Diese Seite jetzt drucken!

Allein | Dezember 2015

Eine äußerst verdrießliche Verwechslung
von Klaus Freise

Es begab sich zu einer Zeit, da das Kopfsteinpflaster in London mit einer feinen Schneedecke überzogen war und der Duft von Rum und Grog den Trafalgar Square erfüllte. Lachend tobten Kinder durch den Hyde Park und warfen die ersten Schneebälle.
Es war der Heiligabend. Der Abend, an dem alles begann.
Versteckt hinter kleinen gelben Fenstern im obersten Stockwerk, dort wo nur noch der Oberste Rat der Zauberer Zugang hatte, stand ein verunsicherter Dienstbote seinem Vorgesetzten Rede und Antwort. Aber gerade der Teil mit den Antworten wies doch entscheidende Defizite auf.
„Ist Ihnen den nie die Idee gekommen, dass dieser Hezipath Glowfinger vom Obersten Rat schon seit Jahrzehnten keine Weihnachtsgrußkarten mehr bekommt? Geschweige denn eine geheime und gezielte Botschaft, die sich in einem Geschenk samt Karte verbirgt?“
Nestor Phelps, Vorsitzender des Rates, hatte seine harmonische Zornesröte in eine irritierend blasse Gesichtsfarbe gewechselt. Der Bote versuchte tapfer Haltung zu bewahren, aber Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe verrieten seine Unruhe. Mit jedem weiteren Wort das Phelps, inzwischen mit reichlich Speicheltöpfchen versehen, von sich schleuderte, sank sein Mut, nochmal das Wort zu ergreifen.
„Ausgerechnet diesen nutzlosen, zahnlosen Tattergreis. Ich sagte: den Fähigsten und Besten, nicht den Fahrigsten und Letzten. Senden Sie sofort eine neue Botschaft an Tristram Maplethorpe und hoffen wir, dass es noch nicht zu spät ist. Fühlen Sie sich eigentlich mit den an Sie gestellten Aufgaben überfordert?“ Ein Schweißtropfen verließ das Kinn des Jungen, als dieser sprach:
„Nicht unbedingt überfordert, my Lord, eher alleingelassen.“

Hezipath Glowfinger hatte sich in seinen zerschlissenen Hausmantel mit dem seltsamen Paket sofort in seinen abgewetzten Ohrensessel gemütlich gemacht. Der junge Bote hatte ihm das Paket grußlos in die Hand gedrückt. Selten verirrte sich ein Mensch in diese heruntergekommene Ecke Londons. Neben seinem Sessel stand ein Tablett mit kleinen Käsewürfeln, von denen er jetzt einen in seine Hutkrempe warf. Dann öffnete er mit zitternden Fingern das Papier. Die Grußkarte legte er achtlos zur Seite.
Er betrachtete sein Geschenk. Ein Buch. Damals hatte ein Studienkollege ihm das letzte Buch geschenkt. Es war ein Kochbuch für Singelzauberer.
Als er den Buchdeckel öffnete, gab es einen Knall und eine Stimme ertönte:
„JA, GIBT’S DENN SOWAS? REISST EINFACH DAS BUCH AUF UND …“
Glowfinger schlug das Buch zu. Was um alles in der Welt war das denn? Kam die Stimme aus dem Buch? Er öffnete sehr vorsichtig noch einmal den Deckel.
„IST ER DENN VERRÜCKT? KANN ER DENN NICHT LESEN? SOLL ER DENN EINFACH REINGUCKEN ODER WAS?“
Glowfinger schlug wieder zu und las die Worte auf dem Einband. „Das verbotene Buch“ kein Verfasser, nichts weiter. Er kratzte sich mit seinem knochigen Zeigefinger am Kopf und ignorierte das aufgeregte Getrippel in seiner Hutkrempe. Irgendwann hatte er von solchen Büchern mal gehört, aber wo und wann? Er grübelte kurz und riss dann entschlossen das Buch auf.
„NA JETZT REICHTS JA WOHL? WENN ER NOCH EINMAL DEN DECKEL AUFREISST; DANN …“
Glowfinger rief energisch dazwischen:
„Schluss jetzt, komm heraus.“
„WILL ER MIR BEFEHLEN?“
„Ja, ich befehle es. Raus mit dir.“
„OCH, NÖ.“ Sekunden später ploppte es und eine Gestalt erschien vor Glowfinger. Dickbäuchig, mit einem langen Ziegenbart und einem roten Fez auf dem Kopf. Unter dem ein schwarzer Zopf hervorschaute. Die Gestalt endete in grober, roter Pluderhose, die Füße waren nur angedeutet und schwebten über dem Teppich. Auf der breiten Brust spannte sich goldenen Stickereien an einer blauen Seidenweste.
Glowfinger staunte: „Na, wen haben wir denn da?“
Die Gestalt verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte: „EINEN DSCHINN.“
„Gesundheit“, sagte Glowfinger.
„NEIN, ICH BIN EIN DSCHINN; EIN BUCH-DSCHINN UND MEIN NAME IST FROMMPEL.“
Glowfinger murmelte irritiert: „Ein Frommpel, so, so. Ich glaube ich habe noch so einen um das Abflussrohr in der Spüle sauber zu machen.“
Der Dschinn warf die Arme in die Luft.
„NEIN, NEIN, ALTER MANN. DAFÜR IST KEINE ZEIT; ICH SOLL DIR EINE WICHTIGE NACHRICHT ÜBERBRINGEN“
Glowfinger hob die Hand und sagte:“Tust du mir einen Gefallen, Frommpel Jim … äh, Dschinn. Sprich etwas leiser, du machst ihr sonst Angst.“ Bei diesen Worten deutete er auf seine Hutkrempe. Daraus schaute die Nase einer Maus hervor, die mit ihren Knopfaugen den Dschinn genau beobachtete.
Sofort änderte sich das ganze Benehmen des Dschinn. Er beugte sich vorsichtig zum Hut und flüsterte:
„Och, die ist ja süß, wie heißt die denn und wieso hat sie so ein gemustertes Fell?“
„Sie heißt Mathilda, ist eine Zaubermaus und das Schachbrettmuster war ihre Idee, außerdem kann sie sprechen.“
Frommpel riss die Augen auf. „Wirklich?“ Dabei streckte er einen seiner Wurstfinger aus und sagte: „Mäuschen, sag mal Piep.“ Mathilda setzte sich auf ihren Hintern, legte beide Pfötchen auf den Rand der Krempe und sprach: „Fiep.“
Ein Knopfaugenblinzeln und sie spähte wieder auf das Brett mit dem Käsewürfeln. Ein Stück war noch da. Ein Speicheltröpfen rutschte an einem ihrer Barthärchen entlang.
„Also, Frommer Gin, was war denn nun mit deiner Botschaft?“ Glowfinger lehnte sich in seinem Sessel zurück, womit sich die ausgestreckte Pfote von Mathilda weiter vom Käsestück entfernte.
„AH, GENAU, DIE GEHEIME BOTSCHAFT VOM OBERSTEN RAT.“ Frommpel breitete mit stolzgeschwellter Brust die Arme aus. Glowfinger unterbrach ihn gleich:
„Bitte etwas leiser. Vielleicht wäre es besser, wenn du eine geheime Botschaft nicht so herum posaunst.“
„Ähem, natürlich“, flüsterte der Dschinn. „ Also, es ist ein sehr wichtiges Buch weggekommen und der Rat hat euch ausgewählt, um es wieder herbeizuschaffen.“
Glowfinger sah sich die Grußkarte an und murmelte: „Tatsächlich, Nestor Phelps. Ich dachte der wäre tot?“ Frommpel räusperte sich und flüsterte:
„Das dachte er wohl auch, aber nachher stellte sich heraus, dass er nur in einem Paralleluniversum war und den Ausgang nicht fand.“
„Sehr verdrießlich, in der Tat. Um welches Buch geht es denn überhaupt.“
Frommpel schwebte dichter an den Zauberer heran, legte den Handrücken an seinen Mundwinkel und zischte verschwörerisch:
„Das Buch der Bücher. Das Zauberbuch. Das Buch, in dem alle Zaubersprüche die jemals gesprochen wurden geschrieben stehen.“
Glowfinger wurde blass. Mathilda schluckte. Frommpel nickte bedeutungsvoll.
„Meine Güte, wie konnte das geschehen? Verdrießlich, sehr verdrießlich.“ Gedankenverloren nahm Glowfinger das letzte Käsestück und warf es sich in den Mund.
Mathilda hatte sich weit aus dem Hut gebeugt, aber ihre Pfote griff ins Leere. Jetzt fiepte sie empört, warf den Kopf in den Nacken und schlug sich mit der Pfotenrückhand vor die Stirn. Wobei sie theatralisch in die Krempe zurückplumpste und sprach:
„Daf war gemein, fo gemein war daf.“
Frommpel zeigte auf die Maus, aber Glowfinger winkte resigniert ab:
„Ja, ja, ich weiß, sie lispelt. Ist mir auch schon aufgefallen. Gar nicht beachten. Also, ich soll das wertvollste Buch der Zauberei wiederbeschaffen? Ich? Ganz allein?“
Frommpel drehte verspielt mit dem Zeigefinger in seinem Zopf.
„Ist halt ne Geheimission oder so. Ich bin ja nur der Bote.“
„Das heißt, du wirst mich nicht begleiten?“ Frommpel beugte sich etwas vor, zog mit dem Zeigefinger die Haut unter seinem Auge herunter und flüsterte:
„Sehe ich so bescheuert aus?“
Aus der Hutkrempe ertönte ein Kichern.


Am anderen, wohlhabenden Ende von London saß Tristram Maplethorpe eine Stunde später in seiner Bibliothek, im Seidenhausmantel und genoss den Heiligabend auf seine Weise. Er hatte sich auf einem Beistelltisch einen Grog gestellt, über den er ein paar Krümel Zimt streute. Dann nahm er seine Meerschaumpfeife, paffte zwei Wölkchen, die herrlich nach Vanille dufteten und betrachtete den selbstdekorierten Weihnachtsbaum. Ja, so konnte man es aushalten. Er nahm das Geschenk, las die Grußkarte und öffnete das Papier. Ein Buch. Großartig Nestor Phelps, wie einfältig. Tristram ließ den Blick über seine Teakholzregale schweifen. An einigen waren sogar Rolleitern angebracht. Er setzte seinen Brillenzwicker auf und lass den Titel. Er seufzte. „Das verbotene Buch“, hatte er denn selbst Heiligabend keine Ruhe.
Mühsam erhob er sich, ging zum Kamin und hielt das Buch über die Flammen.
„Komm heraus, ich befehle es. Und sprich leise, es ist Weihnachten.“ Sekunden später ploppte es und Tristram starrte auf die Erscheinung.
„Hallo, ich bin Sherazade. Eine Buch Dschinny. Ich habe eine wichtige Botschaft für Euch.“
Tristram ließ sich aufs Sofa plumpsen, klopfte mit der Hand neben sich und sagte:
„Aber natürlich bist du das, schönes Kind. Setzt dich doch. Ich denke den Schleier kannst du ruhig ablegen.“
Verlegen näherte sich die Dschinny und sprach:
„Aber es ist wirklich wichtig, Herr Zauberer. Es ist dringend.“
Tristram lächelte, legte den Arm um sie und sagte:
„Ist es das nicht immer, mein Kind? Ist es das nicht immer?“

Letzte Aktualisierung: 22.12.2015 - 14.10 Uhr
Dieser Text enthält 9187 Zeichen.


www.schreib-lust.de