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Allein | Dezember 2015

So sommersprossig wie die Klippen von Dover
von Jochen Ruscheweyh

Ethel und ich trennen uns kurz vor dem Wald.
Ich sehe sie nicht dabei an und sie mich nicht, zumindest vermute ich es, was sie betrifft.
Irgendwann gleiten ihre Finger einfach aus meinen.
Stück für Stück.
Bis ich nur noch ihre Fingerkuppen halte.
Es dauert nicht lange, und ich höre ihre Hand kraftlos gegen ihr Bein fallen.
Sie ist stehengeblieben.
„Wenn du dich jetzt umdrehst, werden wir beide nicht ...“
ist der Satz, den ich sie nicht vollenden lassen würde, wenn sie ihn denn ausspräche.
Konjuktiv.
Konjunktiv zwei.

Ohne Verbindung fange ich an zu laufen.
Kein Laufen im Sinne von Joggen, eher Sprint, Kurzstrecke, Ben Johnson.
Geradeaus.
Immer tiefer in den Wald.
Denn, wenn es kein Zurück mehr gibt, kann die Lösung nur vor mir liegen.

Ich würde mich wahrscheinlich sicherer fühlen, wenn es einen Pfad gäbe, etwas, an dem ich mich orientieren könnte. Die Gefahr zu straucheln, zu stolpern oder sich selbst ein Bein zu stellen, steigt mit Sicherheit exponential zur Erhöhung der Geschwindigkeit.
Wenn wir etwas in Formeln packen, haben wir das Gefühl, es besser kontrollieren zu können.
Eine Formel über Formeln wäre damit der ultimative Kontrollgewinn. Hat Ethel ein Formel für mich, über mich, oder globaler: uns betreffend?
Es ist irrelevant, denn Ethel liegt hinter mir.
Liegt sie.
Lügt sie?
Lüge ich?
Ich muss weiter, ich bin auf mich allein gestellt.

Das menschliche Gehirn neigt in reizarmen Situationen dazu, selbst Reize zu setzen. Ein Biologe würde in einem Wald wahrscheinlich Millionen fesselnder Dinge wahrnehmen, ein Innenstadt-sozialisiertes Individuum hingegen lediglich eine willkürliche Mischung von Grün-/Brauntönen und Erdgeruch.
Ich zähle mich eher zu letzterer Spezies. also dauert es nicht lange, bis ich Menschen hinter Bäume hervortreten, andere sich aus meinem Blickfeld entfernen sehe.
Mit allen habe ich intensive, aber nicht in gegenseitigem Einvernehmen endende Begegnungen gehabt, um es rein sprachlich wieder in eine formelähnliche Hülse zu pressen.
Ich sehe sie klebrige Spuren auf dem Waldboden hinterlassen.
Einen Moment später ist alles um mich herum vor und hinter mir –

Lügt sie?
Lüge ich?
Lügen Sie?

spinnennetzartig von ihren Rückständen überzogen.
Die Summe ihrer Präsenz ist – obwohl ich wochen-, monate-, teilweise jahrelang nicht mehr an sie gedacht habe – plötzlich so spürbar, beklemmend, erdrückend.
Spreche ich von ihr oder von ihnen?

Ich schaue nach oben, während ich weitere Adjektive suche.
Die Baumkronen scheinen nicht mehr so weit entfernt wie noch kurz zuvor, metamorphieren, verdichten sich, lassen weniger Licht hindurch.

Ein Kauz folgt mir hartnäckig. Das erkenne ich an seinem monotonalen Ruf, der mal von hinten, mal von rechts oder links erklingt.
Ich bewaffne mich mit einem Stein.
Plötzlich hockt er auf einem Baumstumpf keine drei Meter vor mir. Ich hole aus in dem festen Willen, ihm Schmerzen zuzufügen, ihn zum Schweigen zu bringen, ihn am Lügen zu hindern, als er einen Flügel hebt.
Ein Zeichen? Ich lasse meine Hand ebenso sinken und kraftlos gegen mein Bein fallen, wie Ethel es getan hat.
Er ahmt mich nach und legt seinen Flügel wieder an.
Ich nehme mein linkes Bein linkes hoch und breite beide Arme aus, wie der Hampelmann, den ich als Kind über meinem Bett hängen hatte, an dem man ziehen konnte.
Statt meine Bewegung zu spiegeln, steigt der Kauz diesmal in die Luft und fliegt einen Bogen um mich, was ich als Hinweis deute, ihm zu folgen.

„Warum hast du mich zu diesem Fluss geführt?“, frage ich, weil es mich interessiert. Er zeigt mir seine Rückansicht und zuckt mit den Flügeln wie Ethel es gewöhnlich mit den Schultern tut. Als er seinen Kopf umwendet, blicke ich in ihre Augen.
Ethels früher weiche und gütig wirkende – wie ich sie im Spaß immer genannt habe – Mandeldinger, jetzt stechend und feindselig.

Ich lege meine Kleidung ab und steige in das Wasser, das sich weder warm noch kalt sondern eher wie in einem anderen Aggregatzustand, wie gasförmig anfühlt.
Der Kauz fliegt vor und ich folge wie mit einem magnetischen Lasso gefangen gegen den Strom treibend.
Ich versuche erst gar nicht, diesen Widerspruch für mich aufzulösen.

Irgendwann bedeutet mir der Kauz mit einer Kopfbewegung, aus dem Wasser zu steigen. Zumindest interpretiere ich es als Zeichen.
Wir befinden uns unter mehreren sich kreuzenden Brücken.
Brücken sind Optionen, um Dinge hinüberzutragen.
Ich muss die Flussböschung hinaufsteigen. Schwere Eisengitter, durch die ich meine Hände stecke, an denen ich erfolglos rüttele – was soll auch passieren, sollen sie nachgeben? – versperren mir den Weg, verwähren mir, das letzte Drittel bis auf die Brücke hinauf zu überwinden.
Als ich Ethel und mich oben auf der mir nächsten Brücke entdecke, wird mir klar, wo und wann ich mich befinde.
Wir ersetzen demnach die Unbekannten in der Formel.
Gleich wird sie mich ohrfeigen. Erst jetzt aus der Distanz begreife ich den symbolischen Charakter dieser für mich bisher immer inhaltslosen Geste.
Ich versuche, auf mich aufmerksam zu machen, schreie, rudere mit den Armen, um mich selbst dort oben daran zu hindern, zu sagen, was ich ihr im nächsten Augenblick sagen werde.
Ich spüre ihre flache Hand auch hier unten gegen meine Wange klatschen, kraftvoll.

„Wo bringst du mich jetzt hin?“, schreie ich dem Kauz hinterher, der wieder die Führung im Wasser übernommen hat. Dann ergänze ich: „Es reicht, ich habe verstanden.
„Ich denke nicht“, höre ich eine Stimme. Eine Hand – immer Hände, wie oft noch? – zieht mich aus dem Wasser, das, wie ich festgestellt habe, kein Wasser ist, sondern eine flüssig gasförmige Zwitter-Illusion. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass sie vollkommen schwarz ist, ebenso wie der Arm und der restliche Körper. „Wer bist du?“, frage ich.
„Ich bin der Teil von Ethel, den du jeden Tag tötest.“

Wir sitzen zusammen an einem Feuer, das brennt, aber keine Wärme ausstrahlt. Ethel Black ist seltsam anzusehen, wie ein Negativ von ihr, nur dreidimensional.
„Wie töte ich dich?“, will ich wissen.
„Das ist die falsche Frage!“, ist ihre Antwort, während sie einen Ast von dem Baum neben dem Feuer herunterzieht und sich einen Apfel pflückt, der in ihren Händen verschrumpelt.
„Wie kann ich es ungeschehen machen?“, sage ich leise.
Sie nickt. „Besser. Folge dem Kauz.“
Eine einfache Formel.

Es ist kein Blockhaus, sondern einer dieser offenen Pilze, also ein achteckiges, gedecktes Dach auf Stützen, in der Mitte eine sich um eine Säule ziehende 360 Grad-Bank.
Ich setze mich.
„Hallo?“, höre ich meine Stimme von der anderen Seite hinter der Säule.
„Wo bist du?“, frage ich überflüssiger Weise.
„Wo bist du?“, frage ich mich zurück.
Es ist wie ein Hund-Jagd-seinen-eigenen-Schwanz-Spiel, an dessen Ende steht, dass ich mich selbst nicht finde.

Die Formel könnte lauten:
Ich muss mich selbst finden.
Wenn ich mich selbst gefunden habe, muss ich mich kennenlernen. Dann muss ich mich lieben lernen.
Wenn ich mich selbst lieben kann, kann ich auch Ethel lieben. Verliere ich sie, verliere ich mich selbst.

Der Kauz nickt zustimmend, als könnte er meinen Kopf röntgen, so wie Ethel mich geröntgt, auf ihre Weise immer getan hat, immer tut.






„Du hast den ganzen Weg nichts gesagt. Ich hab grad das Gefühl, du bist ganz woanders.“
Ich nehme ihre Hand. Sie ist so hell und sommersprossig wie die Klippen von Dover. Ein Vergleich, der nur bedingt valide ist, aber bedeutet lieben nicht auch, sich abseits von Formeln und mathematisch Fassbarem zu bewegen?
Ich sehe in ihre Mandeldinger, damit sie mich auf ihre Weise röntgen kann und entdeckt, dass ich es nie ernster meinte als jetzt, wo ich sage: „Wenn du mich verlässt, dann lässt du mich allein mit mir. Ich weiß nicht, ob ich das überlebe.“


Version 1

Letzte Aktualisierung: 18.12.2015 - 07.43 Uhr
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