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Allein | Dezember 2015

Amelie
von Monika Heil

I
Alle sagen Amelie zu mir. Der Name klingt vertraut.
„Du hattest einen Unfall“, sagen sie. Sie, das sind die Ärzte. Ich weiß inzwischen, was Ärzte sind. Männer in weißen Mänteln. Der Mann ohne weißen Mantel ist Dr. Heinze. So heiße ich auch sagt er. Dr. Heinze ist ein netter Mann. Er ist stets freundlich zu mir, wenn er mich besucht.
Seit dem Unfall kann ich nicht mehr sprechen.

Ich weiß nicht, wer die Frau ist, die immer weint, wenn sie mich sieht. Manchmal möchte ich auch weinen.
„Mein Kind“, sagt sie zu mir. Ich bin kein Kind mehr. Manchmal möchte ich vor ihr davonlaufen.
Seit dem Unfall kann ich nicht mehr laufen.

Ständig sind viele Menschen um mich herum. Und doch fühle mich allein. Ich liege in einem weißen Zimmer in einem weißen Bett. Wie lange schon? Ich weiß es nicht und niemand sagt es mir. Wie sieht es außerhalb dieses Zimmers aus? Der nette Dr. Heinze erzählt mir von Blumen und Bäumen, spricht von den Jahreszeiten, von Sonne und Schnee. Ich erinnere mich an den Schnee meiner Kindheit. Viel Schnee. Wo war das? Wie lange ist das her? Es gibt so vieles, das ich nicht mehr weiß.

Dr. Heinze sagt, er heiße Gregor. Ich soll Gregor zu ihm sagen. Ich kann das nicht.
Seit dem Unfall kann ich nicht mehr sprechen.

Die Ärzte kommen jeden Tag. Sie sehen mich an. Sie flüstern miteinander. Sie erklären mir so vieles. Ich verstehe nur weniges. Sie stellen Fragen, die ich nicht beantworten kann. Auch meine Fragen beantwortet niemand, denn sie hören sie nicht. Wie lange dauert ein Tag? Wie viele Tage bin ich schon hier? Niemand sagt es mir. Ich habe keine Vorstellung von der Zeit. Weder von der vergangenen noch von der jetzigen.

Seit dem Unfall kann ich mich nicht mehr bewegen.
Das machen die Schwestern für mich. „Leichtgewicht“ sagen sie und lachen. Ich möchte auch lachen können.

Gregor erzählt mir Geschichten. Das gefällt mir. Wie kann ich ihm nur danken?
„Weißt du noch?“, fragt er immer wieder und ich kann ihm nicht antworten. Manchmal sagt er:
„Liebe meines Lebens.“ Dann weint auch er. Ich kann es fühlen, selbst wenn er von mir abgewandt am Fenster steht.

Ich hatte einmal ein Tagebuch. Ich weiß nicht mehr, wo ich es aufbewahrt habe. Ich möchte es so gerne sehen. Gregor soll es mir bringen. Er soll mir aus meinem Tagebuch vorlesen. Damit ich mich erinnere. Ich kann es ihm nicht sagen.
Seit dem Unfall kann ich nichts mehr.
Ich versuche, mit den Augen zu sprechen. Gregor versteht mich nicht. Er sieht mich an und versteht mich nicht. Ich schaue in seine Augen und lese so viel.

II
Gregor sagt, ich komme bald nach Hause. Wo ist das?
„Freust du dich?“, fragt Gregor. Ich weiß es nicht. Mein jetziges Zimmer gefällt mir. Es ist warm und gemütlich. Ich fühle mich hier geborgen. Ich lebe schon so lange in diesem großen warmen Zimmer. Wie sieht mein Zuhause aus? Ist es dort anders als hier? Kommen die Männer in den weißen Mänteln mit zu mir nach Hause? Ich fühle mich so allein mit all meinen Fragen.

III
Gregor sagt, ich bin zu Hause. Ich liege in einem hellen Zimmer mit hellen Möbeln, in einem hellen Bett. Ich sehe viele Bücher in hohen Regalen, ich sehe ein Fenster mit zarten schneeweißen Gardinen, dahinter den blauen Himmel. Und Bäume. Kirschbäume. Jetzt blühen sie. Wie lange muss ich hier noch liegen?

Meine Mutter kommt oft. Sie weint nicht mehr. Sie sagt auch nicht mehr: „mein Kind“. Sie sagt jetzt Amelie. So nennt mich hier jeder. Auch die sich abwechselnden Pflegerinnen. Nur Gregor sagt nicht Amelie. Er sagt: „Liebe meines Lebens“. Das klingt gut. Leben klingt gut.
Seit dem Unfall habe ich nicht mehr gelebt.
Die Tage kommen und gehen. Viele Tage. Einer ist genauso wie der nächste. Gregor verbringt viel Zeit in seiner Anwaltskanzlei irgendwo in der Stadt. Wenn es dunkel wird, kommt er nach Hause. Dann besucht er mich in meinem Zimmer. Ich habe Angst, dass er eines Tages nicht mehr zu mir zurückkommt. Wie kann ich ihm das verständlich machen? Wie kann ich ihm sagen, dass ich Angst vor dem Leben habe.
Seit dem Unfall kann ich nicht mehr sprechen.

IV
Gregor sagt, er kann jetzt in meinen Augen lesen. Ich muss weiter üben, mit den Augen zu sprechen. Deutlich zu sprechen. Damit Gregor mich versteht. „Du bist die Liebe meines Lebens“, sage ich zu ihm. Warum weint Gregor, wenn meine Augen mit ihm sprechen? Tatjana und Inga, die beiden Krankenpflegerinnen hören nicht, was ich sage. Sie können Augensprache nicht verstehen. Schwester Inga sagte gestern:
„Gut siehst du heute aus, Amelie“, und lächelte mich an. Ich weiß nicht mehr, was Gutaussehen bedeutet. Ich wollte in einen Spiegel schauen. Meine Augen sagten:
„Spiegel.“ Die Schwester verstand die Augensprache nicht. Und so blieb ich wieder einmal allein mit meiner Bitte. Gregor wird es verstehen. Heute Abend. Wann ist heute Abend?

Die Rosen sind schön. Gregor bringt sie mir, ganz früh am Morgen. Bevor er in seine Kanzlei geht. Er sagt, wir seien heute dreißig Jahre verheiratet. Wie viele von diesen dreißig Jahren liege ich hier in diesem Zimmer? Ich will nichts mehr fragen. Ich will nichts mehr wissen. Ich will sterben. Gregor, schau’ in meine Augen. Ich spreche mit dir. Gregor hilf mir. Ich kann nicht mehr leben. Wie lange lebe ich schon nicht mehr? Ich möchte, dass mein Sterben zu Ende geht. Gregor, lies es in meinen Augen. Seit dem Unfall kann ich nicht mehr sprechen. Seit dem Unfall kann ich nicht mehr leben. Seit dem Unfall kann ich nicht sterben.
Gregor, Liebe meines Lebens!

V
Die Rosen sind schön. Dunkelrot und weich wie Samt. Sie duften betörend. Ich sehne den Abend herbei. Dunkelheit. Und endlich bist du da. Gregor, hast du gelernt, in meinen Augen zu lesen? Das Licht der Kerzen ist mild. Dein Blick ist mild. Heute spüre ich etwas. Zum ersten Mal seit meinem Unfall. Es ist ein gutes Gefühl. Du kämmst mein Haar. Ich liebe es, wenn du mein Haar kämmst. Schweigend gehst aus dem Zimmer. Ich weiß, du kommst gleich wieder herein. Es ist warm hier drinnen in meinem schönen Zimmer. Gregor! Du kommst zurück. Du lächelst. Du hältst zwei Gläser in deinen Händen. Auch die Flüssigkeit sieht warm aus. Du schaust mich an. Warum flüsterst du? Ich verstehe dich kaum. Gregor, sprich lauter. Du kannst doch in meinen Augen lesen. Sieh mich an. Du hebst das eine Glas an deine Lippen. Du trinkst, du flüsterst, du lächelst. Ja, Gregor, du hast mich verstanden. Deine Hand, die meinen Nacken anhebt, ist warm und stark. Gib auch mir zu trinken. Es ist gut so. Danke Gregor. Liebe meines Lebens. Lass mich schlafen.

Version 1

Letzte Aktualisierung: 04.12.2015 - 17.43 Uhr
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