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Allein | Dezember 2015
Endstation
von Reiner Pörschke

Seine Tochter saß ihm gegenüber, und dennoch zählte er die Minuten, bis er wieder allein sein konnte. Ihr prüfender Blick war auf ihn gerichtet, während er die Speisekarte betrachtete. Ihm wurde unbehaglich, zumal er nicht hungrig war und am liebsten gleich zu den Getränken weitergeblättert hätte. Ein Whisky wäre gut, aber das würde ihr nicht gefallen, würde unschöne Debatten nach sich ziehen.
„Nimmst du wieder die Ente, Paps? Die magst du doch so gerne.“
Er schaute sie an. Sie war wirklich eine schöne Frau. Dunkle, fast schwarze Haare umrahmten ihr blasses, madonnenhaftes Gesicht. Ihre tadellose Figur kam in dem graumelierten Hosenanzug gut zur Geltung. Um den schlanken Hals funkelte die Perlenkette ihrer Mutter. Wie alt war seine Frau, als er ihr die Kette aus Thailand mitgebracht hatte?
„Also, was ist Paps?“
„Ach, weißt du, Liebes, alte Menschen brauchen nicht mehr so viel. Ich nehme das Putensteak mit Blattspinat und eine Flasche Merlot.“
„Eine ganze Flasche?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. Er kannte diesen Blick von seiner Frau. Dann folgte meist ein verbales Donnerwetter, aber seine Tochter war sanfter.
„Wir teilen uns die Flasche, oder?“, er lächelte sie an.
„Gut, Paps, es ist dein Geburtstag heute. Du weißt, dass ich Alkohol nicht gut vertrage. Ich trinke höchstens ein Gläschen mit.“

Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, herrschte Schweigen. Er könnte sie fragen, wie es mit ihrer Firma lief. Das Thema Lover war tabu. Der letzte konnte sich nicht aufraffen, seine Ehefrau zu verlassen, während seine Tochter schon vom großen Glück geträumt hatte. Mit ihren fast vierzig Jahren waren keine Enkelkinder zu erwarten, doch das betrübte ihn schon längst nicht mehr.
„Und wie geht es dir so?“, hörte er sie fragen.
Verdammt, jetzt saß er in der Falle. Wann kam der Kellner endlich mit der Rotweinflasche?
Plötzlich stand er am Tisch und fragte höflich: „Möchten Sie probieren?“

Er musste sich zwingen, kleine Schlucke zu nehmen. Seine Tochter beobachtete ihn kritisch.
„Paps, so geht das nicht weiter. Du musst wieder unter Leute gehen. Hast du kein Hobby?“
Hobby ist was für Spinner, dachte er.
„Wie stellst du dir das vor? Soll ich in einen Töpferkurs?“
Er nahm einen weiteren Schluck, spürte die angenehme Wärme in den Adern, fühlte sich mutiger.
„Oder du könntest verreisen. Es gibt interessante Gruppenreisen. Da wäre sicher etwas für dich dabei, ich kann auch mitkommen“, schlug sie begeistert vor.
„Du weißt genau, dass ich kein Flugzeug mehr besteige. Das habe ich viele Jahre lang beruflich machen müssen.“
Er setzte das Glas an seine Lippen, trank erneut.
„Es gibt Busreisen, Paps.“ Sie war hartnäckig wie ihre Mutter.
„Lass es gut sein, Kind. Ich fühle mich wohl so.“
Er überlegte, ob das stimmte.
„Ich gehe mal vor die Tür eine rauchen“, entschied er.
„Aber das Essen kommt doch gleich“, versuchte sie ihn zurückzuhalten.
Er hoffte, dass er nicht zu hilflos wirkte, als er aufstand. Rückenschmerzen machten ihm zu schaffen. Er überwand den Schmerz, tastete sich Schritt für Schritt vorwärts. Kalte Luft schlug ihm entgegen, als er die Außentür öffnete. Er hatte vergessen, seinen Mantel anzuziehen. Er wollte sich draußen eine Zigarette anzünden. Der Wind blies das Streichholz wieder aus. Er suchte nach einer windstillen Häuserecke. Schließlich, nachdem etliche Hölzer auf dem Boden lagen, schaffte er es. Tief inhalierte er das Nikotin. Ihn fröstelte, er machte einige Schritte auf der Stelle, beschloss dennoch, vom Hotelrestaurant weg in Richtung Meer zu gehen. Hohe Wellen klatschten gegen den verkrusteten Sandstrand. Jetzt im Winter brüllte das Meer wie ein gefährliches Raubtier, während es sich im Sommer sanft schäumend wie ein Kätzchen an einen schmiegte.

Wann genau hatte er die Seiten gewechselt, seit wann brachte ihn all das Süßliche, Heuchlerische, Anstrengende menschlicher Gesellschaft zum Kotzen? Dreißig Jahre hatte er in der großen Stahlfirma gearbeitet, sich von unten nach oben gedient. Keine Sekunde hatte er darauf verwendet, über sich oder den Sinn des Lebens nachzudenken. Es war immer um Wettkampf und Sieg, um Geld und Prestige gegangen. Mit 62 hatte er beschlossen aufzuhören, ein neues, anderes Leben anzufangen. Mit seiner Frau wollte er sich noch ein paar schöne Jahre machen, aber die erkrankte an Krebs und starb. Dumm gelaufen, dachten wohl auch die Freunde und Nachbarn, die den armen Witwer einluden. Ihr Geschwätz war hohl, es interessierte ihn nicht, viele Worte waren überflüssig. Die Einladungen versickerten allmählich, er konnte endlich allein sein.

Er schaute hinaus auf das Meer. Seine Freiheit war endlos. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Aufstehen, wann er wollte, essen, soviel er wollte, trinken, was er wollte. Er spürte, wie die Einsamkeit zur Droge wurde. Er verließ das Haus nur noch, wenn er halbwegs sicher sein konnte, dass er keinen Bekannten traf. Bis tief in die Nacht schaute er Fernsehen, am liebsten Westernfilme, das Spiel um Leben und Tod. Die Waffe funkelte im Sonnenlicht und traf immer. Immer den Richtigen, den Bösen, der es verdient hatte. Und irgendwann erschien die Schöne, die Rassige, die Vollbusige, für die sich all dieser Kampf lohnte. Dann dachte er an seine Frau. Auch sie war schön gewesen, bis sie der Krebs in eine lebende Leiche verwandelt hatte. Alles verging.

Er zitterte jetzt, wünschte sich einen Whisky oder einen Mantel, am liebsten beides herbei. Doch er konnte sich nicht entscheiden, zurück ins Hotel zu gehen, wo seine Tochter sicher auf ihn wartete.

Alles verging. Irgendwie war das auch gut so. In Germanien waren alte Leute freiwillig ins Moor gegangen. Sie wollten auf den Wanderungen für ihren Stamm nicht weiter nutzloser, gefährlicher Ballast sein.
Ich könnte ja auch in die Nordsee, dachte er und grinste, aber heute ist es mir zu kalt.

Reiner Pörschke

Letzte Aktualisierung: 10.12.2015 - 22.09 Uhr
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