sowieso die Einzige gewesen, die heute am Samstag im Architekturbüro Staller gewesen war. Die Viertelstunde, die ihr Chef dort zugebracht hatte, um seine Golftasche abzustellen, zählte nicht, fand sie.
Missmutig sah sie sich um, als sie auf die Straße trat. Seit der Zeitumstellung wurde es eklig früh dunkel, und schon um sieben fühlte es sich an wie tiefste Nacht. Sie stapfte los und bereute es kurz, heute Morgen das Auto zugunsten des halbstündigen Fußmarsches stehen gelassen zu haben. Hoffentlich hatte Jochen wenigstens was Schönes gekocht. Doch dann beschloss sie, den Gang zu genießen. Schließlich hatte sie Zeit, das Wetter war mild und trocken, es war ein regelrechter Bilderbuchherbst dieses Jahr.
Gemütlich schlenderte sie an der Friedhofsmauer entlang. Ein Meer von Grablichtern leuchtete, denn morgen war Allerheiligen. Ihr Opa hatte ihr erzählt, dies sei die Zeit der Seelenwanderung, und damit die Seelen nach dem Wandern wieder ins Grab zurückfanden, würden die Grablichter aufgestellt. Andrea war nicht gläubig, aber diese Vorstellung fand sie irgendwie romantisch. Jetzt musste sie allerdings grinsen. Denn wie jedes Jahr um diese Jahreszeit erinnerte sie sich daran, wie sie als Jugendliche mal darüber sinniert hatte, wie unheimlich es sein müsse, vor Allerheiligen im Dunkeln an einem Friedhof vorbeizuradeln. Um dann festzustellen, dass sie genau das gerade tat. Spontan hatte sie aus dem Stand den Geschwindigkeitsrekord für den Heimweg gebrochen.
Das war jetzt über fünfunddreißig Jahre her, und inzwischen fand Andrea es nicht nur nicht mehr unheimlich, am Friedhof vorbeizugehen, sie nahm sogar regelmäßig die Abkürzung direkt über den Totenacker, denn die ersparte ihr mindestens zehn Minuten Fußweg. Sie öffnete das laut quietschende Tor und ging hindurch. Sie hoffte, dass keine Jugendlichen dort waren, um „lustige“ Streiche zu verüben, denn schließlich war heute auch Halloween. Das wurde ja immer mehr, gerade von den Jüngeren, gefeiert, und manche nutzten die Gelegenheit, unter dem Deckmantel von „Süßes oder Saures“ einfach ihren Frust und ihre Zerstörungswut auszuleben. Andrea seufzte. Lieber nicht daran denken. Sie wollte jetzt nicht über den Zustand der Welt grübeln, der ihrer Meinung nach sehr zu wünschen übrig ließ.

Plötzlich fuhr sie zusammen. Vom Grab neben ihr ertönte lautes Schnaufen. Andrea blieb stehen und lauschte über dem Klopfen ihres Herzens auf die Geräusche aus der Nacht. Noch ein lauter Schnaufer, dann Geraschel und das Brummen einer tiefen Stimme. Empört fragte Andrea sich, ob hier Jugendliche den besonderen Kitzel fürs Liebesspiel suchten. Oder ihretwegen auch Ältere, Grufties oder so. Langsam ging sie weiter. Jetzt schmatzte es vernehmlich. Die Geräusche bewegten sich parallel zu ihrem Weg Richtung Ausgang. Schnaufen, Brummeln, Schmatzen, Rascheln, Grunzen – die Bandbreite war beeindruckend.
Nun wurde es Andrea doch unheimlich. Nicht dass sie befürchtete, von einem Zombie angefallen zu werden. Inzwischen war ihr klar, dass es vermutlich ein Tier war, das da durchs Laub raschelte. Aber der Lautstärke nach zu urteilen, musste es sich um ein großes Tier handeln. Andrea dachte an die Berichte über Wildschweine, die immer häufiger auch in die Städte kamen. Die Vorstellung, einem wild gewordenen Keiler gegenüberzustehen, behagte ihr so gar nicht.
Mit klopfendem Herzen ging sie auf das rückwärtige Friedhofstor zu und hoffte, im Schein der Straßenlaterne erkennen zu können, was sie da begleitete. Und sie hoffentlich nicht anfiel. Das Rascheln, Schnaufen und Knistern kam immer näher.
Und dann musste Andrea laut lachen. Ein Igel! Wie konnten dermaßen kleine Tiere so dermaßen viel Krach machen! Erleichtert blieb sie stehen und sah dem Tierchen zu, wie es, ihre Gegenwart völlig ignorierend, seine Nase an der Friedhofsmauer entlang durchs Laub schob.

„Die sind wirklich putzig, nicht wahr?“
Andrea schrie auf und machte einen Satz.
„Frau Haase! Mensch, haben Sie mich erschreckt!“ Andrea atmete mehrmals tief ein und aus.
„Das tut mir leid, Frau Schneider, das wollte ich nicht.“ Frau Haase lächelte entschuldigend. „Ich war so von dem kleinen Igel fasziniert, dass ich gar nicht auf die Idee kam, Sie könnten erschrecken. Tut mir wirklich leid.“
„Schon gut“, sagte Andrea und lächelte zurück. „Bei dem Krach, den der Igel gemacht hat, habe ich sie nur nicht kommen hören.“

Gemeinsam gingen sie weiter. Frau Haase war Andreas Doppelhaus-Nachbarin, ziemlich alt und ziemlich verschroben, aber Andrea mochte sie. Allerdings war Frau Haase ihr manches Mal einen Ticken zu gesprächig. Andrea suchte fieberhaft nach einer Ausrede, die es ihr erlauben würde, ein eventuelles Gespräch unter Wahrung der Höflichkeit abzukürzen. Jochen konnte nicht schon wieder todkrank auf sie warten, dafür hatte schon sein Schnupfen von letzter Woche herhalten müssen. Frau Haase schien allerdings in ihre eigenen Gedanken vertieft und ging schweigend neben ihr her. Andrea sah zur Seite.

„Alles in Ordnung, Frau Haase?“ Sie schalt sich selbst für ihre Dämlichkeit, denn wenn jetzt der Redeschwall losbrach, war sie selbst schuld. Aber lieber wollte sie ein anständiger Mensch sein, als zehn Minuten Zeit zu sparen.
Frau Haase seufzte. „Doch, ich denke schon. Lieb, dass Sie fragen. Ich wollte Ihnen schon lange einmal sagen, dass ich es sehr zu schätzen weiß, wenn Sie sich Zeit für eine alte Frau wie mich nehmen.“
Andrea sah sie überrascht an. So hatte Frau Haase noch nie mit ihr gesprochen. Meist erzählte sie von ihrem Tag, von den Telefonaten mit ihrem Sohn Thorsten oder von ihrem verstorbenen Mann.

„Denken sie manchmal über den Tod nach, Frau Schneider?“
Andrea nickte. „Besonders zu dieser Jahreszeit frage ich mich öfter, wie das wohl ist. Ob die Kirche doch recht hat oder am Ende vielleicht die Buddhisten mit ihrer Wiedergeburt.“ Andrea hörte sich erstaunt selbst zu. Dass sie darüber mal mit ihrer Nachbarin reden würde, hätte sie nicht gedacht.

„Ich habe immer geglaubt, es wäre mir wichtig, nach meinem Tod verbrannt zu werden“, sagte Frau Haase nachdenklich. „Aber jetzt stelle ich fest, dass es mir wichtiger ist, dass diejenigen, die ich zurücklasse, es so machen, wie es für sie am besten ist. Wenn sie ein Grab wollen, an dem sie trauern können, sollen sie ein Grab haben. Wenn sie lieber eine Urne bestatten möchte, dann sollen sie das so machen. Und wenn sie eine ganz andere Vorstellung haben ... mir soll es recht sein.“
„Ich finde ja die Idee mit den Friedwäldern sehr schön“, meinte Andrea. „Aber ich glaube, letztlich ist es mir dann auch egal, wenn ich tot bin.“
Frau Haase nickte. „Eben. Es sind doch die Lebenden, die die Dinge regeln müssen. Wenn man erst mal tot ist, hat man wohl andere Sorgen.“
Andrea lächelte. „Ich für meinen Teil hoffe ja, dass ich dann gar keine Sorgen mehr habe. War schön, Sie getroffen zu haben. Wenn Sie morgen irgendwie Hilfe brauchen am Grab Ihres Mannes, sagen Sie einfach Bescheid.“
„Danke, das ist nett von Ihnen.“ Frau Haase wies auf ein erleuchtetes Fenster in ihrer Doppelhaushälfte. „Mir scheint aber, mein Sohn Thorsten ist schon da, der kann sich um alles kümmern. Eine Bitte habe ich trotzdem noch an Sie.“ Frau Haase drückte Andrea einen kleinen Zinnsoldaten in die Hand. „Würden Sie den bitte meinem Sohn geben? Damit hat er immer so gern gespielt. Gute Nacht, Frau Schneider!“
Andrea sah verwirrt auf die Figur in ihrer Hand. Frau Haase ging ohne auf Antwort zu warten zu ihrem Haus. Verschroben, dachte Andrea, aber immerhin war es heute erstaunlich schnell gegangen.
„Gute Nacht, Frau Haase!“, rief sie ihr nach und steckte den Zinnsoldaten in die Jackentasche.

„Jochen?“ Sie schnupperte erfreut Richtung Küche. „Hast du tatsächlich gekocht?“
Andrea ließ ihre Tasche fallen. Jochen kam ihr entgegen und schloss sie in die Arme.
„Hallo Schatz!“ Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Hast du schon gehört?“
Andrea bog den Kopf zurück. „Was gehört?“
„Die alte Frau Haase ist gestorben.“
„Wie jetzt ... aber ... Frau Haase? Unsere Frau Haase? Wann?“ Andrea versuchte, Jochens Worten einen Sinn zu geben. War Frau Haase auf dem Weg in ihr Haus verunglückt? Wieso hatte sie nichts davon bemerkt? Und woher wusste Jochen so schnell davon? War Frau Haase hinter der Haustür tot umgefallen, und jemand hatte in der Zeit, in der sie in der Diele stand, mit Jochen telefoniert? Keine Erklärung ergab einen Sinn, den ihr logischer Verstand akzeptierte.
Sie folge Jochen in die Küche, der ihr ein Glas Rotwein in die Hand drückte.
„Thorsten ist heute Nachmittag gekommen, weil er mit ihr morgen zum Grab seines Vaters gehen wollte. Da hat er sie gefunden.“
„Heute Nachmittag ...“ Andreas Knie wollten nachgeben. Sie setzte sich an den Küchentisch und nahm einen großen Schluck Wein. Als sie das Glas auf den Tisch stellte, merkte sie, dass ihre Hand zitterte.
„Sie muss wohl heute Morgen nicht mehr aufgewacht sein. Jedenfalls soll sie friedlich im Bett gelegen haben.“
„Heute Morgen ...“ Andrea hörte sich selbst zu, wie sie Tageszeiten nachplapperte. Ihr Verstand hatte sich abgeschaltet.
„Sie muss es wohl gespürt haben. Thorsten sagt, sie hatte einen seiner alten Zinnsoldaten in der Hand.“

Andrea machte den Mund auf und wieder zu. Jochen rührte kurz in einem Topf und setzt sich dann zu ihr. „Ich war vorhin drüben. Thorsten ist natürlich sehr traurig. Und was das Ganze für ihn noch schlimmer macht, ist, dass sie ihm immer wieder gesagt hat, dass sie unbedingt verbrannt werden will.“ Jochen nahm ihr Glas und trank einen Schluck. „Thorsten würde sie viel lieber bei ihrem Mann beerdigen lassen. Aber er wird ihren Willen wohl respektieren. Schatz? Du bist ja so blass?“
Andrea schluckte trocken. „Ich glaube ...“, sie räusperte sich. Dann stand sie langsam auf und griff in ihre Jackentasche. „Ich glaube, ich muss mit Thorsten reden.“

Letzte Aktualisierung: 11.11.2015 - 09.09 Uhr
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