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Allein | Dezember 2015

In der Fremde
von Thea Derado

(Aus Utas Tagebuch)

Erfreut lege ich einen Schritt zu. Nur wenige Meter vor mir – der Gang, der Rücken. Glaube, einen Bekannten erkannt zu haben. Einen Monat bin ich nun schon von daheim weg. Nach diversen Flüchtlingslagern nun endlich jemand Vertrautes!
Doch das Frohlocken erstickt. Abrupt halte ich inne, ausgebremst durch die Einsicht, dass das ja unmöglich ist. Der Nebel der Trauer, bedingt durch das ungewohnte Alleinsein, hüllt wieder mein Gemüt ein. Keine Menschenseele kenne ich in dieser Stadt, in die es mich verschlagen hat.
Auch wenn ich diesen Schritt bewusst gewählt habe, freiwillig und mühsam „von drüben“ abgehauen bin, so schwer habe ich es mir nicht vorgestellt. Hart, sich zum ersten Mal so verlassen zu fühlen, weit weg von daheim, für unabsehbare Zeit fern von Freunden, von allem Vertrauten.
Abend für Abend kämpfe ich gegen die Tränen an. Wohl wäre es befreiender, sie fließen zu lassen. Stattdessen kapsele ich mich ab, spinne mich ein wie eine Raupe in ihren Kokon. Wird je die Zeit zum Schlüpfen kommen?

In dieser während des Krieges schwer zerstörten Stadt ist die Wohnungsnot auch 1958 noch spürbar. Mehrere ausgebombte Familien müssen sich noch immer eine Wohnung teilen. Dazu die vielen Vertriebenen und Flüchtlinge aus einst deutschen Gebieten. Alle suchen eine Bleibe. Auch ich.
Am Ende der Stadt ein Angebot. Die Wirtin, eine Kriegerwitwe, beäugt mich misstrauisch. Nein, ich spreche nicht bayerisch, gewiss nicht. Immer wieder erlebe ich, dass eine gemeinsame Sprache Sympathien erweckt. Zögernd zeigt mir die ältere Frau das ‚Studentenzimmer‘: eine einstige Besenkammer unter der Treppe, in die gerade ein Bett und ein Stuhl passen – zu überhöhten Preisen. Ohnehin zu weit weg von der Uni-Gegend.

Jugendliche aus meiner Heimat finden eine Anlaufstelle in einer ‚Arbeitsgemeinschaft‘ in der Innenstadt. Dort hilft man mir weiter.
„Hier, die Anschrift der Evangelischen Mitternachtsmission in der Heßstraße. Da kannst du einstweilen unterkommen. In sechs Wochen ist dann das neue Studentenwohnheim bezugsfertig. Musst dich aber rasch bewerben.“
Eine Fromme Schwester in Ordenstracht weist mir meine Schlafstelle zu - in einem Etagenbett. Noch fünf junge, gestrandete Mädchen teilen das Zimmer mit mir. Es gibt zwei weitere Räume mit je acht Einquartierten.
„Um neun Uhr abends wird warmes Wasser zum Waschen zugeteilt. Bitte pünktlich sein. Um zehn Uhr wird das Licht ausgeschaltet.“
Ab neun Uhr stehen 22 junge Frauen an drei Emaille-Schüsseln Schlange und harren der kostbaren Flüssigkeit, um sich vom Staub des grauen Alltags zu befreien. Und dafür pro Nase 30 Deutsche Westmark! Für mich ist das sehr viel. So lerne ich die Christliche Nächstenliebe kennen!

Jurastudentin Margit wird mir Greenhorn von der ‚Arbeitsgemeinschaft‘ zugeteilt, mich zu betreuen. Wohlwollend nimmt sie mich mit zu einem Treffen ihrer Kommilitonen. Ach, hätte sie das doch lieber sein lassen, es hätte mir einen demütigenden Abend erspart!
Ich stelle mich mit meinem Vornamen vor und rede alle mit ‚du‘ an, glaube das sei unter Studenten in der ganzen Welt so üblich. Ha, aber nicht bei westdeutschen Jura-Studenten! Die schrauben ihre Empörung sogleich in ungeahnte Höhen. Gleichviel ob echt oder gespielt, es verletzt.
Die Fäden meines Kokons schnurren noch fester zusammen.

Nicht nur Juristen, auch andere Wesen vermitteln mir das Gefühl, von einem anderen Planeten zu kommen. Die junge Frau im Bett unter mir bei den frommen Schwestern der Mitternachtsmission verdient ihr Geld damit, dass sie Abonnements für Illustrierte an Interessierte bringt. Jeden Morgen legt sie sorgfältig Kriegsbemalung auf, bevor sie sich auf ihren Kampfpfad begibt. Versuche eines Gesprächs misslingen stets, weil sie einzig und allein von Filmschauspielern/innen, offenbar die Krone der Schöpfung, schwärmt.
„Ach lass mal, ich habe ohnehin niemals von denen gehört.“
Ich sage nicht, dass sie mich auch gar nicht interessieren, will sie ja nicht total verärgern.
„Waaaas, den kennst du nicht? Aber den kennt doch jeeeder!“, dröhnt es mir in die Ohren. Ich nutze die erste günstige Gelegenheit, ihr zu entkommen.

Ausländern wie Ivo, einem Jugoslawen, geht es noch schlimmer. Da ist ein Wust von Formularen auszufüllen und einzureichen. Dieser Papierkrieg!
„Sag mal, Margit, hast du Beziehungen zum Studentenwerk?“
„Beziehungen? Nö. Warum sollte ich?“
„Ich muss da meine Unterlagen abgeben.“
„Na, dann mach das doch. Geh einfach in die Veterinärstraße.“
„Nein, so geht das nicht. Darf man nicht so einfach direkt. Braucht man Beziehung.“
„Eh, du bist hier nicht auf dem Balkan! Das ist eine deutsche Behörde! Da geht man hin und gibt seine Sachen ab!“ Die deutsche Juristen-Seele reagiert beleidigt.
„He, he!“ Ivo schluckt seinen Ärger über diese blöde Bemerkung runter. Schließlich braucht er ja einen guten Rat von ihr. Aber begriffsstutzig scheint sie auch noch zu sein. Mit weit ausholenden Gesten und seinem noch holprigen Deutsch belehrt er sie, dass ihre deutschen Behörden auch nicht ganz koscher seien.
„Ist nicht so, wie du denkst. Geht nicht so gerade. Muss man machen Bogen und kommen von hinten, so drum herum.“ Dabei beschreibt er mit der rechten Hand einen ganz großen Bogen. Dann, Daumen gegen Zeigefinger und Mittelfinger gedrückt, die Hand rhythmisch vorm Gesicht bewegend: „Steht explizit geschrieben. Verstähst du?! Kann man auch bei eich in Deitschland nicht machen, wie man mächte.“
„Das steht geschrieben? Wo? Zeig her!“
Ivo deutet auf das amtliche Schreiben: ‚Die Unterlagen sind beim Studentenwerk umgehend abzugeben‘!

Verständlich, sein Deutsch ist mangelhaft.
Aber ich spüre dafür immer mal wieder meine fehlenden Englischkenntnisse. Acht Jahre Schul-Russisch können mich wohl in meinem neuen Leben nicht sehr weit bringen.
Über den ASTA gibt es billige Fahrten nach London. Ich muss in den Sommerferien endlich die Startlöcher zum Weltbürger graben.
Ja, das ist der erste Genuss der freien Welt! Bis weit in den Norden Schottlands zu trampen, jede Nacht in einer anderen Jugendherberg. Eine ist berühmt für ihr Squaredance-Angebot jeden Abend. Ausgelassen wirble ich mit im Kreis herum. Langsam beginne ich die Flügel auszubreiten und lasse mich vom Zauber des Neubeginns emportragen.

Von den Mitternachts-Missionarinnen bin ich längst befreit!
„Kommst du rüber zu mir? Ich habe uns Kaffee gekocht. Ja, ich weiß, du lernst. Du kannst es dir ja in Ruhe überlegen.“ Meine neue schwedische Freundin, Zimmernachbarin im Studentenwohnheim, weiß doch stets, wie sie mich von meinen Büchern loseisen kann.
Im Studium habe ich rasch Tritt gefasst. Hier im Heim bewohne ich ein Zimmer mit eigenem Waschbecken und einem Tisch ganz für mich und meine dicken Lehrbücher alleine, ja sogar mit einem kleinen Balkon. Eine Kastanie versucht, mich mit ihren Zweigen zu erreichen und reckt mir zum Gruß ihre Kerzen entgegen.
Die grauen Spinnweben sind unter der Frühlingssonne längst aus meinem Gehirn zerstoben.
Sicher würde ich gern mal schauen, wie es daheim so geht. Aber ich bereue keinen Tag, hierhergekommen zu sein. Hier will ich auch bleiben.
Mit dem Klöppeln neuer Freundschaften wird die Fremde allmählich zu einer neuen Heimat.

Letzte Aktualisierung: 21.12.2015 - 14.07 Uhr
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