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Allein | Dezember 2015

Beim Frisör
von Eva Fischer

Obwohl sich der Vorfall in regelmäßigen Abständen wiederholte, war Vera dennoch immer wieder überrascht, wenn es so weit war. Sie stand morgens auf, schaute in den Spiegel und wusste, ihre Frisur benötigte sofort eine Korrektur. Sofort hieß zeitnah, möglichst am gleichen Tag. Sie hatte das Gefühl, ihre Frisur keinen Moment länger ertragen zu können.
Skeptisch betrachtete sie sich im Spiegel. Das Körperfett hatte sich den falschen Ort ausgesucht. Anstatt ihr Gesicht auszupolstern, hatte es sich wie ein Rettungsring um ihren Bauch gelegt, wobei der Ausdruck vollkommen irreführend war. Sie konnte schwimmen, benötigte keinen Rettungsring und außerhalb des Wassers war er eher hinderlich.
Sie seufzte und strich Makeup über die roten Äderchen und Fältchen, Zeitzeugen eines Lebens, das in die Jahre gekommen war. Noch war die Ware Mensch nicht vergammelt, aber frisch war sie auch nicht mehr.
Nach dem Frühstück griff sie zum Hörer und war erfreut, dass man ihr einen Termin für heute Nachmittag um drei anbot.

Auf dem etwa zehnminütigen Fußmarsch von ihrer Wohnung zum Frisörsalon dachte Vera an die junge Frisörin, die sie das letzte Mal bedient hatte. Susanne hieß sie. Ihr Lachen war ansteckend gewesen. Die junge Frau ließ sie an ihrem Leben mit Familie und Kleinkind teilhaben. Susanne mochte etwa 35 Jahre sein, hätte ihre Tochter sein können.
Nachdem sie Veras Haar gefärbt, gewaschen, geschnitten und gefönt hatte, griff sie zum Toupierkamm. Mit Inbrunst toupierte sie Strähne für Strähne, so dass Vera wie ein Igel aussah, bevor Susanne das Haar sanft wieder glatt strich.
Vera dachte an ihre Mutter, die sich einst auch die Haare toupierte. Für Vera selbst war es der Inbegriff des Spießigen und Bürgerlichen, aber sie erfreute sich an dem kindlichen Vergnügen der jungen Frisörin, sie wie eine Barbiepuppe zu stylen. Kaum zu Hause angekommen, ging Vera mit der Bürste durch ihre Haare. Was blieb, war Susannes Lachen, das ihr den Tag erhellte.

Vera war überrascht, als sie eine Fremde neben der Saloninhaberin stehen sah. Susanne sei in Urlaub, sagte diese Veras Gedanken erratend.
Die Fremde begleitete Vera zum Stuhl, legte ihr ein Handtuch und einen Umhang um, bevor sie in den hinteren Raum verschwand, um die Farbe anzurühren.
Die Frau mochte in etwa ihr Alter haben, wo man normalerweise bereits in Rente war. Aber vielleicht war diese nicht so hoch und zwang sie, noch weiter zu arbeiten.
Veras Mutter hätte ein Gespräch mit ihrer Friseuse – wie man früher sagte - stets abgelehnt, aber Vera liebte nicht nur die Berührung ihrer Haare durch fremde Hände, sondern auch die Leichtigkeit der Wörter eines Small Talks.
Während die Frisörin Strähne für Strähne mit Farbe bestrich, begann Vera über das Wetter zu plaudern, eine bewährte Art, ein Gespräch unverfänglich einzuleiten. Die andere ließ sich darauf ein, hielt aber abrupt inne, als sei das Wortgeplänkel ihrer nicht länger würdig und merkte an, dass Haare etwas Feines seien, solange man sie habe. Vera sah im Spiegel die extrem kurzen Haare der Frau. „Sie waren krank?“, fragte sie, teils höflich, teils neugierig.
Es war, als hätte sie das Wehr eines Stausees geöffnet.

Sie habe Brustkrebs gehabt. Ja, durch einen kleinen Zufall wurde er entdeckt. Ein aggressives Biest. Nein, in ihrer Familie sei diese Krankheit nie vorgekommen. Chemo, Bestrahlung, das ganze Programm. Von einen Tag auf den anderen ändere sich alles. Man sei ahnungslos und werde aus dem Hinterhalt niedergestreckt. Die Chemo sei die Hölle. Sie habe Leute gesehen, die sie abgebrochen hätten. Erbechen, unsägliche Schmerzen. Haarausfall sei noch der geringste Teil. Die Chemo sei eine Todeswaffe, doch sie träfe nicht immer genau auf den Punkt. Ausgetrocknete Schleimhäute. Keiner könne sich das vorstellen, der das nicht mitgemacht habe.
Vera spürte, wie die Worte zu Pfeilen wurden, die sie bis ins Mark attackierten, dort wo die Angst saß wie ein bibberndes Kaninchen vor der Schlange.
Die Frau wusch ihr den Kopf. Sanft massierten ihre Hände Veras Kopfhaut, als müsse sie deren Verspannung lösen.
Sie legte ihr ein Handtuch über den Kopf und begleitete sie zum Stuhl, wo sie die Schere zückte.
Im Kampf mit dem Tod bleibe man letztendlich allein, fuhr sie fort. Auch der Arzt habe ihr gesagt, wenn sie diesen Kampf nicht akzeptiere, habe sie schon verloren.
Vera hörte das scharfe Klacken der Schere, wie ihre Haarspitzen lautlos zu Boden fielen.

Jetzt habe sie ihr Leben verändert. Jeder Tag sei kostbar geworden. Sie ernähre sich gesund, trinke keinen Alkohol mehr. Selbst Tee könne man nicht trauen. All die Schadstoffe. Ihr Wortschwall war nicht mehr zu stoppen. Jegliche Gegenfrage verbot sich, als wolle man den Pfarrer in seiner Predigt unterbrechen.
Vera schaute sehnsüchtig zu der ungelesenen Zeitschrift vor ihr. Bunte, banale Bilder und Informationen über die Reichen und Schönen, ohne realen Bezug zu dem Leben der Normalos. Klar, auch sie hatten Probleme, erkrankten sogar an Krebs, aber dazwischen war ein Puffer. Sie waren Stars, weit weg an einem märchenhaftem, unwirklichem Himmel.
„Das Wichtigste, ich habe überlebt.“
Vera merkte, dass sie mit den Gedanken abgedriftet war, begriff aber diesen Satz als triumphalen Schlusssatz.
Sie schaute in den Spiegel. Die Frau machte keine Anstalten, ihr das Haar zu toupieren. Die Frisur saß tatsächlich perfekt, als habe sie die Fehler der Jüngeren ausgemerzt.
Vera lächelte müde, als die Frisörin ihr in den Mantel half. Sie steckte ihr Trinkgeld zu.
„Sicher kann man jedoch nie sein.“
Vera schaute sie fragend an.
„Man weiß nie, wie lange man dem Tod von der Schippe gesprungen ist.“
„Nein, weiß man nicht“ , bestätigte Vera und wandte sich zum Ausgang.

Sie fröstelte. Kaum war sie außer Sichtweite des Salons, zündete sie sich eine Zigarette an, inhalierte tief die Nikotinschwaden, dachte an ihre Mutter, die vor zwanzig Jahren an Krebs gestorben war. Sie hatte eine Chemo abgelehnt, sich kampflos dem Todfeind ergeben.
Auch Vera ahnte, dass sie nicht den Kampfeswillen der Frisörin besaß.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie den Nachbarn, der vor einigen Wochen Witwer geworden war. Bisher hatte sie sich nicht getraut, ihn anzusprechen. Sie zertrat ihre Zigarette auf dem Boden und ging auf ihn zu.
„Wie geht es Ihnen, Herr Müller?“
„Wie soll es mir schon gehen“, sagte er.
Sie fürchtete, dass sich jeden Moment Tränen aus seinen Augen lösen könnten.
„Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Kaffee einlade. Ich könnte auch einen Kuchen backen.“
Sie sah ihm in die Augen. Die unendliche Traurigkeit wandelte sich. Dunkle Wolken zogen weiter, gaben das Licht der Sonne frei.
„Das ist lieb von Ihnen. Ja, ich komme gerne.“
„Morgen um drei?“

Letzte Aktualisierung: 20.12.2015 - 17.04 Uhr
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