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Hier spukt's | November 2015

Finger Food
von AnnaMaria Nissen

„Noch ein Würstchenfinger gefällig, Tom? Oder vielleicht ein Auge?“
Grinsend hielt mir mein Kollege, vom Fahrersitz aus, eine Schale unter die Nase. Ein paar täuschend echt aussehende Fruchtgummi-Augen kullerten darin herum.
„Das haben die Kinder gegessen?“, fragte ich ihn angeekelt.
„Oh ja, die stehen da total drauf.“ Bob nahm sich eines der Augen und biss kräftig hinein.
Es drehte mir fast den Magen um, als er den Augapfel mit seinen Zähnen zerteilte.
„Das ist ja widerlich!“ Ich wandte mich ab. Durch die Windschutzscheibe unseres Zivilfahrzeuges, sah ich, ein gutes Stück entfernt, das graue Gebäude des Nachtclubs. CURE leuchteten mir die großen Buchstaben aus der Dunkelheit über den Parkplatz entgegen. Eine Gruppe kostümierter Menschen begab sich gerade Richtung Eingangstür.
„Als was waren deine Kinder verkleidet, Bob?“
„Hanna ging als Kürbis, Louis als Marsmensch. Die zwei sahen echt klasse aus, du hättest sie sehen sollen. Und einen Spaß hatten sie. Melanie hatte sich für die Party aber auch mächtig ins Zeug gelegt. Wie man sieht.“ Er wies auf die Partyreste. In einer der Schalen steckten einige Würstchenfinger zentimeterhoch in Ketchup. Am oberen Ende war jede Wurst mit einer Mandel gespickt, die einen Fingernagel darstellen sollte. Im schwachen Licht des Wageninneren sahen sie auf den ersten Blick wahrhaftig wie richtige Finger aus. Wie konnte man so etwas nur appetitlich finden, fragte ich mich.
„Ich kann mich mit Halloween einfach nicht anfreunden.“
„Glaub mir Tom, wir machen das auch nur für die Kinder. Diese Witzfiguren, die sich gerade da drin austoben,“ Bob nickte Richtung Nachtclub, „sind wie ein rotes Tuch für mich. Das ist das dritte Jahr, in dem wir diese Sonderschicht wegen der Krawalle aufgebrummt bekommen. Wusstest du, dass dieses Jahr auch zwei Kollegen oben an der Nordkreuzung stehen?“, wollte er wissen. Ich kam nicht dazu, ihm zu antworten, da er schon fleißig weiter zeterte.
„Die Beschwerden der Anwohner werden jedes Jahr mehr, ich sag dir…“
„Einheit 12, es gibt Probleme im CURE.“, unterbrach in der Funkspruch. „Der Besitzer meldet einen durchgedrehten Zombie. Schlägerei mit schwerer Körperverletzung. Es wurde sogar ein abgebissener Finger erwähnt. Ihr geht wohl besser sofort da rein. Der Täter war gerade dabei sich einen Weg nach draußen zu kämpfen.“

„Abgebissener Finger?“ Ich starrte meinen Kollegen fassungslos an. „Was zum…“
„Den Spinner schnappen wir uns!“ Die Essensreste landeten unsanft auf dem Armaturenbrett, bevor Bob eilig aus dem Auto stieg. Ich tat es ihm gleich und rannte im nächsten Moment auch schon hinter ihm her.
„Da vorne ist er!“, hörte ich ihn rufen.
Von Weitem sah ich eine Gestalt, die soeben vom CURE aus nach links, Richtung Park flüchtete. Verdammt, wenn er da drin ist, haben wir kaum eine Chance, schoss es mir durch den Kopf. Bob hatte wohl den gleichen Gedanken, denn er legte unverzüglich an Tempo zu. Der Kostümierte hatte uns gehört. Mit einem kurzen Blick über die Schulter entdeckte er seine Verfolger. Nun wurde auch er scheinbar noch schneller. Betrunken konnte der nicht sein, davon war ich überzeugt, dafür war er viel zu flink auf den Beinen. Das weiße Hemd des Zombies flatterte immer näher Richtung Park. Sichtlich blutverschmiert hing ihm der helle Stofffetzen über der schwarzen Hose. Inständig hoffte ich, dass es sich bei den roten Flecken lediglich um so etwas Harmloses wie Ketchup handelte.
„Los, den kriegen wir!“, schrie Bob. Unser Zombie steuerte bereits auf die ersten Bäume der Parkanlage zu. Mit einem Wahnsinnstempo hetzte er in die dunkle Behausung der großen Riesen.

Das Tempo gezügelt, kämpften auch wir uns schließlich durch das Dickicht der Bäume, in der Hoffnung, in irgendeiner Richtung unseren Ausreißer zu entdecken. Das einzige Licht, das wir nun noch hatten, kam vom Himmel. Vollmond. Natürlich, was sonst, dachte ich bei mir. Wenn in diesem Moment die Kirchturmuhr aus der Ferne Mitternacht geschlagen hätte, hätte es mich auch nicht sonderlich gewundert. Immerhin, so konnte man wenigstens schattenhaft etwas erkennen. Vor mir machte Bob den Weg von herabhängenden Zweigen frei, doch mehr nahm ich selbst mit zusammengekniffenen Augen nicht wahr. Auf dem Boden raschelte Herbstlaub. Ein Blick hinab zeigte mir die Blätter nur als schwarze Wellen, die über meine Füße schwappten.
„Warte kurz!“ Ich stoppte.
„Was ist?“, drehte sich Bob flüsternd um.
Ich bückte mich und kam mit einem großen, schweren Stück Ast wieder zum Vorschein.
„Ich hab keine Waffe dabei.“, wisperte ich zurück. „Der Typ hat vielleicht gerade jemandem den Finger abgebissen, da geh ich lieber auf Nummer Sicher!“
„Keine Sorge. Ich hab die Kleine mit!“ Bob klopfte sich bekräftigend auf das Holster. „Los weiter. Da vorne kommt der Rundweg. Sicher ist er da lang.“
Wir hechteten vorwärts durch die nächtliche Dunkelheit.
„Wo ist der Kerl?“, hörte ich Bob murmeln.
Der Zombie war wie vom Erdboden verschluckt. Keine Spur von ihm zu sehen.

Plötzlich blieb mein Kollege stehen.
„Hast du das gehört, Tom?“, fragte er. Es war totenstill um uns herum.
Doch auf einmal knackte es. Ganz leise, aber ich hatte es genau gehört. Wo kam das Geräusch her? Ich drehte mich nervös zu allen Seiten. Es war nichts Auffälliges zu sehen.
„Okay. Bob, ich würde…“ Da! Ich hatte es wieder gehört. Meine Hand umklammerte den Stock noch fester. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut. Das Knacken erinnerte mich an brechende Zweige.
„Was?“, fuhr Bob mich an.
In diesem Moment fiel bei mir der Groschen. Ich blickte nach oben und sah ihn. Das zähnefletschende Beulengesicht hatte sich im Baum über uns positioniert, bereit zum Absprung. Und auf einmal ging alles ganz schnell. Der Zombie stieß sich ab und sprang mit einem Satz nach unten. Sein weißer Hemdfetzen flog ganz knapp an meinem Gesicht vorbei. Mit einem dumpfen Schlag landete er direkt auf meinem Partner. Bob’s Schrei hallte durch den Park. Er lag reglos auf der Erde, auf ihm sein Angreifer, der sich jedoch sogleich wieder zur Seite herab rollte. Ich holte mit dem Ast aus, bereit ihm eines überzuziehen. Doch blitzschnell stand er wieder auf den Beinen. Mit der Vermutung, dass er sofort die Flucht ergreifen würde, lag ich falsch. Stattdessen baute er sich gross vor mir auf und knurrte mich böse an.

Sein Anblick liess mich erschaudern. Im hellen Mondschein sah ich ein bleiches Gesicht, mit schwarz umrandeten Augen, die blutunterlaufen aus ihren Höhlen glotzten. Mund und Wangen waren sowohl von kleinen Beulen umgeben, als auch mit dunkler, glänzender Farbe verschmiert.
Wow! Was für ein phantastisch gutes Make up, dachte ich erstaunt.
Sein Knurren gab spitze Zähne preis, die mich gewaltig nervös machten, denn diese Zacken sahen unwahrscheinlich echt aus. Zudem schien ihm etwas von der schimmernden Farbe das Kinn hinab zu laufen. War das Blut? Er sah aus wie eine Mischung aus Vampir und Zombie. Ein Vombie!

Bedrohlich stand er vor mir. Vom Boden her hörte ich Bob leise ächzen.
„Komm nur her, Vombie!“ Den Knüppel noch immer bereit zum Angriff erhoben, machte ich mir selbst mit lauter Stimme Mut. „Na los, trau dich. Ich werde dir eine Lektion erteilen, die sich gewaschen hat! Danach wirst du dir wünschen, du wärst nie auferstanden!“
Als er auf mich zusprang, ließ ich den dicken Ast herunter sausen. Ich traf ihn hart am Oberarm, was ihn nicht sonderlich beeindruckte, geschweige denn davon abhielt, mich weiter anzugreifen. Mit einem erneuten Satz stürzte er auf mich. Ich taumelte nach hinten und kämpfte damit, nicht umzufallen, wobei ich seinen kalten Atem im Gesicht spürte. Ein Gestank, der mich an Fäulnis erinnerte, stieg mir in die Nase. Mir wurde übel. Langsam fragte ich mich, ob es sich hierbei wirklich nur um einen Kostümierten handelte. Mit unglaublicher Kraft drückte er mich rückwärts gegen einen Baum. Der harte Stoß gegen den Stamm fuhr mir in die Knochen. Ich stöhnte auf. Mit beiden Händen versuchte er meine Arme nach hinten weg zu drücken. Ich war gefangen, zwischen Vombie und Baumstamm. Der Stock, den meine Finger weiter krampfhaft umklammerten, konnte mir nun auch nicht helfen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, mich zu befreien. Die rettende Lösung, mein Knie, versetzte ihm einem heftigen Tritt zwischen die Beine. Wer oder was auch immer er war, untot oder nicht, bei Vombie saß zumindest alles am rechten Fleck. Jaulend, mit der Hand im Schritt, stolperte er zurück. Das war meine Chance. Mit der Schlagwaffe prügelte ich auf ihn ein. Er brüllte, als ich ihn auf die Schulter traf. Den Kopf gesenkt, fiel er auf die Knie. Erneut holte ich aus und traf ihn im Nacken. Diesmal schrie er nicht, sondern fiel wie ein nasser Sack kopfüber auf die Erde, wo er zur Seite plumpste und liegenblieb, wie ein zusammengekauertes Kind. Mein Puls raste wild.

„Bob!“ Ich eilte zu meinem Kollegen und beugte mich über ihn. „Bob, alles okay?“
Stöhnendes Gemurmel kam zur Antwort. Immerhin.
Neben mir hörte ich es leise Rascheln. Ich blickte zu Vombie. Er lag im Licht des Mondscheins und rührte sich nicht. Oder etwa doch?
Plötzlich, ich fragte mich gerade, wo eigentlich mein Stock abgeblieben war, riss Vombie die Augen auf.

„Und dann?“
„Ja, was dann?“, fragten mich ein kleiner Teufel und sein Freund Fledermaus aufgeregt, mit weit aufgerissenen Augen. Die Jungen in Halloweenkostümen sahen gespannt zu mir auf.
„Das,“ begann ich, „ist das letzte, woran ich mich erinnern kann. Danach wurde alles um mich herum schwarz. Als ich wieder aufwachte,“ sagte ich leise und machte eine dramatische Pause, bevor ich meine rechte Hand hochriss, „waren die hier weg!“
Die beiden starrten entsetzt auf die drei übrig gebliebenen Finger meiner Hand. Als ich mit den zwei Stumpfen wackelte, brach lautes Geschrei aus.

Ich kicherte vergnügt, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Draussen auf der Straße konnte man die aufgeregten Kinderstimmen noch einige Häuser weit hören.
„Ach ja,“ seufzte ich grinsend, „ich liebe Halloween.“

Letzte Aktualisierung: 22.11.2015 - 22.12 Uhr
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