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Allein | Dezember 2015
Die SchĂĽlerin aus Minamisōma
von Kevin N. Hoffmann

Die Stille ist fast schon greifbar, so schwer lastet sie auf dem Ort.
Vor ein paar Minuten herrschte noch großer Lärm – er ist vollständig verstummt. Schreie, Sirenen, tosende Wellen, absolutes Chaos - alles innerhalb weniger Sekunden verschüttet - unter Wasser, Trümmern, Schlamm und purer Verzweiflung. Nichts, rein gar nichts, ist von dem Tsunami verschont geblieben. Autos, Häuser, Menschen, Tiere – alles wurde in die Tiefe gerissen.
Der Boden ist von zahlreichen Schluchten und Rissen durchzogen, in denen zäher Schlamm wabert. Es wirkt, als ob die Stadt aus allen Wunden blutet.
Ein einzelner Rabe kreist über dem Trümmerhaufen. Er landet nach einer Weile neben einem eingestürzten Schulgebäude. Er kennt diesen Ort, denn früher wurde er hier immer von fröhlich lachenden Schülern mit Brotresten gefüttert; nun herrscht jedoch eine deprimierende Stimmung. Er senkt sein Haupt und trauert um all die verlorenen Seelen, die hier ihr letztes Gebet gesprochen hatten – Gnadenrufe und unerbittliche Angst – ausgelöscht mit einem Wimpernschlag. In den Ruinen, die offenen Wunden gleichen, kann er noch den Nachhall der letzten Rufe der Schüler hören, die panisch um Hilfe schrien und sich aneinanderklammerten, während sie wussten, dass es zu Ende ging.
Der Rabe legt seinen Kopf nun schräg, in der Hoffnung etwas Aas zu finden. Er scheint etwas gefunden zu haben. Seine schwarzen, glänzenden Schwingen breiten sich aus und ein lautes Krächzen hallt durch Trümmer und Schutt. Pfeilschnell stößt er herab auf einen Arm, der aus den Ruinen ragt und sticht zu. Der Arm zuckt zurück und ein gequälter Schrei dringt unter den losen Steinen hervor.
Aufgeschreckt schießt der Rabe hoch in die Luft und lässt sich auf einem Vorsprung nieder. Von dort aus hat er einen guten Blick auf das Geschehen. Eine Steinlawine ist durch das ruckartige Zurückziehen des Armes entstanden und offenbart schließlich ein zusammengekauertes Mädchen in Schuluniform. Sie ist vollkommen verdreckt und hält schützend ihre Arme über den Kopf. Bis auf einen kleinen Kratzer, scheint sie körperlich völlig unversehrt.
Langsam und sehr behutsam rappelt sie sich auf und taumelt ein paar Schritte vorwärts. Ihr Gesicht ist gezeichnet von Tränen der puren Verzweiflung und des Kummers. Ihre großen haselnussbraunen Augen tasten sich langsam durch das unfassbare Chaos und können nicht begreifen, was sie sehen. Sie zieht ihre Arme dicht an den Körper und beginnt erbärmlich zu frieren, trotz der warmen Sonne.
Dort wo einst die Bibliothek der Schule war, kann sie gerade noch Umrisse erkennen. Unweit der Bibliothek liegen ein paar zur Unkenntlichkeit zerquetschte Körper. Sie wendet sich ab, fällt auf die Knie und erbricht sich auf der Stelle.
»Hallo?«, flüstert sie schwach, in der Hoffnung, jemand würde sie hören. Die Antwort ist erdrückendes Schweigen. »Hallo?«, ruft sie etwas lauter. »Hier ist Sayo Takahashi, ist hier jemand? Bitte.« Die letzten Worte sind nur ein leises Wispern, die der heraufziehende Wind fast aufsaugt, doch scheinen sie dem Raben zu genügen. Er fliegt zu dem Mädchen herab und setzt sich neben sie auf einen Stein. Sayo erschrickt heftig und springt einen Schritt zurück. Der Rabe wirft ihr einen strengen Blick zu und reckt elegant den Kopf in die Höhe. Aus seinen schwarzen Augen beobachtet er akribisch, wie Sayo ihren schleppenden Rundgang um das zerstörte Gebäude macht, in steter Hoffnung, Leben zu finden.
Schluchzend kehrt sie zurück und wischt sich über das schmutzige Gesicht. Hat denn wirklich keiner überlebt? Voller Verzweiflung macht sie eine zweite, eine dritte und weitere Runden - bis zur völligen Erschöpfung. Doch das Ergebnis bleibt: sie ist alleine.
In der Ferne kann sie einen Helikopter hören, der über dem rauchenden Atomkraftwerk in Fukushima kreist und Bilder des Schreckens aufzeichnet. Vielleicht sitzt ihr Otou-san (Vater) gerade mit seiner Kamera in genau diesem Helikopter um einen Bericht darüber schreiben zu können.
Vor ihrem geistigen Auge blitzt das Bild ihrer Familie auf und ein Kloß bildet sich in ihrem Hals. Sie muss sofort nach Hause! Ihre Okaa-san (Mutter) macht sich bestimmt heftige Sorgen und wartet auf sie. Vielleicht aber hat sie schon Minamis?ma mit ihren zwei Schwestern verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Sayo verwirft diesen beängstigenden Gedanken so schnell sie kann und beginnt die von Schutt und Schlamm bedeckte Straße hinab zu laufen. Der Rabe folgt ihr in einigem Abstand. In seinen Augen spiegelt sich die Traurigkeit eines Weisen, denn er weiß, was das Mädchen zu Hause erwarten wird. Sayo rennt direkt in den evakuierten Stadtbezirk Odaka.
»Okaa-san, Arisu- neesan, Daisuke- imoutosan, ich bin es Sayo. Okaa-san! Seid ihr zu Hause?«, schreit Sayo durch die verlassenen Straßen, in denen sich kein Leben regt.
Stille. Geschockt nimmt sie die Schreckensbilder in sich auf, die sich ihren Augen offenbaren. Völlig zerstörte Gebäude, Trümmer, Schutt, Körper und Körperteile von Menschen und Tieren ragen aus dem Schlamm heraus. Der Anblick umgestürzter Fahrzeuge, wahllos, fast wie willkürlich, verteilt, brennt sich in ihre Netzhaut und tief in ihr Bewusstsein ein.
Ab diesem Tag an wird das Gesehene, dieses unaussprechliche Grauen, sie lebenslang jede einzelne Sekunde des Tages verfolgen und nie mehr los lassen.
Tränen ziehen lange Bahnen durch ihr schmutziges Gesicht und nach einer Ewigkeit, wie es ihr scheint, erreicht sie das Ende der Straße. Ihr Elternhaus ist, wie die anderen Häuser um sie herum verschwunden – mitgerissen von der Kraft des Wassers, mitgerissen von der Kraft der grausamen Natur.
»OKAA-SAN!«, brüllt Sayo heiser und weicht zurück. Das kann nicht wahr sein! Ihre Familie ist nicht … kann nicht … sie sind nicht … TOT. »ARISU-NEESAN? DAISUKE-IMOUTOSAN? BITTE? IRGENDJEMAND? OKAA-SAN? OTOU-SAN?« Verzweifelt rennt sie zu den Überresten des Hauses und beginnt unter jedem Balken und Stein nach den geliebten Menschen zu suchen. Ihre Finger schmerzen, ihre Hände bluten, die umgestürzten Bäume im Garten, der eingestürzte Keller – nichts lässt sie außer Acht.
Der Mond steht bereits über den Rauchschwaden des Atomkraftwerks, als Sayo ihre Suche beendet. Benommen, kraftlos und völlig erschöpft fällt sie zu Boden. Die feuchte Erde zieht sie gierig in die Tiefe. Ihre Kleidung saugt sich voll mit schmutzigem, blutigem Wasser und kühlt ihren Körper aus.
In der Ferne sitzt der Rabe auf einem Autoreifen und putzt sein Gefieder. In seinen Augen spiegelt sich der Sternenhimmel wider - die Kraft des Universums, die Kraft der Weltenseele.
Stunde um Stunde liegt Sayo mit offenen, weiten Augen da und starrt leer in den Himmel. Ihre Lider werden schwer und sie fällt in einen unruhigen Schlaf.

Der nächste Morgen bricht mit aller Grausamkeit herein und wandelt: nichts. Sayo sitzt zusammengesunken und bewegungslos da. Eine quälende Schuld beschleicht sie, da sie diese Katastrophe als einzige ihrer Familie überlebt zu haben scheint. Warum? Warum sie? Warum ist sie nicht wie all die anderen bei der Flut gestorben?
Sie ist alleine. Die Einsamkeit tobt wie ein dunkles und düsteres Monster um sie herum. Niemand kommt, um sie zu wärmen, in den Arm zu nehmen – niemand ist da, um ihr zu sagen, alles würde wieder gut werden.
Schluchzend vergräbt sie ihr Gesicht in den Armen und betet verzweifelt zu Izanagi – dem Gott des Lebens.
»Okaa-san, Otou-san«, murmelt sie immer wieder. Wie in Trance wippt sie auf und ab. In ihren Ohren hallen die verzweifelten Stimmen ihrer Klassenkameraden wieder.

Alle waren sie zu den Fenstern gelaufen und hatten die gewaltigen Wassermassen auf sich zurollen sehen. Einige hatten verzweifelt versucht per Handy ihre Eltern zu erreichen, doch noch bevor sie die Nummer zu Ende gewählt hatten, erreichte das von Trümmern und Schlamm durchsetzte Wasser tosend das Schulgebäude. Schreie, berstendes Glas, ein lautes, ohrenbetäubendes Beben - und dann herrschte Stille.
Stille. Alle hatten die Luft angehalten und abgewartet. Die Zeit verschlich, schien ein Spiel mit ihnen zu spielen, sie wollte nicht vergehen. Jede Minute kam ihnen vor wie Stunden. Sie hofften auf Hilfe, beteten. Sie wussten nicht wie nah der sichere Tod war. Sie hielten sich an den Händen, blickten sich jedoch nicht in die Augen. Die Zeit verstrich und dann, endlich, schien das Wasser zurückzulaufen.
Plötzlich erzitterte das Gebäude und der Boden unter ihnen riss auf wie eine klaffende Wunde. Sie stürzten alle in die Tiefe und das Gebäude, brach in sich zusammen.

»Wir haben eine Überlebende!«, ertönt plötzlich der Ruf eines Mannes. »Schnell! Wir brauchen einen Wagen, hier her, HIER!«
Noch bevor Sayo begreifen kann, was um sie herum geschieht, wird sie von zwei Männern auf eine Bahre gehoben und in einen Rettungswagen verfrachtet. Der Wagen fährt los.
Der Rabe wirft ihm einen letzten Blick hinterher. Er kann den unendlichen Schmerz des Mädchens fühlen, ihre Einsamkeit, ihren Kampf mit dem Leben, das vor ihr liegt und was sie nun alleine zu bewältigen hat. Sie ist zu einer Einzelgängerin geworden und es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Tod auch sie holen wird. Der Rabe schüttelt kurz das Gefieder und erhebt sich in die Lüfte.

Leben und Tod sind sich so nah.

»Say?nara, Sayo aus Minamis?ma. Wir werden uns wieder sehen, in einem anderen Leben.«

Letzte Aktualisierung: 22.12.2015 - 14.21 Uhr
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